Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Warum schreiben wir? Wie werde ich reich und berühmt durch meine Bücher? Was macht die besondere Schönheit des Adjektivs aus?
Hamburger
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Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Hamburger » 03.02.2006, 13:57

Hallo auch von dieser Stelle :-) ,

eine Diskussion die ich hier jetzt mal anstoßen möchte soll sich um einen Aphorismus von Gottfried Benn drehen, der mir, seit er mir bekannt ist, schwer im Magen liegt.

Ich wollte das mit dem Frl. Ede immer noch per Mail ausdiskutieren, aber irgendwie kommen wir momentan beide nicht dazu, daher verlagere ich die Diskussion mal kurzerhand ins Forum.

Der Aphorismus lautet: "In der Lyrik ist Handwerk alles." (Gottfried Benn)

Für mich als Nicht-Lyriker stellen sich da sechs Fragen:

1. Was ist Handwerk in der Lyrik?

2. Was gehört auch zur Lyrik, ist aber kein Handwerk?

3. Ist es nicht so (Achtung, Suggestivfrage B-) ), dass Form und Inhalt eines Gedichtes prinzipiell etwas Unterschiedliches sind, was wiederum dazu führt, dass ein formell gutes Gedicht noch längst kein gelunges Gedicht bedeuten muss, da ja die Aussage trotzdem schwach sein kann, die Aussage aber kein Handwerk ist - somit aber wieder Gottfried Benns Spruch nicht stimmt? (selbstverständlich ist die Frage absichtlich so umständlich formuliert, damit ihr einfach nur noch "Ja klar, Ham, du hast Recht" sagen müsst :-D )

4. Ist in der Prosa auch Handwerk alles?

5. Wenn nicht, warum nicht?

6. Wenn ja, warum sollte man dann speziell die Lyrik herausgreifen anstatt zu sagen: "Bei jeglicher literarischer Produktion ist Handwerk alles?"


Es grüßt,

Prosa-Ham B-)
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Sascha
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Re: Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Sascha » 01.03.2006, 03:00

1. Stil

2. Nichts Notwendiges; im besten Fall originelle Weltbild-Elemente.

3. Nein, es ist nicht so. Ganz falsch.

4. Nein.

5. Weil Prosa nicht das Spiel mit sprachlichem Material zum ZWECK hat, sondern die Darstellung einer Welt oder eines Teils von ihr. Und dazu gehören nach Faulkner drei Dinge (zwei dieser drei als notwendig): Erfahrung - Beobachtungsgabe - Imagination.

6. Wo genau steht dieser Satz von Benn eigentlich?

Hamburger
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Re: Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Hamburger » 03.03.2006, 14:24

Hallo Sascha,

von mir erst mal nachträglich ein herzliches Willkommen im Forum. :-)

Es freut mich deinen Widerspruch ausgelöst zu haben. Zwar sehr rigoros, so dass ich zum wirklichen „Diskutieren“ noch nicht viele Anknüpfungspunkte finde, aber schön dass wir die Sache anders sehen...;-)

Ich schlage also erst mal in die gleiche (kurze) Bresche...

Zu 1) Ist mir zu ungenau, zu allgemein. Definiere „Stil“. Führs aus. Denk dran, bin ein Nicht-Lyriker...

Zu 2) Bin anderer Meinung - siehe 5

Zu 3) WARUM ist das "ganz falsch." Sehne mich nach einer BEGRÜNDUNG?

Zu 4) Hier sind wir einer Meinung. Außerdem – siehe 5

Zu 5)


Weil Prosa nicht das Spiel mit sprachlichem Material zum ZWECK hat, sondern die Darstellung einer Welt oder eines Teils von ihr.


Aus welchem Grund kann/darf/soll das Lyrik nicht die Darstellung der Welt oder eines Teils von ihr zum Zweck haben?


