Alle sollen`s dufte haben...

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Hamburger
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Alle sollen`s dufte haben...

Beitragvon Hamburger » 01.05.2005, 18:47

Hallo charis, hallo razor, hallo allen sonstigen Lesern sowie ein kräftigen Kampfesgruß an alle Gewerkschafter…(„Tag der Arbeit“ also ich habe bis 11 Uhr 20 gepennt…)

vielleicht erinnert ihr euch noch an mein Versprechen das Thema „Anarchie“ noch einmal etwas eingehender zu beleuchten. Ich weiß, ich weiß, es hat mal wieder gedauert, aber immerhin bringt der Ham aus der Versenkung denn doch noch einen Thread mit, der sich damit beschäftigt (also noch keine Kurzgeschichte razor, *heftigmitzweiautoszurückschwenk*)

Mehrere Fragen standen im Zentrum unserer kurzen Anarchiedebatte und ich will sie zunächst kurz in meinen Worten zusammenfassen:

1) Was ist Anarchie überhaupt, sprich wie definiert man sie?

2) Zu welchen gesellschaftlichen Zuständen würde Anarchie als (dauerhafte) Gesellschaftsform führen? Anschlussfrage: Ist Anarchie als (dauerhafte) Gesellschaftsform möglich/anzustreben?

3) Wenn das Gros der Mitglieder einer kleinen Gruppe ein Mitglied, dass sich normabweichend verhält, sanktioniert, ist dies dann Herrschaft (einer Führer-Liga) zu nennen?

4) Braucht es selbst in kleinen Gruppen immer Mitglieder die sanktionierend wirken (Exekutive), wenn andere Mitglieder gegen eine bestehende Norm verstoßen?

Bevor ich auf die Fragen eingehe hole ich weit aus und beschäftige mich mit dem Begriffen der „Norm“ und des „Wertes“. Charis, du hast geschrieben:


Eine Norm ist ja v.a. eine aus Werten abgeleitete Übereinkunft, an die man sich nach allgemeiner Auffassung halten sollte.


Gleich hier setze ich an und differenziere ein bisschen die Erklärung der Entstehungsbedingungen von Normen durch Werte. Es gibt eine inzwischen klassisch gewordene Definition des Begriffs "Wert" von CL. Kluckhohn (1951), die sich zu diesem Zwecke, wie ich finde, anbietet:

Definition des Begriffes „Wert“: “Ein Wert ist eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit sowie für ein Individuum oder eine Gruppe kennzeichnend ist und die Auswahl der zugänglichen Wege, Mittel, oder Ziele des Handelns beeinflusst.“

Als Norm möchte ich Regeln bezeichnen, geschriebene als auch ungeschriebene Regeln. Lord Ralf Dahrendorf hat in seinem berühmten (für uns Soziologen ;-) ) Aufsatz vom „Homo Sociologicus“ drei Arten von Normen unterschieden. Ich hänge dieser Unterscheidung immer noch an und gebe sie mal sinngemäß wieder.
Die Jedem sofort einsichtigen, weil schriftlich niedergelegten Normen sind Gesetze. Verstoße ich gegen sie, werde ich sanktioniert. Es handelt sich um MUSS-Normen. Ich MUSS zwingend damit rechnen eine Geldstrafe zu erhalten wenn ich jemandem ohne Grund aus dem Nichts eine Ohrfeige gebe. Ich MUSS zwingend mit einer Gefängnisstrafe rechnen, wenn ich eine Bank überfalle usw.
Aber mit diesen MUSS-Normen hat es sich nicht. Die zweite Art von Normen sind KANN-Normen. Sie sind nicht schriftlich niedergelegt, aber dennoch fest in den Köpfen der handelnden Subjekte verankert. Werden sie gebrochen folgt zwar keine so harte Sanktion (Geldstrafe, Gefängnis) wie bei den MUSS-Normen, aber eine gewaltige Welle der Verachtung/des Unverständnisses, die starken sozialen Druck auf den Normabweichler erzeugt wird unvermeidbar sein. Beispiele: Ich KANN als DGB-Vorsitzender am 01.Mai durchaus eine Rede halten, in der "ich meine tief empfundene Freude über den fortschreitenden Raubtierkapitalismus“ zeige und "weitere Lohnsenkungen für die Arbeitnehmer fordere." Ich KANN als Bundeskanzler eine Regierungserklärung abgeben, in welcher ich mitten in der Rede aufhöre und 5 Minuten laut und fröhlich mein Lieblingslied dem Volke hinträllere usw. Potentiell geht das. Es wird danach nur etwas schwierig für mich die Einweisung in die geschlossene Abteilung abzuwenden. :-D
Dann gibt es noch die SOLL-Normen: Sie sind ebenfalls nicht schriftlich niedergelegt und ich muss mit keinem besonderen sozialen Druck rechnen, wenn ich sie breche, aber mindestens mit ein paar pikierten Mitmenschen. Ich SOLLTE also nicht unbedingt 3 Wochen ungeduscht durch die Gegend laufen und Ich SOLLTE zurückgrüßen, wenn ein Freund mich grüßt usw.

