Ach, seid ihr wieder kitschig!
@Silentium*rofl* Also eins ist ja klar, nach Österreich zieh ich jetzt nimmer, wenn ich Ende nächsten Jahres aus dieser Stadt hier verdufte.
Das Anti-Goethe-Pro-Kitsch-Gedicht von dem Seniorentreff ist gar nicht schlecht. Aber verwundert mich auch nicht – mit Senioren assoziiert man ja auch so was wie Schlager, Volksmusik, Groschenromane, Biedermeierinterieurs, Bilder von Bergidyllen und Wiesengründen, auf denen Rotwild weidet, grüne Pullunder, dicke Hornbrillen, orthopädische Schuhe, unverdauliches Essen (wie Leber, Grünkohl, Schweinskopfsülze, Diätschokolade ...), unförmige Wärmflaschen und vergilbte Blümchentapeten. Das ist quasi Daseinsrechtfertigung, was die auf ihrer Homepage betreiben. :-p
@chariseine frage nur: warum war bollywood vor - sagen wir - 5 jahren kitsch und ist jetzt kult? wird es in 5 jahren wieder kitsch sein, oder kult, der out ist.
Das ist irgendwie lustig, dass du das erwähnst, denn vor ziemlich genau 5 Jahren war ich im ersten und letzten Bollywood-Film, den ich in meinem Leben gesehen habe. Und zwar in Neu Delhi. Ich zitiere mal mein Reisetagebuch:
Am Abend: Kino. Umar und ich. Ein Hindi-Film namens Ischq. Ich verstehe nichts, außer ein paar englischen Floskeln. Der erste Teil des Films ist eine Komödie und gefällt mir gar nicht schlecht, der zweite, darauf folgende Teil wandelt sich zum Drama und wird dem Klischee von Bollywood gerecht: Ungerechtigkeit, Kampf, Blut, Fehden. Es geht um Heiratsverträge: zwei Väter reicher Häuser versuchen ihre Kinder zu verkuppeln und deren wahre Liebe, ein Mädchen und ein Mann aus einer niederen Kaste, zu verkraulen. Alles spitzt sich zu, mündet aber in einem Happy-End. Am nächsten Tag wird der Film im Fernsehen laufen – merkwürdiges Land. Aber das Erlebnis war es mir wert: die unbequemen Gummiledersitze und die schnulzigen, rührseligen Hindi-Songs – es paßt alles zusammen, zusammen mit warmer Limonade und einer verschwitzten Nacht.
Deswegen kann ich eins nicht nachvollziehen: Warum ist Bollywood jetzt Kult? Laufen bei dir um die Ecke im Kino keine Hollywoodschnulzen mehr, sondern Filme aus Bollywood? Das möchte ich bezweifeln: bisher haben es nur sehr wenige dieser Filme in unsere Kinos geschafft und ich denke, bei den Plots der meisten Bollywood-Streifen wirst du dich zu Tode langweilen, weil dir einfach der soziale Kontext fehlt, dich mit den Hoffnungen und Sehnsüchten, die sich darin ausdrücken, zu identifizieren. Und nur weil Dr. Dre oder Missy Eliot ein Bangra-Sample benutzt haben oder hier und da eine Sitar schnurrt (und das ist ja nun wirklich nichts neues, das gab es schon bei den Beatles), heißt das noch lange nicht, dass Bollywood Kult ist. Im Gegenteil, die indische
Kultur – auch deren Musik und Kino bleiben uns nach wie vor weitestgehend fremd und diese Welle mit dem Bangra-Pop hat ihren Höhepunkt auch schon wieder überschritten. Das sind kleine, kurzweilige Mode-Sternschnuppen am großen, ewiggleichen Kitschhimmel. Ich persönlich finde ja dieses ganze 80er-Jahre-Trash-Revival total daneben – das ist genauso ein Schwachmaten-Trend, der hoffentlich bald vorbei ist.
Aber noch mal zurück zu der Frage: Was ist Kitsch?
Wirklich? Nehmen wir den Durchschnittskitsch her:
Liebe. Punktum.
Sehnsucht.
Vorstufe von Sehnsucht: Trennungsschmerz
Trauer
Wehmut.
Nostalgie.