„Und dazu gehören nach Faulkner drei Dinge (zwei dieser drei als notwendig): Erfahrung - Beobachtungsgabe - Imagination.“


Folgerung als Frage: Es ist in der Prosa beliebig welche zwei dieser drei Dinge notwendig sind, so lange zwei davon vorkommen?

Nächste Frage: Warum kann/darf/soll Lyrik nicht eine/zwei/drei dieser Komponenten nutzen zum – siehe auch erste Frage dieses Punktes – als Zweck eine Welt oder einen Teil der Welt darzustellen?

Ferner: Ist die strike Zwecksetzung/Zweckverpflichtung von Prosa und Lyrik nicht sehr dogmatisch?
(außer es kommen jetzt ein paar Begründungen, die eine solch dogmatische Zwecksetzung`/Zweckverpflichtung rechtferigen....?)

Ferner zum Zweiten: Faulkner in Ehren...aber ein Rekurs auf eine Autorität überzeugt mich erst, wenn ich die Autorität selber lese – und die mich dann überzeugt.
Auch bezüglich des Zweckes der Prosa gehe ich da erstmal sehr kritisch und unbefangen ran - gibst du mir die Faulkner-Quelle? B-)

Zu 6) Berechtigte Frage, schon wegen meinem eigenen berechtigen Anspruch in 5.
Edekire benutzte den Satz wörtlich bei meinem Besuch in Berlin, schickte mir nun in einer Mail Auszüge aus Gottfried Benns Marburger Vortrag „Probleme der Lyrik“ (1951).

Dort steht dieser Satz so nicht drin, daher bitte ich sie um eine Quellenangabe. Er scheint (Eindruck nach einmaligem Lesen) aber aus dem Inhalt schlussfolgerbar zu sein.

Da ich den Aphorismus SO auch bei Google-Durchsicht nicht finde, bitte ich Edekire an dieser Stelle um die Quellensetzung.

Alternativ veröffentliche ich hier die Auszüge, die sie mir geschickt hat – dann hättem wir einiges an Diskussionsmaterial.

Und noch mal: Ich freu` mich auf die Diskussion. :-)

Herzliche Grüße,

Ham
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Re: Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Sascha » 04.03.2006, 03:29

Ich war nur knapp aus zeitlichen Gründen, nicht aus rhetorischen; mein "Widerspruch" (auf Fragen?) sollte also nicht rigoros sein, sondern nur von sozusagen logischer Sehnigkeit...

1) Auch Nicht-Lyriker, dachte ich, würden größtenteils (bei Böll war das anders, ich weiß...) die Kategorie 'Stil' in ihr schreibendes Bewußtsein miteinbeziehen. STIL ist ein simpler ästhetischer Terminus für den formalen Aspekt, also die Sprache und Sprachschönheit eines Textes.

3) Form und Inhalt sind natürlich etwas Unterschiedliches, beim Gedicht wie im normalen Gebrauch dieser Wörter. Das fürht aber nicht dazu, daß ein "formell gutes Gedicht (..) kein gelungenes bedeuten muß" - doch, muß es. BEGRÜNDUNG: Weil die Form im tradierten Verständnis dessen, was ein Gedicht ist, und zwar (fast) nur die Form, die Qualität des Gedichts bestimmt. BEISPIELE: Sonst hätten nicht schon Leute wie Horaz reihenweise Trinklieder gedichtet, die immerhin zwei Jahrtausende überdauert haben; oder Leute wie Mörike Verse "Auf eine Lampe" geschmiedet; Keats "Auf eine griechische Urne"; Neruda eine "Ode an eine Uhr in der Nacht" (AUssage = die Zeit vergeht) usw.
Ein VOLLENDETES Gedicht kann durchaus ein vollendet inhaltsloses Gedicht sein.