Dies nur als Grundlage für (mein) Verständnis dessen, was „Normen“ und was „Werte“ sind.

Normen leiten sich (fast immer, gibt meiner Meinung nach einen Sonderfall, dazu gleich) aus Werten ab, das ist wahr. Aber Normen repräsentieren keinesfalls immer eine allgemeine Auffassung. Ein autokratischer Herrscher kann Normen allein nach seinem Willen setzen. Er wird dies auf der Grundlage seines Wertegerüstes tun, sicher. Aber diese Norm repräsentiert dann erstmal seinen Willen (siehe Definition „Wert“, den Willen eines Individuums) Eine oligarchische Führungsclique kann nach demselben Muster verfahren. Auch sie muss ihre Normen nicht an einer allgemeinen Auffassung ausrichten. Ein demokratisch legitimierter Herrscher hingegen kann eben nicht allein oder in kleinem Kreise ohne Rücksicht auf die große Mehrheit der der Herrschaft Unterworfenen Normen setzen. Er muss schon bei der Willensbildung Schranken beachten (eigene Partei, Koalition, Wahlvolk), da er sonst seine „Macht“ zu verlieren droht.
Dies ist ein ganz entscheidender Begriff, der Begriff der „Macht“, also nach Max Weber „die Chance, jemandem seinen Willen aufzuzwängen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. In den ersten beiden Fällen (Autokratie, Oligarchie) wird diese Chance wahrscheinlich auf Unterdrückung anderer Meinungen beruhen, im dritten Falle (Demokratie) ist sie hingegen hauptsächlich von der Legitimation des Volkes abhängig. Aber auch Letztere kann eventuell durch allerlei Manipulation gewonnen werden (z.B. falsche Wahlversprechungen, bewusst gefälschte Darstellung der vergangenen Legislaturperiode). Allerdings kann das Volk auch Normenwünsche an die Herrschenden herantragen und mit Abwahl drohen.