Das ist doch schon mal ein Anfang: Kitsch hat immer mit Sentimentalitäten zu tun. "Liebe. Punktum." Oder um es auf meine Kitsch-Theorie zu münzen: Liebe ist Thema Nummer eins in der Dichtung und darum ist hier auch die Gefahr, in den Kitsch abzugleiten, am größten. Ich find es zum Beispiel immer wieder super-schwierig, allein das Wort "Herz" in Gedichten zu verwenden. Da klingelt sofort der Kitsch-Alarm. Ich kann trotzdem nicht die Finger davon lassen. Vielleicht ist es ja auch gerade die Herausforderung, Metaphern in Kombination mit "Herz" zu finden, die nicht so verbraucht sind. Absolut tabu sind die Herz-Feuer-Metaphern oder Kombinationen mit Verben wie "gießen", "gegossen", "überfließen" etc. Das ist Kitsch pur. Noch fataler ist nur das Reimpaar Herz-Schmerz. Ich hab mal eine Anekdote gelesen, wie sehr Reiner Kunze über eine kleine Metapher gestaunt hat, als er sie in einem Gedicht von Jan Skácel entdeckte, so unscheinbar sie auf den ersten Blick auch ist: "... die im Herzen barfuß sind". So hauchdünn kann die Grenze zwischen Kitsch und Kunst sein.
Fazit: misslungene Idealisierung, Verniedlichung. So würd' ich den allgemeinen Haus- und Wiesenkitsch am ehesten definieren.
Ja, das trifft es. Vor allem ist es das sentimentale und stereotypische Paralleluniversum der privaten Idylle und der heilen Welt, das kitschig ist. Kunst ist eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, Kitsch ist die Flucht vor der Wirklichkeit ins bloß Ästhetische, in den Schein, das Idealistische, das Schwarz-Weiß-Denken.
@Archäopterixich hoffe, ich darf jetzt noch bei euch mitmachen...
Ich find ohnehin, du solltest dich hier mehr einbringen. Wir brauchen Leute wie dich, wir brauchen Andersdenkende, wir brauchen Gegensätze ... und wir brauchen Kitsch. Eine Welt ohne Kitsch ist undenkbar. Und darum jetzt meine Top-3:
1. Das kitschigste Buch in meinem Haushalt? Friedrich Hölderlin "Hyperion". Also meine Gefühle für dieses Buch sind sehr ambivalent, denn es gibt durchaus auch sehr gute Stellen darin, aber eben auch diese triefenden, fettigen, tropfenden, schweren, öligen Orgasmen. Kleine Kostprobe gefällig?
Ich sahe sie an und Tränen stürzten mir aus brennendem Auge.
So lebe denn wohl, Diotima! rief ich, Himmel meiner Liebe, lebe wohl! – Lasset uns stark sein, teure Freunde! teure Mutter! ich gab dir Freude und Leid. Lebt wohl! lebt wohl!
Ich wankte fort. Diotima folgte mir allein.
Es war Abend geworden und die Sterne gingen herauf am Himmel. Wir standen still unter dem Hause. Ewiges war ins uns, über uns. Zart, wie der Aether, umwand mich Diotima. Törichter, was ist denn Trennung? flüsterte sie geheimnisvoll mir zu, mit dem Lächeln einer Unsterblichen.
Es ist mir auch jetzt anders, sagt ich, und ich weiß nicht, was von beiden ein Traum ist, mein Leiden oder meine Freudigkeit.
Beides ist, erwiderte sie, beides ist gut.
Vollendete! rief ich, ich spreche wie du. Am Sternenhimmel wollen wir uns erkennen. Er sei das Zeichen zwischen mir und dir, solange die Lippen verstummen.
2. Der kitschigste Gegenstand? Da ich allen anderen Kitsch verbannt habe: meine eigene Fresse. Direkt gefolgt von meiner Frisur und dem Hemd, das ich trage.
3. Die kitschigste CD? Roy Orbison "Super Hits" und "The Best of Greatful Dead". Ich gestehe, ich gestehe alles: Ja, ich höre sie sogar! Sehr, sehr selten, aber es kommt vor.
Redet ihr jetzt noch mit mir?
gelb
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)