Hallo Sascha,
hier nun meine lange, aufwändige Antwort, die mir viel Spass gemacht hat
Ich war nur knapp aus zeitlichen Gründen, nicht aus rhetorischen; mein "Widerspruch" (auf Fragen?)
Wie ich in meinem ersten Beitrag schrieb sollten die Fragen eine Diskussion…
um einen Aphorismus von Gottfried Benn drehen, der mir, seit er mir bekannt ist, schwer im Magen liegt.
…anstoßen. Daher erklärt sich der Kontext in dem die Fragen stehen und das der Begriff „Widerspruch“ für deine Antworten durchaus gerechtfertigt ist.
Zusätzlich sind die Fragen 3 und 6 keine simplen Fragen. Nummer 3 ist schön suggestiv, Nummer 6 hat diesen schönen rotzig-zweifelnden Unterton. Ich finde es also korrekt bei deinen Antworten von Widerspüchen zu sprechen
Weiterhin…
sollte also nicht rigoros sein, sondern nur von sozusagen logischer Sehnigkeit...
…schmeckte mir diese „logische Sehnigkeit“ etwas fad.
Ich liebe die Logik. Aber: Jede Logik braucht Prämissen für ihre Konklusionen. Sie muss ihre Schlussfolgerungen begründen. Erst das macht das Argument. Und da dies hier ein Literatur- UND Diskussionsclub ist (und das heißt nicht: Literatur da, Diskussion dort
) fallen unbegründete logische Sehnen hier meist dem Häckselbeil zum Opfer.
(bei einem notorischen, unbändigen Zweifler und WARUM-Nachfrager wie mir erst recht
)
Aber was meckere ich, du hast ja dann doch einen etwas ausführlicheren Beitrag geschrieben. Also denn mal los:
Zu 1) Auch Lyriker, dachte ich, würden erkennen dass die Bitte um die Definition eines Begriffs (in diesem Falle:`Stil') nicht bedeutet, dass der Nachfragende die Kategorie nicht in sein schreibendes Bewußtsein miteinbezieht. Ich wollte wissen, was DU unter `Stil` verstehst. Das lässt auf mein Schreiben überhaupt keine Schlüsse zu. Aber danke für die Defintion. Ich teile und erweitere sie: Was ist z.B. mit dem Versmaß und dem Reimschema? Fallen diese beiden Elemente unter die Sprache/Sprachschönheit eines Textes (sicher beeinflussen sie sie) oder sind sie eigenständige technische – und damit auch handwerkliche – Elemente? Frage ich. Weil ich sie als eigenständige technische Elemente sehe. Wie siehst du das?
Zu 3) Wir bleiben weitgehend anderer Meinung. Dabei greife ich deine Aussage „nur“ in ihrer Absolutheit an: Ein formell gelungenes Gedicht trägt bestimmt zur Qualität eines Gedichtes entscheidend bei. Das würde ich niemals abstreiten.
ABER: Deshalb muss ein formell gelungenes Gedicht noch lange kein gelungenes Gedicht sein. Du argumentierst mit dem tradierten Verständnis. Aber dafür bin ich wahrscheinlich viel zu individualistisch eingestellt.
Lyrik-Interpretation ist, wie jede Interpretation, eben auch Geschmackssache. Ich habe William Blake gelesen – das sagte mir nicht viel. Ich weiß nur noch, dass mich die Gedichte formell beeindruckten. Ich habe formell ebenfalls wunderschöne Gedichte über griechische Sagen gelesen – sie berührten mich nicht besonders. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen die Sagen nachzulesen. Ich habe Heine gelesen, seine Liebesgedichte, seine politischen Gedichte – ich war begeistert, wollte und will immer mehr.
Und diese Kategorie des Subjektiven – die fehlt mir in deiner Argumentation, die sich auf das „tradierte Verständnis“ stützt. Was ein gelungenes Gedicht ist, entscheidet letztlich zu einem guten Teil der LESER. Und dieser geht mit seinen ganz eigenen Wertmaßstäben an die Sache heran. Sicher würde mir Heine nicht so gefallen, wäre er, was die Form angeht, ein Dilettant gewesen. Aber der INHALT des Ausgesagten – das ist das, worüber ich nachdenke und was mich umtreibt. Die FORM ist ein notwendiges Element, das unterstützend und bereichernd auf meine Reflektion über den INHALT des Gesagten wirkt. Wenn dieser INHALT mich interessiert (habe gerade bei Google Horaz nachgeschlagen und auf den ersten Sekundenblick gefunden, dass er Satiren und „Gedichte über die Freundschaft“ schrieb – das interessiert mich jetzt erstmal, die Trinklieder interesieren mich zunächst ein bisschen weniger
), dann werde ich hellhörig. Und wenn ich im Gedicht selbst einen Bezug zu meinem eigenen Leben, meinen Interessengebieten oder gesellschaftlichen Themen finde, der mich zum Lesen und Reflektieren motiviert – und dieser Bezug kann auf noch so vielen Umwegen zustande kommen – dann lese ich es gern.
Und ich bezweifle schwer, dass ich der Einzige bin, der so denkt oder eine geradezu verschwindend geringe Minderheit darstelle. Auch an HEINE und GOETHE (um mal den Dicherfürst und den Co-Dichterfürst zu nennen
) erinnert man sich heute mitnichten nur ihrer beeinruckenden Sprache, ihrer schönen Reime oder ihres phantastischen Versmaßes wegen - vielmehr ist zum Beispiel die Liebe (um nur eines der von beiden meisterhaft behandelten Themen zu nennen) ein ewiges Menschheitsthema.
