Es ist erstaunlich, wie wenig wir uns mit der Dummheit beschäftigen. Akademisch gebildete Historiker*innen machen einen großen Bogen um sie, aus gutem Grund_ über n IQ anderer zu urteilen, ist ein anmaßend und zudem normativ Unterfangen. Was um Himmels Willen nimmst als Maßstab? Drum hält sich d populäre Geschichtsschreibung lieber an Anstrengungen, die eine Menschheit unternahm, um materiell und geistig voranzukommen. Eine Erfolgsgeschichte wäre ne Erzählung über die Zunahme an Kenntnis und Erfahrung, kognitiver Fähigkeiten, von allein gefunden und bewerkstelligten Lösungen, wenn s denn Probleme gab. Zu den dafür Angebeteten zählen Genies, Geistesblitzgiganten der Kunst und Wissenschaft, Heroen der Politik_ Geschichte als Erbauungsliteratur. Schon der Gedanke, dass der Lauf der Dinge und alles, was uns lieb und wichtig ist, von dummen Entscheidungen abhängen könnte, ist den meisten unerträglich.
In modernen Demokratien stimmen vernünftige Wähler über vernünftige Vorlagen ab. Vernünftige Individuen treffen vernünftige Produktions-, Dienstleistungs- und Kaufentscheidungen und halten so eine dem entsprechend Wirtschaftsform am Laufen_ den sich selbst regulierend Kapitalismus. Es gibt ne allgemeine Schulpflicht, Fördermaßnahmen für Blitzgneißer und individuell Nachhilfe für Inselbegabte. Medien widmen sich der täglich Aufklärung. Im Strafrecht ist die Zurechnungsfähigkeit primär maßgebend für n dran schuld sein oder nicht. Soweit s theoretisch Wunschprogramm.
Zusatzartikel_ für die pathologischen Ausprägungen der Dummheit, reale kognitive Beeinträchtigungen plus Wahnsinn sind dafür qualifiziert Einrichtungen zuständig. Wir fühlen uns also, so scheint es, vor Dummheit ziemlich sicher - halten uns für ach so vernünftig, wissen s offenbar besser. Es gilt die Unschuldsvermutung. Über Jahrhunderte, so die gängig Hypothese, hat die Dummheit insgesamt weder zu_noch abgenommen. Verändert haben sich lediglich bezeichnend Begriffe, vermutet Epizentren und Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden. Wer sie in Geschichte packt, verkneif sich d Arroganz. Es gilt nicht die Dummen der Vergangenheit ausfindig zu machen und zu beschreiben, sondern den Umgang früherer Gesellschaften mit der Dummheit im Allgemeinen.
Die alten Griechen hatten für das, was wir als dumm bezeichnen, kein Wort. Unkultiviert Bildungsferne galten bei ihnen als
apaideusia, die Unvernunft im Sinne eines fehlenden Urteilsvermögens hieß
aphronesis, naiv Unwissende galten als unmündig kindlich_
nepios. Beim Dichter Aristophanes taucht die Figur des Schwachsinnigen
moros auf - bei Aristoteles ein ungehobelt, exzessiv sturer Lümmel_ der
agroikos. Dieser lebte wie der heutige
agriculteur auf dem Land, also da, wo die feinen Manieren der Städter nie so recht ankommen wollen. Ein typisch Athener behandelte seinerzeit solche Leute zwar von oben herab, aber für dumm in unserem Sinne hielt er sie nicht.
Zudem benannten die Griechen noch den
idiotes. Dieser war nicht etwa ein Schwachkopf, nein_ diese Bedeutung drückte man dem Idioten erst im 19. Jh. aufs Aug. Er lässt sich am ehesten mit
Privatperson übersetzen, war von öffentlich politischen Angelegenheiten ausgeschlossen, nahm keine Ämter wahr, lebte und wirtschaftete für sich selbst. Im Militär war er einfach Soldat ohne Befehlsgewalt, im Handwerk ein Laie. Der Begriff an sich war ursprünglich nicht wertend. Für den griechischen Schriftsteller Plutarch jedoch bedeutete ein Leben als
idiotes gesellschaftliche und politische Minderwertigkeit. Der Idiot war für ihn das Gegenteil des Bürgers
polites - und dieser wiederum das Maß aller Dinge. Unterhalb des Idioten gab s in der Hierachie der attisch Demokratie nur noch Frauen und Sklaven.
