Hallo ihr Lieben!
Ich habe gerade die ersten 300 Seiten einer etwas bekannteren Sammlung moderner Poesie durchgeblättert und versucht, die Gedichte zuzuordnen. Ich komme zu folgendem Ergebnis:
- 81 moderne Gedichte, die ohne Reim auskommen
- 45 moderne Gedichte, die nicht ohne Reim auskommen wollen
- 9 moderne Gedichte, die weder der einen, noch der anderen Gruppe zuzuordnen waren
Ich werde jetzt keine Garantie für die Richtigkeit meiner Zählung abgeben. Ich denke dennoch, dass die Tendenz klar ist. Und sie bestätigt, was ich persönlich für representativ für die Dichtung des 20. Jahrhunderts halte.
Die namhafteren Autoren aus dem "Museum der modernen Poesie - eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger" habe ich mal folgendermaßen aufgeteilt:
Old school (feine Reime)Boris Pasternak
Georg Heym
Alfred Lichtenstein
Sergej Jesenin
Konstantinos Kavafis
Ernst Stadler
Julian Tuwim
Rainer Maria Rilke
New school (keine Reime)Pablo Neruda,
Edward Estlin Cummings
Dylan Thomas
William Carlos Williams
Giuseppe Ungaretti
Federico Garcia Lorca
Ezra Pound
Sowohl/Als auchGottfried Benn
Bertolt Brecht
T.S. Eliot
Georg Trakl
Kurt Schwitters
Ossip Mandelstam
Wahrscheinlich wird es für jeden der genannten Dichter auch Gegenbeispiele geben, die meine Zuordnung in Frage stellen. Aber dies soll ebenso nur eine tendenzielle Einteilung sein und man möge mir verzeihen, wenn einer eurer Lieblinge aus Versehen in der falschen Schublade gelandet ist.
Was mir bei anspruchsvoller moderner Poesie immer wieder auffällt, ist, dass der Klang in den Gedichten beim Sprechen oft schon sehr greifbar ist, nur eben nicht als Reim. Dass er sich quasi vom Ende der Zeile mehr ins Innere der Verse verlagert hat. Außerdem scheint mir das Spiel mit "unreinen", aber dennoch hörbar verwandten Klängen (wie Halbreimen, Alliterationen, Assonanzen usw.) sehr "modern" zu sein. Wie gesagt, das sind nur meine persönliche Eindrücke. Literaturwissenschaftlich fundiert ist das alles nicht, wäre aber mal interessant zu wissen, wie die neuere Literaturwissenschaft das kategorisiert.
Jetzt zu euren Beiträgen: Ich war und bin sehr neugierig, wie ihr meine Fragen beantwortet. Ich wusste, dass hier zum Teil sehr gegensätzliche Ansichten existieren. Also, ich gehe mal der Reihe nach:
@kasparov
zu 1.) Was haltet ihr von Reimen?
"viel, wenn ich sie nicht dichten MUSS"
Guter Punkt!
Obwohl ich gestehen muss, dass bei mir die Klänge gelegentlich auch zuerst da sind und sich erst dann die Inhalte nach und nach ergeben und (wie von selbst) zusammenfügen. Es gibt Reime, die mich so faszinieren, die mich so stark anziehen, dass ich sie nehmen und zu einem Gedicht zusammenfügen MUSS. Natürlich funktioniert das nicht immer. Denn nicht alles, was toll zusammenklingt, passt auch zusammen.
zu 2b.) Wenn nein, warum nicht?
"das frage ich mich auch"
Eigentlich ist das eine zentrale Frage und sie sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Ich glaube, dass jeder, der sich ernsthaft mit Lyrik auseinandersetzt (sie liest, sie rezitiert, sie analysiert, sie kritisiert, sie liebt, sie sammelt, sie verfasst), sich unweigerlich irgendwann einmal dieser Frage stellen muss.
Ich behaupte mal: Es ist kein Zufall, dass der gewichtigere Teil moderner Poesie ohne Reime auskommt. Ein wichtiger Punkt ist dabei einfach die Beschränkung der Reime: Es gibt nur soundsoviele Reime auf "-eis", es gibt nur soundsoviele Reime auf "-ohn" usw. Und es gibt keinen Reim auf "Mensch". Oder mit den Worten von Erich Fried:
Der Hauptberuf der Schnabelsau
ist daß sie reimt auf Kabeljau
Doch wenn sie ihren Zensch entschleimt
bleibt selbst der Mensch nicht ungereimt
Quelle: Erich Fried: Zwiefache poetische Sendung. In: Die bunten Getüme.
