"Oh Steve. Is this another novell about a novelist writing a novell?" (Tabitha King zu Stephen King)
Ich glaube, Deiner ersten Frage liegen drei Überlegungen zu Grunde, die ich für Fehleinschätzungen halte.
1.)
Anscheinend ist es also erlaubt Aspekte aus seinem Leben in sein Werk zu übertragen.
Aber wieviel? Dürfen wir tatsächlich einfach unser eigenes Leben in Worte fassen?
Das scheint zu unterstellen, dass es für Künstler (in diesem Falle Schriftsteller) "Erlaubtes" und "Verbotenes" gibt. Ich halte alleine den Gedanken, es gäbe irgendetwas "Verbotenes" für unzulässige Zensur. Ob man mit dem, was man schreibt, an die Öffentlichkeit geht, ist eine andere Frage - es gibt unzählige Überlegungen, die dagegen sprechen können, von persönlichen Befindlichkeiten über Geschmacksfragen bis hin zu gesetzlichen Bestimmung. Aber wir DÜRFEN grundsätzlich alles schreiben, was wir wollen. Wer will uns Grenzen setzen?
2.)
Das Problem was sich mir seit einiger Zeit aufdrängt ist dieses: Wenn wir doch im Grunde nur über uns selbst schreiben, wo ist dann die Leistung?
Du scheinst jegliche Beschreibung persönlicher Erfahrung für eine Nicht-Leistung zu halten. Auf welcher Grundlage? Ich nehme mal ein sehr krasses Beispiel:
Die Geschichte "Patriotismus" von Yukio Mishima - eine meiner absoluten Lieblingsgeschichten - beschreibt den Selbstmord eines fiktiven Offiziers und seiner fiktiven Ehefrau angesichts eines tatsächlich stattgefundenen Aufstandes einiger japanischer Offiziere in den 1920er Jahren. Die Beschreibung des Selbstmordes selbst ist äusserst realistisch, es ist anzunehmen, dass Mishima hier genau recherchiert hat, also eigene Kenntnisse eingebracht hat. Da er sich später auf die selbe Weise wie sein fiktiver Offizier umgebracht hat, steht zu vermuten, dass viel von seinen eigenen Ansichten und Gefühlen in die Geschichte eingeflossen ist.
Das Lied "Schni- Schna- Schnappi" von Joy Gruttmann handelt von einem sprechenden Krokodil, dass seine Eltern in die Beine beisst. Die Autorin war vermutlich nie ein Krokodil und verkehrt auch nicht mit Krokodilen. Auch ist es so, dass Krokodilmütter zwar sehr fürsorglich sind, die Väter jedoch nicht. Kleine Krokodile beissen ihre Väter also vermutlich gar nicht, ihre Mütter - wenn man die Größenverhältnisse bedenkt - eher aus Versehen ins Bein. Selbst wenn man unterstellt, dass die Autorin vielleicht selbst gerne beisst und ihre Vorliebe auf ein Krokodil überträgt, würde ich den Realitätsgehalt von Schni- Schna- Schnappi doch weit niedriger vermuten, als den von Patriotismus.
Trotzdem halte ich "Patriotismus" für das wertvollere Stück Literatur und für die grössere texterische Leistung.
Wie gesagt - das Beispiel ist krass
.
Dennoch verstehe ich nicht, warum Du die Leistung eines Autors oder einer Autorin daran misst, wie nah an oder weit weg von der jeweiligen Autobiographie der Text ist. Wohlgemerkt - ich sage auch nicht "je autobiographischer, desto besser" (da würde sich dann zum Beispiel der Vergleich von Werken der Marke "Erinenrungen an Masuren" mit, "Bedenke Phlebas" von Iain Banks anbieten
). Das ist für mich generell kein Kriterium.
3.)
Aber wenn die Leistung im Ausdenken von Geschichten besteht, dann schreiben wir ja im Prinzip von Dingen, von denen wir keine Ahnung haben.