Auch im frühchristlichen Mittelalter war Dummheit nicht im heutigen Sinn einer fehlenden intellektuellen Begabung relevant, sondern eine Frage von Tugend und Laster. Gott war das Maß aller Dinge, seine Werke unergründlich, aber stets weise. Dumm war, wer nicht nach Gottes Gebot lebte. «Seht, die Furcht vor dem Herrn, das ist Weisheit, das Meiden des Bösen ist Einsicht», heißt es im Alten Testament. So wurde der
idiotes zum Idealtypus des guten Gläubigen_ schlicht, kaum gebildet, Laie im kirchenrechtlichen Sinn, von Natur aus rechtschaffen. Nicht von ungefähr entstammt Jesus einer Handwerkerfamilie, waren seine Jünger Fischer und Zöllner, lebte man mit dem einfachen Volk, unter Armen und Kranken.
Wissen, Macht, Reichtum, Sünde und Dummheit gingen zuweilen ne seltsam Beziehung ein. Dies verdeutlicht so manche Persiflage.
Im Spätmittelalter hielt der niedere Klerus Narrenmessen und Narrenfeste ab, wurde das heidnische Spiel zur ritualisierten Flucht vor den Pflichten des bäuerlichen und klösterlichen Alltags, durch Rollentausch bestehend Hierarchie auf den Kopf gestellt. Einfache Subdiakone und Messdiener übernahmen den Part von Bischöfen und Priestern, wendeten die Riten ins Absurde, trieben Schabernack mit dem Weihwasser und parodierten die Heilige Schrift. Jeweils Mitte Januar fand die
Eselsmesse statt. Seit dem Altertum stand das namengebend Tier für den Phallus und die Fruchtbarkeit, die dementsprechend Feier war eine Art Karneval mit erotischen Elementen, bei der die Geistlichen Tierkostüme trugen und den Segen des Narrenbischofs mit Tierlauten quittierten.
«Die Kirche hat diese Unsitte nie gutgeheißen, im Gegenteil, sobald man erkannte, dass sie Unordnung stiftete, taten die Bischöfe ihr Möglichstes, um sie zu unterbinden», schrieb der französische Gelehrte Jean Baptiste Lucotte Du Tillot 1741 in seinen
Mémoires pour servir à l’histoire de la fête des foux. Mit Konzilsbeschlüssen, dem Verbot von Gaukleraufführungen und profanen Tänzen habe man versucht, dem Treiben beizukommen_ vergeblich. Erst im Zuge von Reformation und Gegenreformation verschwand diese Welt zusehends, aus welcher Dichter wie Rabelais noch im frühen 16. Jh. ihre Figuren entwickelten – mit Ironie und doppelt Boden, satirischen Seitenhieben und burlesken Anekdoten, immer im Bemühen, in einer Zeit zunehmender konfessioneller Polarisierung der Zensur und Bestrafung zu entgehen.
In der Frühen Neuzeit änderten sich die Dinge. Dummheit war nun nicht mehr durchwegs mit Gottlosigkeit identisch, frei herumlaufende Narren wurden zum Problem. Infolgedessen wurden in Europa vagabundierend Irre aus den Städten vertrieben_ unter anderem, indem man sie einfach auf Schiffe setzte und flussabwärts schickte. Man entwickelte laut Michel Foucault ein «kritisches Bewusstsein des Wahnsinns», drängte die «tragischen Gestalten» aus der Gesellschaft, ohne sie zu eliminieren. Gleichzeitig wurde die Dummheit neu codiert. Der Elsässer Jurist und Schriftsteller Sebastian Brant ist ein typisch Beispiel dieser Übergangsphase. Sein 1494 veröffentlichtes Werk
Das Narrenschiff stand einerseits noch in der christlichen Tradition der Dummheit als Laster. Gelehrte sind bei ihm überhebliche Narren, dazu verdammt, am End zu «Lucifer jnns hellenloch» zu stürzen. Auch Ketzer, Heiden, Gotteslästerer und Mörder sind unrettbar verloren. Gleichzeitig greift Brandt das Motiv der Schiffsreise als Lebenszyklus auf_ seit der Antike eine Metapher für des jeweilig Dichters Selbsterfahrung. Der Weg zur Weisheit führt bei ihm statt über d Frömmigkeit über seinen «fründ Vergilium», den römischen Dichter Vergil_ sprich über die Vernunft.