Festzuhalten bleibt jetzt für uns zunächst: In allen drei Herrschaftsformen (die wir jetzt mal grob als „repräsentativ“ kennzeichnen, natürlich gibt es weitere Grautöne, aber wir gehen jetzt von „Alleinherrschaft“, „Herrschaft einer kleinen Elite“ und „durch gewählte Repräsentanten ausgeübte Volksherrschaft“ aus) sind die Normen durch „Normhüter“ geschützt. Und sie werden durch diejenigen, die die Macht innehaben, gesetzt. Durchgesetzt werden sie in den ersten beiden Fällen von dem/den Herrschenden unterstehenden Personen und im letzteren Fall (Demokratie) von der Exekutive (Polizei, BSG etc.) und der Judikative (Gerichte). Diese Gewalten sollen in einer Demokratie zusammenspielen aber sich auch gegenseitig kontrollieren. Dabei müssen Normen keine allgemeine gesellschaftlich mehrheitlich vorherrschende Auffassung repräsentieren. Sie können es, aber sie müssen nicht. Selbst bei demokratischer Herrschaft nicht, denn das eine Mehrheit des Volkes eine bestimmte Regierung in Amt und Würden wählt heißt noch lange nicht, dass eine Mehrheit des Volkes mit jeder Norm, die diese Regierung setzt. (seien es gesetzgeberische MUSS-Normen oder Wertedebatten anhand der Diskussion von KANN-Normen, sprich „was ist soziale Gerechtigkeit? was ist Patriotismus?" etc.)

Auf dieser Grundlage will ich nun zu den Fragen übergehen, möchte allerdings vorher kurz den Sonderfall erklären, indem sich – meiner Meinung nach – Normen nicht, zumindest nicht direkt, aus Werten ableiten. Dies hängt damit zusammen, dass gerade Gesetze (also MUSS-Normen) oftmals Konsequenzen zeitigen die so von den Normsetzern nicht beabsichtigt waren. So hat zum Beispiel die deutsche Bundesregierung den von der Vorgängerregierung eingeführten „demographischen Faktor“, der die jährliche Anpassung der Renten an die Nettolohnentwicklung insofern änderte, dass diese Anpassung hinter der Nettolohnentwicklung zurückbleibt (Klartext: kleinere Rentenerhöhungen für Rentner) wieder zurückgenommen. Gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit. Jahre später musste unser Kanzler dann eingestehen, dies sei ein Fehler gewesen (Rentenkasse ist leer). Ich bin da nur noch insoweit auf dem Stand der Diskussion dass Rot-Grün das Ding wieder einführen wollte (natürlich unter anderem Namen :-D ). Wie es dann kam weiß ich gar nicht, aber Fakt ist: Manchmal werden auch die Normsetzer gezwungen Normen zu setzen, die sie eigentlich gar nicht setzen wollen. So kann es – weiteres Beispiel - auch sein, dass ein Gesetz zwar prinzipiell gut ist, aber eine bestimmte unerwünschte Nebenwirkung hat die durch eine Regel, die eigentlich den eigenen Werteeinstellungen widerspricht, beseitigt werden muss.
Man nennt die Etablierung solcher Normen dann vorzugsweise „die Zwänge der Wirklichkeit“ oder „Anpassung der eigenen Utopien an die Realität“ oder dergleichen. Das Problem mit „Werten“ und „Normen“ ist nämlich folgendes: Werte lassen sich wunderschön und in großer Anzahl frei von der Leber weg formulieren. Aber Normen können niemals auch nur annähernd 1:1 nach dem eigenen Wertegerüst auf die Wirklichkeit übertragen werden. Dafür ist die Welt zu komplex, das Wertegerüst jedes Menschen/jedes Verbandes/jeder Partei etc. zu unvollkommen, die inhaltliche Definition einzelner Werte durch die Anhänger (was, bitteschön, ist Soziale Gerechtigkeit?) zu vielschichtig und zu viele Werte liegen miteinander, und mit ihnen die jeweiligen Anhänger, im Widerspruch. Festzuhalten bleibt also auch: Normen leiten sich auf Grund von vielerlei Gründen längst nicht immer auf direktem einfachen Wege einfach in gerader Linie aus Werten ab.

Gut, und nun, nach dieser ewig langen Grundsatz-Vorrede, zu den eigentlichen Fragen.

Zu 1) Was ist Anarchie überhaupt, sprich wie definiert man sie?

Anarchie bedeutet, da hat Wiki wohl durchaus recht, "Herrschaftslosigkeit". Natürlich hast du recht, razor, wenn du schreibst…


Das Problem mit dem Begriff Anarchie ist, dass er - wie jede politische Theorie (definiere mal Sozialismus) - häufig interpretiert und gedeutet wurde.