Weil die Anzahl der Reime schlicht und einfach begrenzt ist (wobei dies natürlich von Wort zu Wort sehr unterschiedlich ist), ist die Wiederholung unvermeidbar. Aber die Wiederholung steht generell im unvereinbaren Widerspruch zum Qualitäts- und Originalitätsanspruch, der in jedem künstlerischen Schaffen ein nicht unerhebliches Gewicht hat. Sich heute hinzusetzen und Reime in seinen Gedichten zu verwenden, ist quasi schon an sich ein Widerspruch zur Moderne - bzw. zum Modern-sein-wollen. Weil es unendlich mal schwieriger ist als vor 200 Jahren, weil annähernd
jedes Reimpaar seine eigene Geschichte, einen oder gleich mehrere berühmte Vorgänger hat - und dies gilt wahrscheinlich für alle zentraleuropäischen Sprachen (Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch).
"wenn man ihn anders erwartet, als er einem dann besser gefällt"
Das passiert mir auch gelegentlich.
schweinereime wäre was, um sich mit eminem zu batteln.
In dem Film "Something's Gotta Give" mit Diane Keaton und Jack Nicholson wurde das - wie ich finde - sehr treffend auf den Punkt gebracht: "Aber mal ehrlich: wie viele Worte reimen sich auf Bitch!"
Allerdings möchte ich nicht meine Schwäche für die Wut und die emotionale Intensität von Eminems Zeilen verhehlen, obwohl die Art und Weise, wie er sein Privatleben öffentlich austrägt und inszeniert, schon etwas mehr als fragwürdig-exhibitionistisch ist.
Außerdem bin ich dem Deutschen Hiphop sehr verbunden, dass er wenigstens ein kleines Revival der deutschen Sprache in deutschen Radios bewirkt hat, das leider in den letzten zwei Jahren wieder etwas abgeklungen ist. Es gibt einige namhafte Projekte, die ich bei dieser Gelegenheit mal nennen will: Fettes Brot, Absolute Beginner, Freundeskreis, Massive Töne, blumentopf, Samy Deluxe und Curse, den ich wegen seiner Texte und
seiner Intensität besonders schätze. Ist doch schön, dass "Reimen" wieder gesellschaftsfähig geworden ist, oder nicht?
ich höre auf geburtstagsfeiern reime, die holpern stolpern und wo die vier "bösen" da noch als literarische highlights durchgehen. ABER -von wem für wen mit ernst, begeisterung und supernervös vorgetragen- etwas, das zu tränen rührt, leute zum lachen bringt und bewegt. technik ist nicht alles - gefühl schon.
Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass dir das Thema besonders am Herzen läge und dass du hier die Rolle des glühenden Reim-Verteidigers einnehmen würdest. Da hast du mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn in deiner Antwort schwingt eine gehörige Portion Beliebigkeit und Desintresse am Thema mit (zumindest für mich).
Ich will den familiären und freundschaftlichen Wert besagter Geburtstagsständchen nicht in Frage stellen und sicher kommt es auch immer auf den Anlass sowie die Art und Weise des Vortrags an - auch das streite ich nicht ab. Aber an Gedichte, die in diesem Forum gepostet werden, lege ich dann doch andere Maßstäbe an. Wenn wir das Gros dieser Geburtstagsgratulationsamateurpoesie zum Kriterium nehmen würden, dann ist alles einfach nur noch toll - und eiteitei! Dann ist Kritik überflüssig, ebenso wie die Fragen, die ich hier gestellt habe und die auf eine Unterscheidung, auf ein Qualitätsmerkmal hinauslaufen. Aber dieses Forum heißt nun mal "Kunst und Handwerk" und nicht "Mach, was du willst".