Als man begann, die menschliche Vernunft als erstrebenswert und gut zu erachten, änderte sich für d Dummheit einiges an bis dahin gewohnt Rahmenbedingung. So entwickelte sich im 16. Jh. eine neue Form des skeptischen Denkens, unter ihrem Deckmantel diverse Möglichkeiten subversiver Autonomie mit einem geradezu freundschaftlich Verhältnis zur Dummheit. 1511 publizierte Erasmus von Rotterdam sein
Lob der Torheit. Er lässt die Dummheit selbst zu Wort kommen: «Was auch immer der große Haufen von mir sagt, ich behaupte dennoch, aus eigener Macht Götter und Menschen erheitern zu können.» Es gebe ein Recht auf Dummheit, ja in vielen Lebenslagen sei sie wünschenswert und angebracht. «Ist Jungsein denn etwas anderes als Unbesonnenheit und Unvernunft? Schätzt man nicht gerade den Mangel an Verstand am meisten an jenem Alter? Hasst und verabscheut nicht jeder ein frühreifes Kind wie eine Missgeburt?» Keine Ehe ohne Unbesonnenheit, keine nochmalige Geburt mit ihren Schmerzen ohne Vergesslichkeit, keine neue Erkenntnis ohne Leidenschaft.
Wer von sich behauptet, in allen Dingen weise zu handeln, ist bereits entlarvt, ein
morosophos, ein «Töricht-Weiser». Das Einzige, was man erlangen könne, sei ein gewisser Grad an Selbsteinsicht. «Die Dummheit ist eine böse Eigenschaft», schrieb Michel de Montaigne in seinen Essays. «Aber sie nicht ertragen können, sich darüber aufregen und ärgern, ist eine Krankheit anderer Art, die der Dummheit nichts nachgibt und die gerade so unleidlich ist.» Der kluge Narr und der einfältige Weise – beide wurden im Zeitalter des Humanismus und der Aufklärung zu einem wiederkehrenden Motiv. Ob in Miguel de Cervantes
Don Quijote (1605–1615), Daniel Defoes
Robinson Crusoe (1719) oder Denis Diderots
Jacques le fataliste et son maître (1776)_ der Ungebildete und der Naturmensch können zu höherer Einsicht gelangen, während es die hohen Herrschaften mangels Selbstkritik nicht schaffen, sich ihrer eigenen Unwissenheit bewusst zu werden.
Hofnarren hielten Einzug_ diese, keineswegs dumm, hielten dem Adel mit Scharfsinn und Witz einen Spiegel vor. Monarchen konnten sich die intelligentesten dieser Zunft leisten, weil ihre Autorität durch die ständische Ordnung gesichert war. Nur wer die eigene Macht nicht für unumstößlich hielt, hatte mit derart gerissen Kritiker so seine Mühe.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums traten neben Fürsten neureiche Bürger auf den Plan, Herren_ allein kraft ihres Geldes. Ihnen wurde der Narr gefährlich. Eine Autorität, die sich primär auf Reichtümer und erworbenes Wissen stützt, ist angreifbar. Gleichzeitig rüttelten Philosophen im 18. Jh. wie nie zuvor am Dogma göttlicher Weisheit und Allmacht. Für sie waren nicht mehr Atheisten die Dummen und größten Sünder, hatten diese doch in der Regel eine Ethik. Für wirklich dumm befanden sie Devoten und blind Gottesfürchtige, die sich s eigene Denken versagten. Der katholische Priester Jean Meslier, der in den 1720ern im Geheimen an seinen tausende Seiten zählend
Mémoires schrieb, erklärte die Religionen und überhaupt alles, «was in der Welt als Gottesdienst und Andacht feilgeboten und praktiziert wird», als «Irrtum, Täuschung, Einbildung und Betrug». Damit geriet auch die durch Gottes Gnaden legitimierte Macht von König und Klerus unter Beschuss. Paul-Henri Thiry d’Holbach beschrieb in seinem 1766 unter Pseudonym erschienen Werk
Le christianisme dévoilé_ s entschleiert Christentum: «Keine gute Regierung kann sich auf einen despotischen Gott gründen; sie wird ihre Repräsentanten stets zu Tyrannen machen.»