Allerdings lässt sich aus der Begriffsgeschichte des Begriffes, egal auf welchen Seiten ich mich im Netz umsah, schliessen dass sich der Begriff „Anarchie“ ohne den Begriff „Herrschaftslosigkeit“ nicht denken lässt. Diese beiden Begriffe, das können wir schon mal festhalten, gehören zusammen. Auf der Seite www.anarchie.de (Geheim-Tipp: die Diskussion über die 5-Stunden-Woche :-)) ) fand ich in der Rubrik „Anarchische Gedanken über Anarchismus“ folgenden ersten Absatz eines längeren Artikels…


Ich erinnere mich an ein Wort, das der englische Anarchist Mowbray 1893 auf dem internationalen Sozialistischen Kongreß in Zürich gesprochen hat. Es handelte sich darum, ob die Anarchisten das Recht hätten, am Kongreß theilzunehmen oder nicht. Nach stürmischen Debatten war eine Resolution durchgegangen, wonach nur solche zugelassen sein sollten, die für die "politische" Aktion einträten. In diesem Moment, wo wir Anarchisten schon ausgeschlossen zu sein schienen, brachte Mowbray noch einmal durch einen pathetischen Witz die Waage ins Schwanken. Er erklärte: Die That des Brutus, rief er aus, war eine eminent politische Aktion. Wir sind für die politische Aktion und müssen also zugelassen werden.
Dies Wort scheint mir überaus geeignet, die seltsame Erscheinung zu erklären, daß es fast zum anarchistischen Dogma geworden ist, die Tötung von Staatsoberhäuptern, wenn erst vollbracht, als etwas Anarchistisches anzusehen; das ferner in der That fast alle Attentäter der letzten Jahrzehnte von anarchistischen Grundgedanken ausgegangen sind. Seltsam wird jeder Unbefangene dieses Zusammentreffen in der That nennen; denn was hat es mit Anarchismus, der Lehre von einer zu erstrebenden Gesellschaft ohne Staat und ohne autoritärem Zwang, was mit der Bewegung gegen den Staat und gegen legalisierte Gewalt zu thun, daß Personen ums Leben gebracht werden? Gar nichts.


…dessen Schluss es für mich auf den Punkt bringt. Bei der Anarchie handelt es sich um die „Lehre von einer zu erstrebenden Gesellschaft ohne Staat und ohne autoritären Zwang“ und damit ist die anarchische Bewegung eine „Bewegung gegen den Staat und gegen legalisierte Gewalt“.

So also definiere „ich“ Anarchie und anarchische Bewegung. Denn es hilft ja nichts, von irgendeiner Definition müssen wir ja ausgehen, wenn wir diskutieren. Diese Definition erscheint mir plausibel und deckt sich mit meinem Rechercheeindruck. Das wäre also denn die Basis für die Debatte.