(Ich geh noch ein wenig weiter: das ist IN ALLER KUNST UND LITERATR so! Denn was ist denn bitte eine "schöne" oder eine "gelungene" oder eine "originelle" Aussage? Pazifismus? Quantentheorie? Neues Testament?? AUSSAGEN und INHALTE kann man verarbeiten, aber sie sind doch wohl kaum das primäre Ziel des Künstlers. Noch nicht einmal in totalitär aussagen-bestimmten Gesellschaften, wo jeder Pinselstrich einem Inhalt Rechenschaft zu geben hat; denn sonst wären die Künstler des Sozialistischen Realismus nicht Eisenstein und Majakowskij, sondern Marx und Engels gewesen. Die, welche die Aussage schufen, waren aber eben keine Künstler.

Kunst kann also natürlich die Welt darstellen, ja, sie kommt nicht daran vorbei, und vielleicht SOLL sie sogar Aussagen treffen. Aber wenn die Aussage eines Romans der ZWECK des Romans wäre (alter Spruch:) - warum dann nicht gleich seine Thesen auf ein Blättchen schreiben und das an die nächste Rathaustür zimmern? Kostet weniger Zeit - und ist viel verständlicher.

Benn ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, daß selbst einem Essayisten an der Form mehr liegen kann als am Inhalt. Nietzsche wäre ein weiteres Beispiel.

Von "Zweckverpflichtung" ist bei mir keine Rede. Wer die "Kritik der reinen Vernunft", "Das Kapital" oder "Die Entstehung der Arten" als Gedicht 'vertonen' möchte, kann sich daran versuchen. Kunst darf halt immer alles. Ich habe keine normativen Aussagen getroffen, sondern deskriptive: Lyrik SOLL nicht so sein - sie IST einfach in aller Regel so. Weil selbst mittelmäßige Künstlernaturen schnell einsehen, wo die Grenzen und Stärken ihrer gehandhabten Form liegen. Man kann keinen Film einzig und allein über eine griechische Urne drehen, ohne daß man damit dem Film schadet, und man kann kein Gedicht schreiben, das die Biegung des Lichts ausrechnet, ohnd daß man zugleich KEIN Gedicht mehr schreibt. Das lege nicht ich fest, sondern die ästhetische Tradition, das durchschnittliche Publikum, die Vertriebswege, die historische Situation und die von all dem abhängige Kritik.

Das Zitat ist aus dem Text "Interview mit Faulkner", veröffentlicht in "Über Faulkner", Diogenes Verlag Zürich, der letzte Text im Band; auch abgedruckt in "Gespräche mit William Faulkner", leider beide vergriffen.

Faulkner meinte ZWEI dieser DREI seien für einen Autor notwendig, WELCHE sei egal, es dürften nur nicht zwei der Qualitäten fehlen, wenn man gute Prosa schreiben wolle.

"Probleme der Lyrik" kenne ich. Das 'Zitat' paßt auch inhaltlich zu Benn, ich wollte es nicht in seiner Originalität anzweifeln. Meine Frage war nur Neugierde.

Eine Dikussion fangen wie lieber nicht an, weil ich nie wieder so zeitaufwändige lange Forumsbeiträge schreiben will wie den hier!

mfG

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Re: Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Hamburger » 06.03.2006, 21:29

Hallo Sascha,


Eine Dikussion fangen wie lieber nicht an, weil ich nie wieder so zeitaufwändige lange Forumsbeiträge schreiben will wie den hier!


Dein Schlussatz enttäuscht mich etwas, gerade weil ich deinen Beitrag SEHR interessant finde und er viel Stoff für eine Diskussion bietet. Ich werde dennoch so bald ich es zeitlich hinkriege und darüber nachgedacht habe mal umfassend Stellung dazu nehmen.

Würde mich dann nichtsdestotrotz freuen wenn du was dazu schreibst oder wenn ich überhaupt eine Forums-Diskussion zu dem Thema anschieben kann.