Wenn wir uns selbst beschreiben (und das ist anscheinend geradzu zwangsläufig), warum sollte das jemand anderen interessieren?
Ich glaube, da liegt der Kern des Problems. "Eine Geschichte ausdenken" bedeutet ja nicht "eine in jeder Hinsicht von sich selbst abgehobene Realität beschreiben". Das ist schlechterdins unmöglich - begonnen bei Bedingungen wie Raum und Zeit bis hin zu der simplen Tatsache, dass jede Reflektion Interpretation ist. Du KANNST Dich gar nicht aus Deinem Werk zurückziehen. Selbst wenn Du schreibst "Er geht." triffst Du die Entscheidung, nicht "Er schlendert." oder "Er läuft." zu schreiben, und diese Entscheidung triffst Du, wenn nicht bewußt, dann doch auf den Bedingungen Deines Lebens und Deiner Erfahrung.
Die Frage, warum das jemanden interessieren sollte, finde ich außerordentlich seltsam. Egal ob die von Dir zitierten Beispiele, "Fiesta", oder "Im Westen nichts Neues" - die Literatur ist voll von Beispielen für spannende, interessante Geschichten, die sichtbar von der Autobiographie des Auitors geprägt sind. Und ganz offenbar gelesen werden.
Der Rückschluss, dass man NUR über seine Autobiographie schreiben sollte, ist natürlich ebenso falsch wie die Verwechslung der literarischen Figur mit dem Autor - und sei sie ihm auch noch so ähnlich.
Kurz - ich sehe das Problem bei Deiner ersten Frage nicht.
Zur Zweiten:
Meine Hauptfiguren sind auffällig oft Journalisten oder arbeiten in eng verwandten Berufen (another novell about a novelist...
). Der Grund ist einfach - da meine Geschichten meist gerade davon handeln, wie die Alltagsrealität der Protagonisten auf den Kopf gestellt wird, wäre es sehr riskant, wenn ich eine Alltagsrealität abbilden würde, die mir völlig unbekannt ist. Nicht, weil ich das nicht könnte - Recherche ist alles - sondern weil es einen unverhältnismäßig großen Aufwand für einen Randaspekt bedeuten würde.
Außerdem kann ich natürlich Dinge, die ich kenne, viel stimmiger schildern als Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Wieder ein Beispiel: Actionsequenzen bestehen bei mir oft aus waffenlosen Kämpfen, weil ich da einiges von verstehe. Dafür schildere ich keine Verfolgungsjagden auf Motorrädern, weil ich da vermutlich krausen Unsinn produzieren würde. Auch hier gilt - es ist einfacher, gut über Dinge zu schreiben, die man kennt als über Dinge, die man erst mit großem Aufwand recherchieren muß.
Für Orte, Zeiten etc. gilt das selbe.
Bedeutet das aber, dass ich mir diese Sachen - wie Du Dich ausdrückst - nicht ausdenken würde? Nein! Natürlich sind die Journalisten ausgedachte Journalisten mit einem ausgedachten Journalistenalltag, die Kämpfe sind choreographierte Kämpfe mit einem vorherbestimmten Ausgang, die Städte gleichen niemals aufs Haar Städten, die ich kenne, ich baue sie für die Bedürfnisse der Geschichte um. Und ich denke, das tut jeder Autor für jede Geschichte, je nach Notwendigkeit. Jeder Text, umso mehr jeder fiktionale Text, kann immer nur ein Gleichnis auf die Wirklichkeit sein, Texte wie "82. Minute, Müller flankt zu Maier" vielleicht ausgenommen. Oder nein, selbst da - wer sagt denn, dass das kein verunglückter Torschuß von Müller war?
Jeder Text ist Interpretation und somit "ausgedacht". Frage ist jeweils, wieviel eigene Erkenntnis und Erfahrung und wieviel eigene Vorstellungskraft der Geschichte dient. Mehr nicht.