Deshalb komme ich zusammengefasst zu folgender subjektiver Sichtweise:
Wie wichtig INHALT und wie wichtig FORM für ein Gedicht sind entscheidet zu einem nicht unwichtigen Teil der Leser. Ein formell schlechtes Gedicht kann fast kein gutes Gedicht sein – denn unter einer schlechten FORM leidet der Inhalt zu sehr. Ein inhaltlich für den jeweiligen Leser nicht ansprechendes Gedicht (Langeweile beim Lesen bzw. Bezugslosigkeit) kann von ihm als formell beeindruckend, aber eben trotzdem „nicht gut“ angesehen werden.
Ein inhaltsloses Gedicht hingegen (was wäre das eigentlich?) kann durchaus ein vollendetes Gedicht sein.
DOCH: Ein inhaltsloses Gedicht kann ebenso gut, abhängig von seiner FORM, etwas anderes sein: formell beeindruckend, aber langweilig zum Beispiel – oder gar formell schwach und langweilig (das wär bitter
)
Und jetzt zum generellen Maßstab. Dein Argument (zusammengefasst):
IN ALLER KUNST UND LITERATUR sind eines Künstlers primäres Ziel nicht Aussagen zu treffen. Er kann aber Aussagen und Inhalte verarbeiten.
Dem widerspreche ich entschieden. Ich glaube auch sehr wohl, dass es schöne und gelungene Aussagen gibt. „Pazifismus“ ist in meinen Augen sehr wohl eine schöne Aussage – schon alleine weil sie diskussionswürdig ist. (ebenso wie die Quantentheorie und das neue Testament übrigens B-) )
Vielleicht ist unser Widerspruch hier nur scheinbar, denn wenn du schreibst…
Kunst kann also natürlich die Welt darstellen, ja, sie kommt nicht daran vorbei, und vielleicht SOLL sie sogar Aussagen treffen. Aber wenn die Aussage eines Romans der ZWECK des Romans wäre (alter Spruch:) - warum dann nicht gleich seine Thesen auf ein Blättchen schreiben und das an die nächste Rathaustür zimmern? Kostet weniger Zeit - und ist viel verständlicher.
…so stimme ich dir auf einer gewissenen Ebene zu. Ein Anti-Kriegsfilm, bei dem ein Soldat lethargisch 120 Minuten lang „Krieg ist scheisse, Krieg ist sinnlos“ in die Kamera spricht, würde mich sicher langweilen.
Aber die, sowohl cineastische als auch literarische Welt, sieht komplizierter aus. „Apocalypse Now“ ist doch so verdammt gut, weil genau das in diesem Film NICHT geschieht – und dennoch ist ein Zweck dieses Films die Barbarei des Krieges darzustellen. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ ist ein phantastisches Buch – eben wegen seiner Vielfältigkeit die sich von der platten Aussage abhebt, aber das ändert doch nichts daran, dass es ein Anti-Kriegsroman ist und eine Warnung für kommende Generationen.
Ich will den ZWECK von Kunst und Literatur nicht verkürzen um eine Thesensammlung in Buch- oder Filmform zu fordern. Aber ich beziehe Stellung dafür, dass es sehr wohl ein ZWECK (in diesem Fall gehe ich noch weiter und sage bezogen auf meine beiden Beispiele: ein ÜBERGEORDNETER ZWECK) sein KANN – in welcher Kunstform auch immer – Aussagen zu treffen. „Apocalypse Now“ und „Im Westen nichts Neues“ treffen sehr wohl Aussagen – und die Kunst ist es, dass sie subtil und doch an Eindeutigkeit nicht zu überbieten sind. Für mich – und hier liegt vielleicht der Unterschied unserer Interpretation – ist es auch eine Aussage, wenn das dem Leser/Kinozuschauer/Kunstausstellungsbesucher etc. dargestellte „Kunstmaterial“ eine eindeutige Tendenz vermittelt und diese Tendenz erklärt, rechtfertigt und nachfühlbar macht, indem sie die Hintergründe ausleuchtet. So funktionieren gute Anti-Kriegs-Bücher, so funktionieren gute Anti-Kriegs-Filme – und es ließen sich in allen Genres und Kunstformen Dutzende weitere Beispiele bieten.
Aber um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere damit weder für moralinsaure Kunst (ein Greuel) noch beziehe ich Stellung gegen „wertungslose“, aber intensive Darstellungen. Ersteres ist mir zuwider, letzteres habe ich mit „Requiem“ gerade im Kino gesehen – und liebe es.
Ich treffe also hier, alle Kunst und Literatur betreffend, auch keine normative Aussage. Ich sage nur: Ein Zweck von aller Kunst und aller Literatur kann es sein Aussagen zu treffen, sanfter formuliert: sie verdammt nah in Kopf und Herz des Empfängers zu legen.
Nochmal zum Schluss zurück zur Lyrik, bezogen auf deinen letzten langen Absatz:
Hier bin ich sehr erfreut, dass du keine normative Aussage treffen willst. Ich bezweifle zwar, dass Lyrik in aller Regel so ist, wie du es darstellst – die Unterschiede sind ja im bisherigen Verlauf dieses Beitrags deutlich geworden – freue mich aber, dass so für mich zumindest weiter die Möglichkeit besteht, Gedichte zu schreiben (wenn ich es denn wollte), bei denen ich Aussagen und Inhalte nicht nur verarbeite, sondern erstere sogar treffe als ein oder den Zweck des Gedichtes.
Bin also an dieser Stelle zufrieden, dass du die von mir vermutete normative Absolutheit nicht vertrittst.
Und mit dieser Zufriedenheit schließe ich diesen Beitrag.
Liebe Grüße,
Ham