Unter Berücksichtigung meiner Einleitung kann ich also sagen: Ein Anarchist möchte eine Gesellschaftsordnung schaffen, in der es zwar durchaus noch Normen geben kann (dies verbietet die Definition nicht), die aber ohne staatliche Normenhüter auskommt (die Exekutive und die Judikative fallen weg, also zwei der drei Gewalten und die dritte Gewalt, Legislative, geht in die Hände des Volkes über). Es darf keine legalisierte Instanz, keine Staatsgewalt geben, die das Gewaltmonopol innehat. Alle Gewalt geht ganz ursprünglich vom Volke aus. Damit tritt bei erster Betrachtung einiges zur Ehrenrettung des anarchischen Gedankens deutlich zutage: Zum Ersten, wie gesagt, darf es Normen geben in einer Anarchie. Eine Anarchie ist also per Definition keine normenlose Gesellschaft, sie ist „nur“ eine führerlose Gesellschaft. Zum Zweiten darf es Normenhüter geben, aber diese dürfen keine legalisierte Zwangsgewalt innehaben. Sie dürfen nicht staatlich sein. Es soll also eine Ordnung unter Gleichen, die sich niemandem (auch nicht staatlichen Autoritäten wie Polizei, BSG, Gerichten) unterordnen, entstehen. Die Existenz von solchen anderen Normhütern jedoch (Diktum der Herrschaftslosigkeit) ist etwas schwer vorstellbar. Ich stelle mir das in etwa so vor wie Jürgen Habermas (er möge mir seine Ianspruchnahme an dieser Stelle verzeihen :-& ): Es muss ein gleicher, freier, herrschaftsloser Diskurs herrschen. Ziel ist eine kommunikative Verständigung der Diskutierenden. Aus dieser kommunikativen Verständigung leiten sich die Normen ab. Werden diese verletzt muss es abermals einen gleichen, freien, herrschaftslosen Diskurs bezüglich der Normverletzung und eventuellen Maßnahmen geben. Ziel ist abermals eine kommunikative Verständigung usw. Normen werden also nicht einfach von gewählten Repräsentanten gesetzt und durchgesetzt, sondern von allen Gesellschaftsmitgliedern. Normen entstehen durch kommunikative Verständigung, Sanktionen werden nach kommunikativer Verständigung durchgeführt.
Schwer zu markieren ist hier übrigens der Unterschied zur puren Basisdemokratie, die aber, soviel ich weiß, staatlich an die Mehrheitsentscheidung gebundene handelnde Organe nicht ausschliesst.

Zu 2) Zu welchen gesellschaftlichen Zuständen würde Anarchie als (dauerhafte) Gesellschaftsform führen? Anschlussfrage: Ist Anarchie als (dauerhafte) Gesellschaftsform möglich/anzustreben?

Mit „dauerhaft“ meine ich hier einen Zeitraum von mindestens ein paar Jahrzehnten und Friedenszeiten. Also Anarchie nicht als revolutionäres Element in einem Bürgerkrieg, sondern Anarchie als ähnlich etablierte und von der Mehrheit der Bevölkerung getragene (zumindest nicht offen bekämpfte) Staatsform wie es die repräsentative Demokratie heute ist.

Bei diesen Fragen nun kommt meine ganze Skepsis zum Tragen, denn ich glaube die gesellschaftlichen Zustände, zu denen Anarchie führen würde, würden direkt münden in Gesetzlosigkeit, in einer normenlosen Gesellschaft. Jenseits vieler anderer Schwierigkeiten dieser Staatsform (z.B. welche Wirtschaftsform lässt sich damit vereinbaren, dass es keinen Staat und keine Staatsführung gibt?) verstehe ich vor allem nicht, wie Normen im großen gesellschaftlichen Kontext praktisch durchgesetzt werden sollen. Zu den kleinen Gruppen komme ich ja noch in den Fragen 3 und 4, aber der gesellschaftliche Kontext würde sich ohne Staat und gewählte Repräsentanten, ohne Exekutive und Judikative die Normhüter sind, auflösen. Was ist, wenn in einem Streitfalle keine Einigung erzielt werden kann? Was ist, wenn keine kommunikative Verständigung der Beteiligten möglich ist? In unserer jetzigen verrechtlichten Welt ist die Beantwortung dieser Frage denkbar einfach: Rufe ich halt die Polizei, gehe ich halt vors Gericht, schreibe ich halt meinen Bundestagsabgeordneten an, mache ich halt Druck über Lobbyisten-Verbände usw., sprich (erste beiden Fälle) ich wende mich direkt an Exekutive und Judikative um den Normen Geltung zu verschaffen oder aber (letzte beiden Fälle) ich versuche die Normen selbst zu ändern, zu erwirken dass sie in Zukunft anders gesetzt werden.

