Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Warum schreiben wir? Wie werde ich reich und berühmt durch meine Bücher? Was macht die besondere Schönheit des Adjektivs aus?
Lunch
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Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon Lunch » 26.02.2005, 16:30

Wenn man sich ein wenig mit den sogenannten "Großen" der Literatur beschäftigt bzw. zwischen ihrem Leben und ihrem Werk Vergleiche zieht ergeben sich oft erstaunliche Parallelen. Anscheinend ist es also erlaubt Aspekte aus seinem Leben in sein Werk zu übertragen.
Aber wieviel? Dürfen wir tatsächlich einfach unser eigenes Leben in Worte fassen?
Das Problem was sich mir seit einiger Zeit aufdrängt ist dieses: Wenn wir doch im Grunde nur über uns selbst schreiben, wo ist dann die Leistung? Aber wenn die Leistung im Ausdenken von Geschichten besteht, dann schreiben wir ja im Prinzip von Dingen, von denen wir keine Ahnung haben.
Wenn wir uns selbst beschreiben (und das ist anscheinend geradzu zwangsläufig), warum sollte das jemand anderen interessieren? Ich war bzw. bin oft ein bisschen enttäuscht, wenn man die Handlung eines Romans in der Biographie eines Autors mehr oder weniger nachlesen kann. Aber andererseits kann der Autor ja auch nur deswegen eine Sache beschreiben. Ich erinnere mich z.B. daran, dass es ziemlich frustrierend für mich war in Max Frischs Biographie zu lesen, dass er zur NS Zeit in eine Jüdin verliebt war, die ihn nicht heiraten wollte, weil sie dachte, er tue es aus Mitleid. Was auch exakt in seinem Roman Homo Faber passierte.

Und mal eine ganz andere Sache: Wieviel von euch ist in euren eigenen Sachen zu finden? Verarbeitet ihr euer Leben, oder denkt ihr euch Sachen aus?
Was it a car or a cat I saw?

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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon vogel » 26.02.2005, 21:31

Hi Lunch !

Hm, es fällt mir schwer auf deine Frage zuantworten im Bezug auf Lit. Ich wills daher erstmal in Bzg auf Kunst, Malen, etc versuchen.
Ich denke, dass ich da an sich schon viel von mir hereinlege. Das Bild was ich heute früh gezaubert habe (siehe meiner Homepage ^^), ist wenn man es genauer betrachtet ein Spiegel einer aktuellen Situation. Das is bei vielen Bildern so, wobei das meist unbewusst ist. Genauso ist es bei mir beim schreiben. Ich schreibe eine Geschichte nieder, aufgrund einer Idee, manchmal arbeite ich - auch bewusst - Menschen ein die ich kenne. In dem WSA-Wettbewerbstext ist dies auch gering fühgig der Fall. Die [vogel]-Reihe liegt mir so nahe am Herzen, dass ich sie nicht mehr ändern würde, komme was wolle.

Aber ich denke, es sollte alles in einem gewissen Rahmen bleiben. So ist es z.Bsp. bei einer Idee an der ich im Moment feile. Es soll Prosa werden, macht mir im moment den Anschein, dass es sehr, sehr langwerden soll (weshalb ich es nich niederschreibe - Zeitfacktor ...) - ich habe die Figuren genau vor meinen Augen, ich weiß wer sie in REALITÄT sind, aber ich werde sie ändern, sie geringfügig umstricken, dass sie besser in die Handlung passen.


Warum nicht ? Warum soll ein Autor nicht das niederschreiben was ihm wiederfahren ist. Das is sicher nicht Nur bei MAX Frisch so. Als ich mal mit unserem Hilbi ein Interwiev gemacht habe für seine Homepage, habe ich auch das gefragt.

Madeleine Ott: Verarbeiten auch Sie persönliche Erlebnisse, Situationen oder Gefühle in Ihren Gedichten? - Bis auf die bisherigen Beispiele ?
H.-J. Hilbig: Natürlich, das tut doch jeder Dichter - sonst ist er keiner, alles was man erlebte, oder auch was andere erleben, kommt da rein.