Die Dummheit wurde für Aufklärer zum grundlegend Problem. Man attackierte einerseits Despoten, hatte jedoch andererseits auf die Frage, auf wen deren Macht im Anschluss übertragen werden sollte, keine schlüssig Antwort parat. Wie war ein republikanischer Staat zu organisieren, wenn man davon ausgehen musste, dass ein Großteil der Bürger unwissend, ja vielleicht sogar dumm war? «Um Menschen, um tugendhafte Staatsbürger zu bilden», so Holbach «muss man sie unterrichten, ihnen die Wahrheit zeigen, mit ihnen vernünftig reden, ihnen ihre Interessen sichtbar machen, sie lehren, sich selbst zu achten.» Das konnte Jahrhunderte dauern. Voltaire war noch skeptischer. Er hielt die Religion nach wie vor für wichtig_ Opium fürs Volk. Regieren solle eine Elite von Aufgeklärten.
Wer garantiert, dass Bildung gegen Dummheit hilft, sie nicht im Gegenteil erst fördert? «Der Mensch wird unwissend geboren: Er kommt aber nicht dumm auf die Welt und wird es auch nicht ohne Anstrengung», schrieb Claude-Adrien Helvétius in seinem Buch
Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung_ erschienen 1774, vier Jahre nach seinem Tod. Um dumm zu werden, so weit zu kommen, dass auch noch der natürliche Verstand im Keim erstickt werde, seien «Kunst und Methode» nötig. «Der Unterricht muss in uns Irrtümer über Irrtümer aufgehäuft haben; und durch vielfältige Lektüre müssen wir erst unsere Vorurteile vervielfältigt haben.» Helvétius ließ keinen Zweifel daran, dass die Art Erziehung im vorrevolutionären Frankreich an der Tagesordnung war. «Das gute Buch ist fast überall das verbotene Buch. Geist und Vernunft regen seine Veröffentlichung an, aber die Bigotterie wehrt sich; sie will das Universum beherrschen, also ist sie an der Ausbreitung der Dummheit interessiert.» Ist es demnach besser, unwissend zu bleiben, als von Mächtigen zur Dummheit erzogen zu werden?
Die Französische Revolution fegte derart Zweifel hinweg. Ziel der Jakobiner um Maximilien Robespierre, die nach 1793 den Ton angaben, war es, die Dummheit notfalls mit der Guillotine auszurotten. Sie beriefen sich auf Jean-Jacques Rousseau, laut dem der Gemeinwille _
volonté générale_ unfehlbar war und absolut galt. Nicht nur Royalisten und Aristokraten wurden ohne Zaudern hingerichtet, auch die ältere Generation skeptischer Philosophen und Staatsrechtler sowie ehemalige Weggefährten, die mit dem politischen Stil nicht mehr einverstanden waren, wurden vertrieben oder getötet. In Rousseaus
Contrat social gab es keine Ambivalenz, kein Zaudern, keinen Platz für Kritik. Er berief sich auf eine letztgültige «natürliche Ordnung», die zu einer politischen werden sollte. Alles an Individuellem fiel der Auslöschung anheim. Persönliche Interessen, die den Interessen des neuen Souveräns widersprachen, waren nicht nur unerwünscht, sondern eine Gefahr. Der Gesellschaftsvertrag forderte «die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes». Im Zweifelsfall solle man von der Gemeinschaft zu besagt Gemeinwillen gezwungen werden.
Was einem auf den ersten Blick radikal demokratisch und integrierend dünkt, war in Tat und Wahrheit auf den weißen Mann als staatstragenden Bürger zugeschnitten. Von Natur aus gebe es zwar keine Hierarchie, jeder Mensch sei gleich frei und dem gleichen Recht unterworfen, so Rousseau, der sich dezidiert gegen die Sklaverei aussprach. Hingegen gebe es natürliche Autoritäten, die Menschen aus Gründen des Selbsterhalts traditionell anerkennen würden. So gehorchten Kinder ihrem Vater, der als Familienoberhaupt kraft seiner Liebe zu ihrem Besten entscheide. Auch für die Frau sah Rousseau den natürlichen Platz nicht in der Politik. Sie solle sich weder mit Staatsangelegenheiten noch mit Wissenschaft beschäftigen, nur leichte Lektüre konsumieren und sich ganz den häuslichen Dingen widmen.