Aber im Fall der Anarchie? Ich habe keine Zwangsinstanz mehr, an die ich mich wenden kann. Es gibt keine staatliche Gewalt mehr, der sich alle unterzuordnen haben. Weigert sich mein Gesprächspartner, mit mir zu einer Lösung zu kommen haben wir ein gewaltiges Problem. Wir können natürlich noch weitere Leute hinzuziehen und diese mitdiskutieren lassen, aber wir müssen uns einigen ohne auf eine staatliche Gewalt zurückzugreifen.
Na gut, wir nehmen mal ganz verwegen an, dass Menschen nicht immer einer Meinung sein werden, dass es Diskussionen gibt in denen Menschen einfach keinen Kompromiss finden und dass auch ein Anarchist nicht bestreiten würde, dass wir dann nach langer Diskussion in denen wir zu keinem Ergebnis gekommen sind abstimmen müssen: nun gut, wir stimmen ab, sagen wir, ganz basisdemokratisch, die Mehrheit entscheidet.
Tja, was aber wenn die Minderheit sich nun weigert das Abstimmungsergebnis anzuerkennen? Wir sind alle gleich, auch die Unterlegenen und es gibt keine übergeordnete Gewalt die mich als Unterlegenen (ich stelle mich mal einfach auf die Seite der Verlierer… ;-) ) zwingen kann die Mehrheitsentscheidung anzuerkennen. Wie, so frage ich mich, soll da eine gesellschaftliche Ordnung entstehen? Klar, wir können jetzt weiter diskutieren und erneut abstimmen, aber so lange auch nur Einer das Ergebnis nicht anerkennt können wir ihn nicht zwingen es zu tun. Das heißt, natürlich können wir ihn mit Gewalt zwingen, aber wohin soll das führen? Wohin soll das bei großen gesellschaftlichen Gruppierungen führen, die widerstreitende Meinungen zu einem bestimmten Sachverhalt haben und sich nicht auf einen Kompromiss einigen können? Also ich glaube, das führt schnurstracks ins Faustrecht. Gesellschaftliche Ordnung entsteht, dies ist eine traurige aber wahre Erkenntnis, nur dann wenn sie notfalls auch durch dafür legitimierte Organe durchgesetzt werden kann. Weigere ich mich zum Beispiel das Recht auf Eigentum meines Nachbarn anzuerkennen und stehle ihm seinen Wagen, so habe ich mit Konsequenzen zu rechnen. Also stehle ich den Wagen nicht (im Regelfalle wenigstens nicht… :-D ), und es ist gleichgültig ob ich sein Eigentumsrecht jetzt achte und es deshalb nicht tue oder es immer noch nicht achte und die Existenz der staatlichen Gewalten verfluche – ich tue es nicht und sei es nur aus purer Furcht vor Sanktion. Diese Furcht vor übergeordneter Sanktion und den dazugehörigen Sanktionieren fällt in der Anarchie flächendeckend weg – damit wären eigentlich alle Merkmale unseres Gemeinwesens (z.B. Recht auf Eigentum, keine Diskriminierung Andersdenkender, ich könnte hier eigentlich das gesamte Grundgesetz aufzählen) hinfällig. Sie sind alle rund um die Uhr antastbar und wenn sich 100 Leute einig sind, dass sie unantastbar sein sollen und sich auf Grund kommunikativer Verständigung daran halten, so ist dies bei ein paar Millionen Menschen für mich unvorstellbar. Und diese Problemstellung sorgt dafür, dass der Anarchie der Zwang anhaftet entweder im Bürgerkrieg unterzugehen oder dass sich neue Machtstrukturen ergeben, dass es Menschen gibt (wie Loyd zum Beispiel und wie den Krieger, wenn er denn kein anderer Mensch geworden wäre ;-)) , die sich zu neuen Herrschern aufzwingen würden. Das ist nämlich eine der entscheidensten Schwächen der Anarchie und dieses ganzen Konstrukts der rein kommunikativen Verständigung (neben der Frage wie eine Gesellschaft miteinander auf direktem Wege diskutieren soll ?-( ): sie ist nicht für drei Pfifferlinge wehrhaft, sie kann ihre Grundprinzipien nicht verteidigen. Ja, die Menschen werden sich in ihr nicht mal über ihre Grundprinzipien verständigen können und schon das würde für das Zugrundegehen dieser Staatsform (wobei es sich ja streng genommen und nach anarchistischer Lesart nur noch um eine "Gesellschaftsform" handelt) sorgen. Deshalb halte ich die Anarchie als Staatsform weder für dauerhaft möglich noch für anzustreben.