Gut, das ist nun Hilbi :-) Aber ich denke trotzdem, dass es okay ist. Woher soll ich eine Idee nehmen, wie du eben schreibst: es wäre uns unbekannt, gar utopisch. Ich könnte nicht von der großen Liebe schreiben, wenn ich noch nie eine Geschichte von ihr gehört hätte, ich könnte nicht über einen Rennfahrer schreiben, wenn ich noch nie jemanden gesehn habe. Aber in jedem Text ist - sooft ich davon gehört haben mag - immer etwas unbekanntes drin. Lassen wir denn nicht die Figuren auch laufen, spielen wir nicht mit ihnen, vielleicht um zu sehen, um uns zu erträumen, wie es ausgehen könnte ... ?!

Und ich denke auch, dass manchmal ein Text die beste Vergangensheitsbewältigung überhaupt ist :-)



Liebe Grüße,

kleinervogel
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.

Glaukos
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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon Glaukos » 27.02.2005, 15:17

Hi Lunch,


also "erlaubt" ist ja fast alles. Aber auch nur fast. Alban Nikolai Herbst etwa durfte seinen Roman MEERE nicht verkaufen, weil er zu autobiografisch war. Oder Billers ESRA. Wenn die Rechte anderer Personen verletzt werden, ist also eine Grenze des Erlaubten erreicht.

Dass man sein eigenes Leben in seine Texte einfließen lässt, ist wohl nicht zu vermeiden ;)
Flaubert hat mal den schönen Satz gesagt: "Madame Bovary, das bin ich!"
Damals waren alle fasziniert, dass ein Mann so schön über eine Frau bzw. aus der Konfliktsituation einer Frau heraus schreiben konnte.
Ich selbst finde gar nicht, dass diese Emma Bovary sehr weiblich rüberkommt. Ein Mann kann letztlich doch nicht das Denken und Fühlen einer Frau nachvollziehen, und umgekehrt ...


"Wenn wir doch im Grunde nur über uns selbst schreiben, wo ist dann die Leistung?"

Der Gedanke hat mich auchmal sehr stark befasst. Und lange Zeit habe ich nur fantastische oder mythische Geschichten geschrieben - weil ich in der Kreativität, dem Ausdenken von absurden Plots das Eigentliche der Literatur erkannt hatte. Aber vielleicht war das auch nur ein Selbstschutz. Ich habe dann mal lange mit einem russischen Autor gesprochen, und der hat mich damit konfrontiert, dass die für ihn GROßE LITERATUR nicht fantastisch sei. Nun, es war seine Meinung, und ich stimme ihr heute auch nicht vollends zu. Aber ich gebe ihm in einem Recht: Durch die Fantasie kann man sich selbst recht gut schützen, was man macht, ist ja nur ein Spiel mit den Erzähl-Möglichkeiten ... wer aber wirklich auch von sich, vom selbst Erlebten schreibt, der wird auch viel angreifbarer.
Doch das Positive am Nahe-am-Selbst-Schreiben: Es ist zumeist intensiver; authentischer. Und noch einen Vorteil gibt es: Wenn man das Selbsterlebte nacherzählt, hat man es bereits imaginiert. Wenn man sich etwas ausdenkt, schreibt man doch meist das auf, was man gerade in der Imagination erlebt.

Also: Als Geschichtenneuausdenker schreibe ich zumeist das, was ich gerade (wie ein Träumender) in der Fantasie erlebe, auf. Es ist ungefiltert und direkt. Als Geschichtennacherzähler wird das Erlebnis aus einer Erinnerung hochgeholt. Es ist schon durch die eigenen Gedanken bewertet worden usw..
Und vermutlich lässt man dann unwesentliche Details weg, die man im ersteren Fall schildert: Denn man "erlebt" sie beim Schreiben ja gerade, und sie sind einem deshalb sehr wichtig - obgleich sie in Wahrheit für den Leser überflüssig sein können.

Nun, das sind alles nur meine eigenen Beobachtungen ;)

Beste Grüße
Tolya

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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon SMID » 27.02.2005, 19:58

Hi Lunch,

Ich kann nur sagen, Schreiben ist in Perspektive sehen. Gerade die Perspektive macht den Text zum Problem. Egal ueber wen und was man schreibt. Daher gibt es die Trennung in /ueber mich/ und /ueber andere/ nicht. Der autobiographische Autor setzt sich nicht weniger in Perspektive als wenn er ueber eine andere Person schreibt.