Aber ich will dich keinesfalls zu langen, aufwändigen Forumsbeiträgen zwingen, auch wenn ich nicht sehe, was an den Beiträgen dieser Form so schlimm sein soll. ;-)

Erst einmal herzliche Grüße,

Hamburger
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Re: Edekire, Ham, Gottfried Benn und ihr...

Beitragvon Hamburger » 13.03.2006, 13:34

Hallo Sascha,

hier nun meine lange, aufwändige Antwort, die mir viel Spass gemacht hat ;-)


Ich war nur knapp aus zeitlichen Gründen, nicht aus rhetorischen; mein "Widerspruch" (auf Fragen?)


Wie ich in meinem ersten Beitrag schrieb sollten die Fragen eine Diskussion…


um einen Aphorismus von Gottfried Benn drehen, der mir, seit er mir bekannt ist, schwer im Magen liegt.


…anstoßen. Daher erklärt sich der Kontext in dem die Fragen stehen und das der Begriff „Widerspruch“ für deine Antworten durchaus gerechtfertigt ist.

Zusätzlich sind die Fragen 3 und 6 keine simplen Fragen. Nummer 3 ist schön suggestiv, Nummer 6 hat diesen schönen rotzig-zweifelnden Unterton. Ich finde es also korrekt bei deinen Antworten von Widerspüchen zu sprechen

Weiterhin…


sollte also nicht rigoros sein, sondern nur von sozusagen logischer Sehnigkeit...


…schmeckte mir diese „logische Sehnigkeit“ etwas fad.

Ich liebe die Logik. Aber: Jede Logik braucht Prämissen für ihre Konklusionen. Sie muss ihre Schlussfolgerungen begründen. Erst das macht das Argument. Und da dies hier ein Literatur- UND Diskussionsclub ist (und das heißt nicht: Literatur da, Diskussion dort ;-) ) fallen unbegründete logische Sehnen hier meist dem Häckselbeil zum Opfer. ;-) (bei einem notorischen, unbändigen Zweifler und WARUM-Nachfrager wie mir erst recht
:-) )

Aber was meckere ich, du hast ja dann doch einen etwas ausführlicheren Beitrag geschrieben. Also denn mal los:

Zu 1) Auch Lyriker, dachte ich, würden erkennen dass die Bitte um die Definition eines Begriffs (in diesem Falle:`Stil') nicht bedeutet, dass der Nachfragende die Kategorie nicht in sein schreibendes Bewußtsein miteinbezieht. Ich wollte wissen, was DU unter `Stil` verstehst. Das lässt auf mein Schreiben überhaupt keine Schlüsse zu. Aber danke für die Defintion. Ich teile und erweitere sie: Was ist z.B. mit dem Versmaß und dem Reimschema? Fallen diese beiden Elemente unter die Sprache/Sprachschönheit eines Textes (sicher beeinflussen sie sie) oder sind sie eigenständige technische – und damit auch handwerkliche – Elemente? Frage ich. Weil ich sie als eigenständige technische Elemente sehe. Wie siehst du das?