zu 3) Wenn das Gros der Mitglieder einer kleinen Gruppe ein Mitglied, dass sich normabweichend verhält, sanktioniert, ist dies dann Herrschaft (einer Führer-Liga) zu nennen?

4) Braucht es selbst in kleinen Gruppen immer Mitglieder die sanktionierend wirken (Exekutive), wenn andere Mitglieder gegen eine bestehende Norm verstoßen?

Nun ziehen wir das ganze herunter auf kleine Gruppen, sprechen also nicht mehr von der „Staatsform“ Anarchie sondern davon inwieweit Herrschaftlichkeit in kleineren Gruppen nötig ist. Am Besten unterscheiden wir dazu zwei Arten von Gruppen und zwar nichtanonyme und (teil-)anonyme Gruppen. Und ich glaube ich kann diese beiden Fragen, also 3 und 4, im Doppelpack beantworten. Es gibt eine politische Mikro-Theorie, welche sich „gouvernance without government“ (also "Herrschaft ohne Führer") nennt und die davon ausgeht, dass es in kleinen Gruppen (sagen wir mal 3 – 20 Leute, von mir jetzt willkürlich als „kleine Gruppe“ definiert) durchaus keine herrschaftlich verfasste exekutive Gewalt geben muss. Es muss keine Person und keine Gruppe geben die formell von allen oder der Mehrheit zum Chef/zur Chefin/zu Chefs gewählt werden und dem/der/denen sich alle automatisch zu unterwerfen haben. Das muss nicht mal thematisiert werden. ABER - und diese Einschränkung ist unheimlich wichtig: Es muss in einer Gruppe genügend Personen geben (einen hinreichenden Anteil von Personen), die einen prinzipiellen Standpunkt zu den Gruppennormen einnehmen und die bereit sind Sanktionsgewalt auszuüben, intrinsich motiviert, auch wenn sie der konkrete Fall nichts angeht (im Sinne von: sie persönlich nicht betrifft, ihnen keine Nachteile bringt) und die die Achtung der Gruppe haben. Würde also bei einem unserer Clubtreffen sich irgendein Mitglied in irgendeiner Weise so normabweichend verhalten, dass es die Gruppe oder Einzelne die davon betroffen sind mehr als unangenehm berührt, dann muss es Personen geben die einschreiten, auf die Normen hinweisen und sanktionieren. Das müssen übrigens keine grupenspezifischen Normen sein, sondern sind ganz überwiegend durch die jeweilige Kultur gestützte Normen wie z.B. höflicher Umgang miteinander oder freundliches Nicken in der ersten halben Stunde während man sich an den lange vermissten und geliebten österreichischen Dialekt gewöhnt
:-D
Und wie gesagt: Diese Personen müssen die Achtung der gesamten oder fast gesamten Gruppe haben (sonst ist ihre Sanktionsgewalt in Frage gestellt). Diese Achtung erhalten solche Personen meist wenn sie sich viele Verdienste um die Gruppe gemacht haben, wenn ihnen Durchsetzungsfähigkeit zugetraut wird sowie die Fähigkeit gerecht und gut und im Sinne der ganzen Gruppe zu handeln; wenn sie zudem regelmäßig präsent sind und ihre Meinung entschieden, aber mit der gebotenen Fairness im Sinne aller Beteiligten ausdrücken können und wenn sie intellektuell den Anderen Gruppenmitgliedern mindestens gleichwertig sind, kurz: solche Menschen sind meist (besonders bei sich freiwillig konstituierenden nichtanonymen Gruppen) absolut unverzichtbare integrale Gruppenbestandteile.
(Ehrlich gesagt überlege ich jetzt die ganze Zeit ob irgend jemand sauer wird, wenn ich hier wen raushebe, denn ich will niemanden verletzen. Ich hoffe aber mal das nicht, da ich mein Beispiel nur lieb meine und sage, um ein Beispiel zu geben: Razorback ist für O livro – zum Beispiel – eine solche Person auf die alle aufgezählten Merkmale zutreffen – ich sage auch gleich dazu, dass ich zum Beispiel eine solche Person nicht bin: schon weil ich oft in der Versenkung verschwinde und wochenlang nicht im Forum bin und vor z.B. Silentiums Bildung ein ums andere Mal ehrfürchtig erblasse :-& treffen auf mich längst nicht alle Merkmale zu)
Man bezeichnet diese Form der Normdurchsetzung als endogen(intern)-herrschaftslose Regeldurchsetzung. Diese klappt besonders gut in nichtanonymen Gruppen. Je weniger man sich allerdings kennt, je anonymer die Gruppe wird, desto mehr exogen(extern)-herrschaftliche Regeldurchsetzung durch formell legitimierte Herrscher braucht es. Denn je anonymer die Gruppe wird, desto weniger man sich also kennt, desto weniger ist es möglich dass eine Person/mehrere Personen sich die Achtung der Mehrheit der Gruppe verschafft. Dann braucht es formell legitimierte Herrscher mit Sanktionsgewalt.