Es ist klar, dass sich das Wissen ueber Fakten, Ablaeufe, Motivationen und Hintergruende aendert, sobald zwei unterschiedliche Autoren am Werke sind. Aber wir muessen genauso sehen, dass beide Autoren nichts anderes tun als einen Text verfassen. Und in dieser Hinsicht sind sie gleich limitiert und verstrickt in die Komplikation zwischen Autor und dem Beschriebenen.

Selbst der autobiographischste Roman ist und bleibt ein Roman, der alle interpretatorischen Verquickungen, Ingardensche Unbestimmtheitsstellen und kulturelle Settings in sich traegt.

Aber das Problem, das du angesprochen hast, ist fuer manche Leute eine echte Teufelswurzel. Fuer postmoderne Anthropologen zum Beispiel.

Frueher war es so einfach mit dem anthropologischen Schreiberling: er ging z.B. nach Indonesien und hat dort die Wilden und ihre Kulturen entdeckt. Heute darf er das nicht mehr so sagen. Heute sagt er: emergent, modernizing, peripheral, submergend...(sagte Clifford Geertz). Das sind alles Floskeln, und mehr noch, das alles ist westliche Perspektive. Gemerkt? (Deswegen schreibt Geertz auf seine ethnologischen Buecher gleich vorne drauf: nur Text, keine Panik!)

Und jetzt zu dir zurueck.

Du schreibst ueber dich. Oder A schreibt ueber A. In diesem Fall merkst du gar nicht, dass du das gleiche tust, was der Anthropologe ueber die Wilden sagt. Denn was dort zwei verschiedene Kulturen sind, sind hier bei dir noch ungetrennte Haelften.

Aber nichts desto trotz.

Dein Text in anderen Haenden, dein Text zehn Jahre spaeter, und die vermeintliche Einheit bricht auf. Du siehst dich ploetzlich mit einem veraenderten Ich konfrontiert, mit einem Ich, das von einem anderen Ich beschrieben wurde, naemlich dem Ich aus der Vergangenheit. Du lachst ueber dich selbst, /wie konnte ich nur soo schreiben, denken..../ Du siehst, hier bist du dein eigener Ethnologe, deiner eigener Kulturwissenschaftler.

Du als Mensch, du als Autor und du als Text, das sind drei verschiedene Entitaeten.

Taeusche dich nicht, darin keine Herausforderung zu sehen!

Jeder Text ist eine perspektivische Herausforderung!

SMID

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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon Edekire » 28.02.2005, 21:28

Ich finde es sehr schön, dass du das thema ansprichst, ich habe da nämlich auch drüber nachgedacht.
Bei mir ist die wirkliche äussere Handlung normalerweise nicht autobiographisch. (natrülich nciht so ganz durchgängig, aber eher nicht)
trotzdem habe ich mich eine zeitlang sehr bemüht die Personene von mir zu lösen, dass ich nicht zu sehr mich selber als vorbild nehme.
jetzt ahbe ich das wieder ein bisschen eingeschränkt, ich nehem stimmrungen und Eindrücke auf, setzte sie aber neu und anders zusammen.
Irgendwann ist mir aufgefallen das ich nicht auseinanderhalten kann, ob eine Figur die ich mir ausdenke nun mir wirklich gleicht, oder ob ich mich nur komplett in sie hineinversetzte. Das muss ich ja tun, sonst verliert die Person schnell an intensietät und überzeugungskraft.
Vermutlich wird niemans es je schaffen meine Biographie irgendwodrin abzulesen :-D , aber es vermutlich schaffen verhaltensweisen und macken widerzufinden.

lg

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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon Spiderman » 01.03.2005, 00:37

Dem Leser kann es doch eigentlich egal sein, ob ein Autor in einem Text Biografisches, Halb-Biografisches oder Erfundenes widergibt, wenn daraus eine gute Geschichte oder ein gutes Gedicht resultiert. Dem Leser kann es auch egal sein, ob der Autor eine "Leistung" vollbracht hat, sei es eine Leistung aktiver Erinnerung und Selbstreflexion oder eine Leistung des Hineinversetzens und Imaginierens. Ich glaube, viele gute Texte entstehen einfach so, ohne dass der Autor irgendeine besondere Leistung erbringt - weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Person ist, die die richtigen Sätze aneinanderhängt.