Zu 3) Wir bleiben weitgehend anderer Meinung. Dabei greife ich deine Aussage „nur“ in ihrer Absolutheit an: Ein formell gelungenes Gedicht trägt bestimmt zur Qualität eines Gedichtes entscheidend bei. Das würde ich niemals abstreiten.
ABER: Deshalb muss ein formell gelungenes Gedicht noch lange kein gelungenes Gedicht sein. Du argumentierst mit dem tradierten Verständnis. Aber dafür bin ich wahrscheinlich viel zu individualistisch eingestellt.
Lyrik-Interpretation ist, wie jede Interpretation, eben auch Geschmackssache. Ich habe William Blake gelesen – das sagte mir nicht viel. Ich weiß nur noch, dass mich die Gedichte formell beeindruckten. Ich habe formell ebenfalls wunderschöne Gedichte über griechische Sagen gelesen – sie berührten mich nicht besonders. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen die Sagen nachzulesen. Ich habe Heine gelesen, seine Liebesgedichte, seine politischen Gedichte – ich war begeistert, wollte und will immer mehr.
Und diese Kategorie des Subjektiven – die fehlt mir in deiner Argumentation, die sich auf das „tradierte Verständnis“ stützt. Was ein gelungenes Gedicht ist, entscheidet letztlich zu einem guten Teil der LESER. Und dieser geht mit seinen ganz eigenen Wertmaßstäben an die Sache heran. Sicher würde mir Heine nicht so gefallen, wäre er, was die Form angeht, ein Dilettant gewesen. Aber der INHALT des Ausgesagten – das ist das, worüber ich nachdenke und was mich umtreibt. Die FORM ist ein notwendiges Element, das unterstützend und bereichernd auf meine Reflektion über den INHALT des Gesagten wirkt. Wenn dieser INHALT mich interessiert (habe gerade bei Google Horaz nachgeschlagen und auf den ersten Sekundenblick gefunden, dass er Satiren und „Gedichte über die Freundschaft“ schrieb – das interessiert mich jetzt erstmal, die Trinklieder interesieren mich zunächst ein bisschen weniger :-) ), dann werde ich hellhörig. Und wenn ich im Gedicht selbst einen Bezug zu meinem eigenen Leben, meinen Interessengebieten oder gesellschaftlichen Themen finde, der mich zum Lesen und Reflektieren motiviert – und dieser Bezug kann auf noch so vielen Umwegen zustande kommen – dann lese ich es gern.

Und ich bezweifle schwer, dass ich der Einzige bin, der so denkt oder eine geradezu verschwindend geringe Minderheit darstelle. Auch an HEINE und GOETHE (um mal den Dicherfürst und den Co-Dichterfürst zu nennen :-D ) erinnert man sich heute mitnichten nur ihrer beeinruckenden Sprache, ihrer schönen Reime oder ihres phantastischen Versmaßes wegen - vielmehr ist zum Beispiel die Liebe (um nur eines der von beiden meisterhaft behandelten Themen zu nennen) ein ewiges Menschheitsthema.

Deshalb komme ich zusammengefasst zu folgender subjektiver Sichtweise:

Wie wichtig INHALT und wie wichtig FORM für ein Gedicht sind entscheidet zu einem nicht unwichtigen Teil der Leser. Ein formell schlechtes Gedicht kann fast kein gutes Gedicht sein – denn unter einer schlechten FORM leidet der Inhalt zu sehr. Ein inhaltlich für den jeweiligen Leser nicht ansprechendes Gedicht (Langeweile beim Lesen bzw. Bezugslosigkeit) kann von ihm als formell beeindruckend, aber eben trotzdem „nicht gut“ angesehen werden.
Ein inhaltsloses Gedicht hingegen (was wäre das eigentlich?) kann durchaus ein vollendetes Gedicht sein.
DOCH: Ein inhaltsloses Gedicht kann ebenso gut, abhängig von seiner FORM, etwas anderes sein: formell beeindruckend, aber langweilig zum Beispiel – oder gar formell schwach und langweilig (das wär bitter :-D )

Und jetzt zum generellen Maßstab. Dein Argument (zusammengefasst):

IN ALLER KUNST UND LITERATUR sind eines Künstlers primäres Ziel nicht Aussagen zu treffen. Er kann aber Aussagen und Inhalte verarbeiten.

Dem widerspreche ich entschieden. Ich glaube auch sehr wohl, dass es schöne und gelungene Aussagen gibt. „Pazifismus“ ist in meinen Augen sehr wohl eine schöne Aussage – schon alleine weil sie diskussionswürdig ist. (ebenso wie die Quantentheorie und das neue Testament übrigens B-) )

Vielleicht ist unser Widerspruch hier nur scheinbar, denn wenn du schreibst…


Kunst kann also natürlich die Welt darstellen, ja, sie kommt nicht daran vorbei, und vielleicht SOLL sie sogar Aussagen treffen. Aber wenn die Aussage eines Romans der ZWECK des Romans wäre (alter Spruch:) - warum dann nicht gleich seine Thesen auf ein Blättchen schreiben und das an die nächste Rathaustür zimmern? Kostet weniger Zeit - und ist viel verständlicher.