Daher empfinde ich deine Antworten auf die Fragen 4 und 5 eher als unbefriedigend, weil sie mir das Gefühl geben, dass du sie nicht ernst nimmst. Wenn du mir wirklich glaubhaft machen willst, dass für dich ein Reim á la "Herz-Schmerz" so gut wie jeder andere ist, dann musst du dich schon ein bisschen mehr anstrengen und ein paar bessere Argumente bringen. :-p
"die eigene überladene und erstmal schlichtweg abgestritten voreingenommene denkweise zu vergessen, wäre ein guter anfang"
Gut! - Aber ich glaube, das ist leichter gesagt als getan. Welche Methoden empfiehlst du uns denn?
"nö - bin selbstversorger"
Wieder so ein Indiz, dass dich das Thema nicht sonderlich interessiert.
"danke für die einladung - nein.
komme sonst in übung."
Hmm, ich hätte gedacht, dass wenigstens
du das mit links hinkriegst. So eine Enttäuschung!
@DerPeter
Ich glaub ich hab die siebte Frage schlecht beantwortet
Das glaube ich nicht! Eigentlich ist das genau das, wonach ich gesucht habe.
ich beantworte nur Frage sieben
Okay, Hilbi, du bekommst eine Sonderfrage:
9.) Nur für Leute zu beantworten, die fliegende Sturznester bewohnen: Warum verwendest du keine Reime in deinen Gedichten?
@Silly
1. Reime sind was vom schönsten überhaupt. Weil sie einen Text zu Rhytmus zwingen, weil sie im Idealfall nachklingen und wortgewordene Melodie sind, weil ein schöner Reim sich in die Hirnwindungen des Lesers lasert (no pun intended) und dort bleibt. Weil die Verwendung von Reim, wenn man nicht gewillt ist, lächerlich zu klingen, zu einer gewissen Sprachdisziplin zwingt, weil man nicht einfach auf eine Zeile, eine Silbe verzichten und nicht einfach eine Zeile dazutun kann.
Ich möchte jetzt nicht so weit gehen und sagen: "Das ist genau das, was ich hören wollte." Aber das ist eine wirklich gute und treffend auf den Punkt gebrachte Antwort auf die erste Frage, die sich in vielerlei Hinsicht mit meiner eigenen Meinung deckt.
Es hat sich da eine gewisse... Vernachlässigung des Reimes eingeschlichen, entweder, weil man sie für altmodisch hält, weil der Schreibende behauptet, er könne das nicht oder weil ein Reim dem Stil des Schreibenden nicht entspricht. Letzteres ist ehrenhaft, die anderen beiden Einstellungen...
Das erste ist für mich ein Argument, über das man diskutieren kann. Die nächste Frage wäre natürlich, WARUM hält "man" Reime für altmodisch. Was glaubst du, Silentium? Wenn die Reime angeblich nicht zum Stil passen, klingt das für mich vor allem nach Bequemlichkeit sich mit anderen Stilen auseinanderzusetzen. Die Behauptung "ich kann das nicht" ist mir auch im Forum bereits mehr als einmal begegnet. Wobei es nur zwei Autoren gab, die mir das glaubhaft machen konnten, weil sie eine besondere Art des Denkens, eine eigene Sprache besitzen, vor der ich viel zu großen Respekt habe.
Zeitgemäß im Sinne von 'würden meiner Meinung nach in diese Zeit passen': Ja, ja, ja, ja, ja, ja.
Auch hier wieder die Mutter aller Fragen: Warum?
@Hilbi, again
die Reimen sich nicht weil sie es nicht nötig haben, die haben einen ganz besonderen Klang und das ist keine Vernachlässigung des Reimes.
Aber vielleicht konnte dieser besondere Klang sich nur entfalten, gerade weil sie auf's Reimen verzichten? Oder sagen wir: Es ist einfacher, diese besondere Sprache, diese eigene Form und Klangfarbe zu finden, wenn man sich nicht dem Joch von Metrum, Silbenzahl, Reim- und Strophenform unterwirft?
Ich muss bei Gedichten mit dem Reimschema ABCB immer zuerst an Heinrich Heine denken - komisch, oder?
es ist am Ende furchtbar egal ob ein Gedicht sich reimt oder nicht, wenn es nur gut ist...
Das stimmt zweifellos, aber das war nicht die Frage.
So jetzt habe ich genug fabuliert, jetzt seid ihr erst mal wieder dran.
Liebe Grüße,
[) i r k
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)