Was mich selbst betrifft, mache ich's mal so, mal so. Manchmal schreibe ich sehr Persönliches, manchmal ist das sehr Persönliche allerdings auch frei erfunden oder sehr verfremdet. Meine Erfahrung ist, dass die besseren Texte dann entstehen, wenn mich etwas persönlich angeht. Persönliche Betroffenheit ist ein guter Ausgangspunkt fürs Schreiben. Ob ich gerade von mir selbst persönlich betroffen bin, von einer Phantasie oder einem fremden Schicksal, ist eigentlich egal. Ich sehe darin keinen Unterschied.

Gruß

Spiderman
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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon mög » 01.03.2005, 16:00

Interessant.

Realität vs Fiktion? - Die Mischung macht's. Aber welche, das ist die hier die Frage..

Mich turnt ja eigenartigerweise das Wissen, dass sich eine Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, eher ab. Ich mag auch selten Filme "die auf wahren Begebenheiten beruhen". Andererseits bin ich schon schwer dafür, dass man nur über das schreibt, worüber man auch halbwegs Bescheid weiß. Was wieder sehr dafür spricht, möglichst nah an der eigenen Realität zu bleiben. Natürlich entblösst man sich dabei auch mehr - den Mut muss man auch erstmal haben. Wenn ich zB dran denke, dass in der "Klavierspielerin" autobiographische Elemente enthalten sind... diese gnadenlose Ehrlichkeit, diese Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst - das ist schon wieder eine eigene Leistung.

Noch schwieriger wirds aber, wenn's nicht bloß um einen selber geht, sondern um andere Menschen aus dem persönlichen Umfeld. Was mich also interessiert: Wie geht's euch, wenn ihr eure Freunde, Verwandten, Bekannten für die Literatur verwurstet (falls ihr das überhaupt tut, vorausgesetzt)? Mir geht's da nämlich nicht gut. Denn irgendwie möchte ich ja doch immer den Menschen einigermaßen gerecht werden - egal, ob mir jetzt mehr oder weniger an ihnen liegt. Und das geht einfach nicht. Soll heißen: ich schaff es nicht mal, dem Bild, dass ich _ich_ von dieser Person habe, in einem Text gerecht zu werden. Natürlich versuch ich auch beim Schreiben, jetzt nicht unbedingt Schwarz-Weiß-Figuren zu zeichnen. Aber es geht eben nicht, alle Aspekte (und selbst wenn es nur mal um die beschränkte Auswahl geht, die man selbst überhaupt wahrnimmt) einer Persönlichkeit in einem Text unterzubringen. Und oft will ich das ja auch gar nicht, ich will dem Leser ja nicht einfach meine Wahrnehmungen hinklatschen, sondern was draus basteln, hier ein bisschen was dazu und hier ein bisschen was weg, denn dieses passt nicht rein, in das Bild das am Schluss rauskommen soll und jenes wird dezent übergangen, denn das würde vielleicht den Effekt relativieren, denn ich erzielen will.

Das Problem liegt gar nicht so sehr darin, dass ich fürchte später von der betreffenden Person verklagt zu werden.
Die Gefahr ist gering. Die meisten meiner Texte kriegt keiner zu lesen, der darin vorkommen könnte. Das Problem ist da eher mein persönliches Gerechtigkeitsempfinden. Jemanden, den ich nicht leiden kann, als Bösewicht für eine Geschichte zu verwenden und dann total deppert dastehen lassen, gehört zwar zu meinen Lieblingsrachephantasien, aber meistens finde ich diese Leute dann zu langweilig, um überhaupt über sie zu schreiben.

Idealerweise versuche ich also, die Essenz einer Erfahrung, einer Persönlichkeit herauszufiltern und sie dann in einem anderen Rahmen zu stellen. Theoretisch müsste das funktionieren, praktisch fühl ich mich meistens so, als versuchte ich, die gleiche Suppe mit anderen Zutaten zu kochen. Es gelingt mir eigentlich nie.

Die Gefahr, wenn man zu nahe bei sich selber bleibt, liegt oft auch darin, dass das ganze zu sehr in Richtung "Tagebuch", "Therapeutisches Schreiben" läuft und das interessiert mich persönlich ja nun überhaupt nicht.