Bereits Erasmus von Rotterdam hatte in seinem
Lob der Torheit festgehalten, der Mann habe ein «Quentchen mehr an Vernunft» abbekommen, weil er «für staatliche Aufgaben bestimmt» sei. Ganz sicher war er sich der Sache aber nicht. In seiner Satire
Der Abt und die gelehrte Frau (1526) legte er Ersterem die Worte in den Mund: «Gebildet zu sein ist unweiblich.» Bücher würden den Frauen «viel von ihrem Verstand» rauben und sie hätten «ohnehin zu wenig». Darauf die Frau: «Wie viel ihr Männer habt, weiß ich nicht. Ich möchte jedenfalls das wenige, das ich habe, lieber für ordentliche Studien verwenden als für das sinnlose Hersagen von Gebeten (. . .) und das Leeren riesiger Humpen.» Die «Weltszene» verändere sich, es werde noch so weit kommen, «dass wir in den theologischen Schulen den Vorsitz führen und in den Kirchen predigen».
Die Weltszene machte allerdings noch länger keine Anstalten, sich zu verändern. Denis Diderot wandte sich noch über zweihundert Jahre später vergeblich gegen jene, denen «Phantasie und Mitgefühl» fehlten für das Schicksal der Frauen. «In fast allen Ländern», schrieb er 1772, «hat die Grausamkeit der bürgerlichen Gesetze sich mit der Grausamkeit der Natur gegen die Frauen verbündet. Sie werden behandelt wie schwachsinnige Kinder.» Tatsächlich empfahl Rousseau, die Mädchen bei der Erziehung ausschließlich auf ihre Funktion für die Vervollkommnung des Mannes vorzubereiten.
Im 19. Jh. wurde Bildung zu einem löblich Gut und auf s Strengste maßgeschneidert angeboten. Es galt, Mädchen vornehmlich auf angehend Mutter und Hausfrau zu trimmen, während man Buben aus gutbürgerlichen Familien auf ihre wirtschaftlichen, staatspolitischen und militärischen Aufgaben vorbereitete und den Rest an vielschichtig Nachwuchs zu Anstand, Fleiß und Genügsamkeit erzog. Nur die Bildung der Massen bringe die Gesellschaft voran, so die gängig Parole. Das neue bürgerliche Ideal der Vernunft verfestigt s Paradox. Einerseits wurde Dummheit zum selbstverschuldet Zustand. Jeder hatte ne reelle Chance gegen sie anzukämpfen und einen Beitrag in Sachen Schritt für d Menschheit zu leisten – für das, was man als Fortschritt bezeichnete und sich unter Voraussetzung gleichbleibenden Verlaufs zurück in d Zukunft dachte. Gleichzeitig gab s selbstverständlich jene, die sich immer schon für klüger hielten als alle anderen, fortan Frau und Herr Lehrer nannten.
«Madame, c’est la guerre!», schrieb Heinrich Heine 1827 in
Das Buch Le Grand. «Ich will Ihnen jetzt das ganze Räthsel lösen: Ich selbst bin zwar keiner von den Vernünftigen, aber ich habe mich zu dieser Parthey geschlagen, und seit 5588 Jahren führen wir Krieg mit den Narren.» Was er mit Humor nahm, wurde für andere bitterer Ernst_ um 1800 etablierten sich bedenklich Techniken, um Dummheit zu erkennen. Der Pfarrer und Philosoph Johann Caspar Lavater kreierte mit seiner
Physiognomik eine Art Wörterbuch der Natur, ein «göttliches Alphabet», wie er es nannte und schloss von den Gesichtszügen auf d Eigenschaften eines Menschen. «Ich frage alle Physiognomen, ob sie nicht einmal aus den Gesichtern auf Vornamen geschlossen haben», spottete Georg Christoph Lichtenberg_ allein, Lavaters Lehre blieb dennoch populär.