Inwieweit man bezüglich des Punktes der endogen-herrschaftslosen Regeldurchsetzung von einem anarchistischen Prinzip sprechen kann, darüber bin ich mir jedoch noch unschlüssig. Formell kann man dies sicherlich. Aber je mehr Achtung die potentiellen Sanktionierer erhalten, desto mehr werden sich auch Machtstrukturen verfestigen. Dass heißt nicht, dass die Mächtigen ihre ihnen damit zugefallene Macht automatisch missbrauchen. Nein, nein, den Begriff der „Macht“ möchte ich hier ganz nüchtern nach der Weber-Definition (siehe oben) verstanden wissen. Aber eine Ordnung unter Gleichen, die das anarchistische Prinzip anstrebt, kann ich auch im Prinzip der endogen-herrschaftslosen Durchsetzung von Regeln nicht feststellen.

Durch die Achtung die den potentiellen Sanktionierern entgegenkommt werden Gruppenmitglieder nicht gleicher, eher im Gegenteil. Außerdem herrscht in Gruppen meist eine gewisse Dynamik, ein gewisser Wandel der auch mal Positionen – mindestens auf den mittleren und unteren Ebenen - durcheinanderwirbelt (Leute treten aus, Leute treten ein, manche Menschen „ändern“ sich gar). Wie Dirk schon sagte…


Man kann sich zwar einreden, dass alle UserInnen gleich sind, aber de facto sind sie es selten. Sie unterscheiden sich z.B. hinsichtlich ihrer Motive, ihren ureigenen Interessen, hier mitzuwirken und ihres Engagements


…so ist es in der Tat. Und diese Unterschiede sind von Beginn an da und werden durch sich verfestigende und ausdifferenzierende Machtstrukturen sowie durch Dynamik und Wandel eher reproduziert als nivelliert.

Daher halte ich die Vorstellung einer „Ordnung unter Gleichen“ für eine Illusion. Zugegeben für eine zauberhafte, betörende, anziehende, fesselnde Illusion. Aber das haben Trugbilder so an sich.

Beste Grüße,

Ham
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

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