Mir gefallen ja die Geschichten, die näher an mir dran sind, tendenziell weniger als die anderen, aber das liegt einfach daran, dass ich noch? nicht so viel kann, wie ich gern können würde.

Jedenfalls ist das ein sehr spannendes Dilemma, das mich zB auch immer wieder enorm bremst.

lg
mög
Man müsste das System seiner Widersprüche finden, indem man ruhig wird. Wenn man die Gitterstäbe _sähe_, hätte man den Himmel dazwischen gewonnen. (Elias Canetti)

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Re: Das Paradox von autobiographischen Aspekten

Beitragvon razorback » 01.03.2005, 17:28

"Oh Steve. Is this another novell about a novelist writing a novell?" (Tabitha King zu Stephen King)


Ich glaube, Deiner ersten Frage liegen drei Überlegungen zu Grunde, die ich für Fehleinschätzungen halte.

1.)
Anscheinend ist es also erlaubt Aspekte aus seinem Leben in sein Werk zu übertragen.
Aber wieviel? Dürfen wir tatsächlich einfach unser eigenes Leben in Worte fassen?


Das scheint zu unterstellen, dass es für Künstler (in diesem Falle Schriftsteller) "Erlaubtes" und "Verbotenes" gibt. Ich halte alleine den Gedanken, es gäbe irgendetwas "Verbotenes" für unzulässige Zensur. Ob man mit dem, was man schreibt, an die Öffentlichkeit geht, ist eine andere Frage - es gibt unzählige Überlegungen, die dagegen sprechen können, von persönlichen Befindlichkeiten über Geschmacksfragen bis hin zu gesetzlichen Bestimmung. Aber wir DÜRFEN grundsätzlich alles schreiben, was wir wollen. Wer will uns Grenzen setzen?

2.)
Das Problem was sich mir seit einiger Zeit aufdrängt ist dieses: Wenn wir doch im Grunde nur über uns selbst schreiben, wo ist dann die Leistung?


Du scheinst jegliche Beschreibung persönlicher Erfahrung für eine Nicht-Leistung zu halten. Auf welcher Grundlage? Ich nehme mal ein sehr krasses Beispiel:

Die Geschichte "Patriotismus" von Yukio Mishima - eine meiner absoluten Lieblingsgeschichten - beschreibt den Selbstmord eines fiktiven Offiziers und seiner fiktiven Ehefrau angesichts eines tatsächlich stattgefundenen Aufstandes einiger japanischer Offiziere in den 1920er Jahren. Die Beschreibung des Selbstmordes selbst ist äusserst realistisch, es ist anzunehmen, dass Mishima hier genau recherchiert hat, also eigene Kenntnisse eingebracht hat. Da er sich später auf die selbe Weise wie sein fiktiver Offizier umgebracht hat, steht zu vermuten, dass viel von seinen eigenen Ansichten und Gefühlen in die Geschichte eingeflossen ist.

Das Lied "Schni- Schna- Schnappi" von Joy Gruttmann handelt von einem sprechenden Krokodil, dass seine Eltern in die Beine beisst. Die Autorin war vermutlich nie ein Krokodil und verkehrt auch nicht mit Krokodilen. Auch ist es so, dass Krokodilmütter zwar sehr fürsorglich sind, die Väter jedoch nicht. Kleine Krokodile beissen ihre Väter also vermutlich gar nicht, ihre Mütter - wenn man die Größenverhältnisse bedenkt - eher aus Versehen ins Bein. Selbst wenn man unterstellt, dass die Autorin vielleicht selbst gerne beisst und ihre Vorliebe auf ein Krokodil überträgt, würde ich den Realitätsgehalt von Schni- Schna- Schnappi doch weit niedriger vermuten, als den von Patriotismus.

Trotzdem halte ich "Patriotismus" für das wertvollere Stück Literatur und für die grössere texterische Leistung.

Wie gesagt - das Beispiel ist krass :-D .
Dennoch verstehe ich nicht, warum Du die Leistung eines Autors oder einer Autorin daran misst, wie nah an oder weit weg von der jeweiligen Autobiographie der Text ist. Wohlgemerkt - ich sage auch nicht "je autobiographischer, desto besser" (da würde sich dann zum Beispiel der Vergleich von Werken der Marke "Erinenrungen an Masuren" mit, "Bedenke Phlebas" von Iain Banks anbieten ;-) ). Das ist für mich generell kein Kriterium.