Etwas später ordnete der deutsche Anatom Franz Joseph Gall einzelnen Hirnarealen bestimmte Eigenschaften und Talente zu. Der Charakter, das Gemüt und die Intelligenz eines Menschen ergaben sich für Gall aus dem Zusammenspiel lokalisierbarer «Organe» im Gehirn, wobei sich _so die Theorie_ Anhaltspunkte für d jeweilige Ausprägung in der Schädelform manifestieren. Gall war ein eifriger Sammler, schrieb bereits 1798 im
Teutschen Merkur, dass er sich wünsche, dass «jede Art von Genius» ihm seinen Kopf vererbe. Von Schillers Schädel konnte er sich eine Totenmaske beschaffen, betreffend Goethe wandte er sich 1827 an den mit dessen Familie befreundeten Franz Brentano: «So beschwöre ich Sie, alle Umgebungen des einzigen Genies zu bestechen, dass wo möglich der Kopf in Natura der Welt aufbewahrt bleibe.»
Die Obsession mit dem Genie spiegelte sich in der der Dummheit. 1853-1854 erschien das vierbändige Monumentalwerk
Essai sur l’inégalité des races humaines des französischen Diplomaten und Schriftstellers Arthur de Gobineau. Sein Einfluss auf die Vorstellungen von höher_und minderwertigerem Leben sollte ein gewaltiger sein. Die allgemeine Verweichlichung, eine Verrohung der Sitten und fehlende religiöse Überzeugungen führten laut Gobineau zum Zerfall der Nationen. Grund dafür sei eine Vermischung der «Rassen», die Degeneration und Entartung mit sich bringe. An unterster Stelle stand für ihn die «schwarze Rasse»; sie gleiche den Tieren. Die «gelbe Rasse» tendiere zur Mittelmäßigkeit. Nur die «weiße Rasse» zeichne sich durch eine «immens überlegene Intelligenz» aus, stehe an der Spitze der Hierarchie, ihren Erhalt gelte es zu sichern. Wie die Rassenlehre propagierte auch die Kriminologie im 19. Jh. eine biologische IQ-Skala. Der italienische Arzt und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso schloss aufgrund bestimmter Körpermerkmale auf kognitive und moralische Defizite und teilte die Menschen verschiedenen «Entwicklungsstufen» zu. Die niederen welchen neigten angeblich zur Delinquenz. So wie Gall einst die Schädel von Genies vermessen hatte, verfuhr Lombroso mit jenen von hingerichteten Verbrechern. Den praktischen Wert seiner Lehre sah er darin, dass man die zivilisatorisch rückständigen «Verbrechertypen» erkennen könne, bevor sie ein Verbrechen begingen. Er war überzeugt: Der Verbrecher wird als Verbrecher geboren.
Mit der dem entsprechend Bibliothek im Background machte man sich um 1900 daran, den werten Gesellschaftskörper zu optimieren. Verschiedene Länder erließen für bestimmte soziale Gruppen Fortpflanzungsverbote und führten Zwangssterilisationen durch. Die
Eugenik _Lehre von der Verbesserung des menschlichen Erbguts_ war ne Wissenschaft und auf dem Vormarsch. Zwischen 1934 und 1945 verurteilten eigens dafür geschaffene Erbgesundheitsgerichte im «Dritten Reich» rund 400 000 Menschen wegen körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen, vererbbarer Krankheiten, falschen Lebenswandels oder Alkoholismus zu besagt gewaltsam medizinisch Eingriff. War der Mythos einer stetig zunehmend menschlichen Vernunft infolge dessen noch zu retten? Sind doch die Massen nicht s erste Mal als Brutstätten kollektiver Dummheit identifiziert worden. Im 1895 erschienen Werk des französischen Arztes Gustave Le Bon
Psychologie des foules heißt es: «In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.» Sigmund Freud sprach 1921 in dem Zusammenhang von einer «kollektiven Intelligenzhemmung».