…so stimme ich dir auf einer gewissenen Ebene zu. Ein Anti-Kriegsfilm, bei dem ein Soldat lethargisch 120 Minuten lang „Krieg ist scheisse, Krieg ist sinnlos“ in die Kamera spricht, würde mich sicher langweilen.
Aber die, sowohl cineastische als auch literarische Welt, sieht komplizierter aus. „Apocalypse Now“ ist doch so verdammt gut, weil genau das in diesem Film NICHT geschieht – und dennoch ist ein Zweck dieses Films die Barbarei des Krieges darzustellen. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ ist ein phantastisches Buch – eben wegen seiner Vielfältigkeit die sich von der platten Aussage abhebt, aber das ändert doch nichts daran, dass es ein Anti-Kriegsroman ist und eine Warnung für kommende Generationen.

Ich will den ZWECK von Kunst und Literatur nicht verkürzen um eine Thesensammlung in Buch- oder Filmform zu fordern. Aber ich beziehe Stellung dafür, dass es sehr wohl ein ZWECK (in diesem Fall gehe ich noch weiter und sage bezogen auf meine beiden Beispiele: ein ÜBERGEORDNETER ZWECK) sein KANN – in welcher Kunstform auch immer – Aussagen zu treffen. „Apocalypse Now“ und „Im Westen nichts Neues“ treffen sehr wohl Aussagen – und die Kunst ist es, dass sie subtil und doch an Eindeutigkeit nicht zu überbieten sind. Für mich – und hier liegt vielleicht der Unterschied unserer Interpretation – ist es auch eine Aussage, wenn das dem Leser/Kinozuschauer/Kunstausstellungsbesucher etc. dargestellte „Kunstmaterial“ eine eindeutige Tendenz vermittelt und diese Tendenz erklärt, rechtfertigt und nachfühlbar macht, indem sie die Hintergründe ausleuchtet. So funktionieren gute Anti-Kriegs-Bücher, so funktionieren gute Anti-Kriegs-Filme – und es ließen sich in allen Genres und Kunstformen Dutzende weitere Beispiele bieten.

Aber um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere damit weder für moralinsaure Kunst (ein Greuel) noch beziehe ich Stellung gegen „wertungslose“, aber intensive Darstellungen. Ersteres ist mir zuwider, letzteres habe ich mit „Requiem“ gerade im Kino gesehen – und liebe es.
Ich treffe also hier, alle Kunst und Literatur betreffend, auch keine normative Aussage. Ich sage nur: Ein Zweck von aller Kunst und aller Literatur kann es sein Aussagen zu treffen, sanfter formuliert: sie verdammt nah in Kopf und Herz des Empfängers zu legen.

Nochmal zum Schluss zurück zur Lyrik, bezogen auf deinen letzten langen Absatz:

Hier bin ich sehr erfreut, dass du keine normative Aussage treffen willst. Ich bezweifle zwar, dass Lyrik in aller Regel so ist, wie du es darstellst – die Unterschiede sind ja im bisherigen Verlauf dieses Beitrags deutlich geworden – freue mich aber, dass so für mich zumindest weiter die Möglichkeit besteht, Gedichte zu schreiben (wenn ich es denn wollte), bei denen ich Aussagen und Inhalte nicht nur verarbeite, sondern erstere sogar treffe als ein oder den Zweck des Gedichtes.

Bin also an dieser Stelle zufrieden, dass du die von mir vermutete normative Absolutheit nicht vertrittst.

Und mit dieser Zufriedenheit schließe ich diesen Beitrag. :-)

Liebe Grüße,

Ham
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