3.)
Aber wenn die Leistung im Ausdenken von Geschichten besteht, dann schreiben wir ja im Prinzip von Dingen, von denen wir keine Ahnung haben.
Wenn wir uns selbst beschreiben (und das ist anscheinend geradzu zwangsläufig), warum sollte das jemand anderen interessieren?


Ich glaube, da liegt der Kern des Problems. "Eine Geschichte ausdenken" bedeutet ja nicht "eine in jeder Hinsicht von sich selbst abgehobene Realität beschreiben". Das ist schlechterdins unmöglich - begonnen bei Bedingungen wie Raum und Zeit bis hin zu der simplen Tatsache, dass jede Reflektion Interpretation ist. Du KANNST Dich gar nicht aus Deinem Werk zurückziehen. Selbst wenn Du schreibst "Er geht." triffst Du die Entscheidung, nicht "Er schlendert." oder "Er läuft." zu schreiben, und diese Entscheidung triffst Du, wenn nicht bewußt, dann doch auf den Bedingungen Deines Lebens und Deiner Erfahrung.

Die Frage, warum das jemanden interessieren sollte, finde ich außerordentlich seltsam. Egal ob die von Dir zitierten Beispiele, "Fiesta", oder "Im Westen nichts Neues" - die Literatur ist voll von Beispielen für spannende, interessante Geschichten, die sichtbar von der Autobiographie des Auitors geprägt sind. Und ganz offenbar gelesen werden.

Der Rückschluss, dass man NUR über seine Autobiographie schreiben sollte, ist natürlich ebenso falsch wie die Verwechslung der literarischen Figur mit dem Autor - und sei sie ihm auch noch so ähnlich.

Kurz - ich sehe das Problem bei Deiner ersten Frage nicht. ;-)

Zur Zweiten:

Meine Hauptfiguren sind auffällig oft Journalisten oder arbeiten in eng verwandten Berufen (another novell about a novelist... :-D ). Der Grund ist einfach - da meine Geschichten meist gerade davon handeln, wie die Alltagsrealität der Protagonisten auf den Kopf gestellt wird, wäre es sehr riskant, wenn ich eine Alltagsrealität abbilden würde, die mir völlig unbekannt ist. Nicht, weil ich das nicht könnte - Recherche ist alles - sondern weil es einen unverhältnismäßig großen Aufwand für einen Randaspekt bedeuten würde.

Außerdem kann ich natürlich Dinge, die ich kenne, viel stimmiger schildern als Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Wieder ein Beispiel: Actionsequenzen bestehen bei mir oft aus waffenlosen Kämpfen, weil ich da einiges von verstehe. Dafür schildere ich keine Verfolgungsjagden auf Motorrädern, weil ich da vermutlich krausen Unsinn produzieren würde. Auch hier gilt - es ist einfacher, gut über Dinge zu schreiben, die man kennt als über Dinge, die man erst mit großem Aufwand recherchieren muß.

Für Orte, Zeiten etc. gilt das selbe.

Bedeutet das aber, dass ich mir diese Sachen - wie Du Dich ausdrückst - nicht ausdenken würde? Nein! Natürlich sind die Journalisten ausgedachte Journalisten mit einem ausgedachten Journalistenalltag, die Kämpfe sind choreographierte Kämpfe mit einem vorherbestimmten Ausgang, die Städte gleichen niemals aufs Haar Städten, die ich kenne, ich baue sie für die Bedürfnisse der Geschichte um. Und ich denke, das tut jeder Autor für jede Geschichte, je nach Notwendigkeit. Jeder Text, umso mehr jeder fiktionale Text, kann immer nur ein Gleichnis auf die Wirklichkeit sein, Texte wie "82. Minute, Müller flankt zu Maier" vielleicht ausgenommen. Oder nein, selbst da - wer sagt denn, dass das kein verunglückter Torschuß von Müller war?

Jeder Text ist Interpretation und somit "ausgedacht". Frage ist jeweils, wieviel eigene Erkenntnis und Erfahrung und wieviel eigene Vorstellungskraft der Geschichte dient. Mehr nicht.
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You


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