Die Masse sei empfänglich für die hypnotischen Verführungen charismatischer Führerpersönlichkeiten und neige zu irrationalem und gewalttätigem Verhalten. Populismus und Propaganda im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs schienen das exemplarisch zu bestätigen. Elias Canetti beschrieb 1960 dieses Phänomen in seiner Abhandlung
Masse und Macht wie folgt_ Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspiele, sei die «Entladung»: «Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als gleiche fühlen.» Dem Publizist Vance Packard war auch die kommerzielle Propaganda nicht geheuer, so nannte er
die Werber 1957 «geheime Verführer». Zudem tauchte im 20.Jh., ähnlich wie bereits im Mittelalter, wieder das Motiv des dummen Übergelehrten auf. Der zerstreute Professor und der Fachidiot wurden zu unentbehrlichen Figuren der Populärkultur. Der Schriftsteller und Theaterkritiker Robert Musil brachte es 1937 in einem Vortrag folgendermaßen auf den Punkt_ Dummheit sei nicht ein Fehlen von Intelligenz, sondern das Ergebnis von Sinnverweigerung. Zudem wäre die Dummheit der eigentlich Intelligenten weitaus gefährlicher als jene der grundsätzlich Dummen. Bereits 1866 machte sich der Philosoph Johann Eduard Erdmann dazu so seine Gedanken. Seiner Meinung nach sehe der Dumme die Welt wie durch ein Guckloch, erkenne Dinge nur aus einem einzigen Blickwinkel. Wenn aber der «Umkreis der Ideen mit ihrem Zentrum zusammenfällt», der Radius demnach derart gen Null geht, dass eine zusätzliche Einschränkung nicht mehr möglich ist, dann habe man der Dummheit Kernfigur vor sich_ das eigene Ich.
Dieses Ich galt es in der Nachkriegszeit hinreichend flexibel zu halten. Dazu schwor man Beschäftigte nach dem Niedergang auf ein «lifelong learning» ein. Die Anforderungen an das Intelligenzprofil von Mitarbeitern änderten sich. Der IQ-Test, 1904 von Alfred Binet und Théodore Simon in einer ersten Variante entwickelt, wurde durch ausgefeilte psychodiagnostische Verfahren abgelöst, in denen man die vielfältigen Arten von kognitiv, emotional, praktisch und sozialer Intelligenz zu erfassen versuchte. Zunächst im militärisch Dunstkreis erprobt, boomten in den 1960er und 70ern professionelle Begutachtungsbüros_ sogenannte
Assessment Centers. Sie durchleuchteten im Auftrag von Firmen Kandidaten für Kaderposten und stellten sicher, dass Entscheidungsträger versehentlich keinen einstellten, der ihrer Ansicht nach Dummheiten macht.
Auch im 21. Jahrhundert sind die Dummen in der Regel wenn möglich die anderen. Oder wie Gustave Flaubert in den 1870er Jahren notierte, als er an seinem Roman
Bouvard und Pécuchet arbeitete und ne Phrasensammlung anlegte, die 1911 als
Wörterbuch der Gemeinplätze publiziert wurde_ «Dummköpfe: Denken anders als man selbst.» Solange wir also nicht gleichgeschaltet sind, bleibt die Dummheit eine beunruhigend welche, findet überall nen Wirt, und sei s im Weißen Haus.
Die Dummheit sei ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit, schrieb der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer 1943 im Gefängnis. Gegen das Böse lasse sich protestieren_ «Gegen die Dummheit sind wir wehrlos.» Auch der Ökonom Carlo Cipolla hielt 1976 in seinem teilweise nicht und doch ernst gemeint Büchlein
The Basic Laws of Human Stupidity fest, die ach so Gescheiten unterschätzten notorisch die zerstörerische Macht der Dummheit. Nicht der Bandit, der anderen schade, um selbst etwas zu gewinnen, sei der gefährlichste Typus des Menschen, sondern der Dumme_ er richte nur Schaden an, ohne jeglichen Gewinn. Seinesgleichen begegne man in allen Schichten, sämtlichen Berufen, in der Stadt und auf dem Land, unter einfach Gemüt ebenso wie in Gesellschaft von Professoren und Nobelpreisträgern. Laut John W. Campbell jr. und
Murphy's Law geht alles was schief gehen kann, infolgedessen schief. Es empfiehlt sich daher, an Institutionen zu basteln und eine Gesellschaft zu kultivieren, in der man nicht weiterhin tagtäglich Gefahr läuft, an Dummheit zu sterben.
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