Wer braucht schon Programmatik

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Hamburger
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Wer braucht schon Programmatik

Beitragvon Hamburger » 09.03.2004, 18:29

Hallo zusammen,

nach relativ langer Abstinenz eröffne ich nun eine - hoffentlich lange - Phase der Anwesenheit mit einigen wenigen Gedanken, die zunächst vom, so möchte ich es nennen, "Personenkult in der Politik" ausgehen. Vor 9 Tagen haben die Hamburgerinnen und Hamburger per Bürgerschaftswahl eine absolute CDU-Mehrheit herbeigeführt. Nicht das mich dieses Ergebnis sonderlich befriedigt hätte, aber fast noch mehr stört mich, wie es zustande kam. Was ich hier erlebt habe war ein von CDU-Seite völlig entpolitisierter Wahlkampf. Unser alter und neuer Bürgermeister Ole von Beust wartete mit Wahlplakaten auf, die sein Antlitz wahlweise mit den Worten "Konsequent", "Fair" und "Engagiert" kombinierten. Oder aber man erblickte im Hintergrund Alster und Michel und neben Ole von Beusts Oberkörper stand, na was?: "Michel, Alster, Ole."
Nun sind Wahlplakate noch nie Hort einer differnzierten politischen Auseinandersetzung gewesen, wie auch? (auch wenn die meisten anderen Parteien es immerhin versuchten) Aber auch in den Diskussionsrunden hiess es immer wieder und dauerhaft: "Unser Bürgermeister ist beliebt, er hat 55 % Zustimmung." Oder: "Unser Bürgermeister ist der beliebteste CDU-Spitzenpolitiker, den es je in Hamburg gab." Oder:"Ole von Beust ist symphatisch. Die Leute mögen Ole von Beust."
Laut Umfragen (u.a. Infratest Dimap, Forsa) hat ein Grossteil der Wähler Ole von Beust denn auch gewählt, weil er so symphatisch ist. Nun frage ich mich: Was hat das alles noch mit Politik zu tun?
Natürlich weiß ich um die Schlagwörter "Mediengesellschaft", "Politikverdrossenheit" etc, aber dieses Beispiel bewog mich dazu in Politik im nächsten Semester ein Seminar namens "Das politische System der Schweiz" zu besuchen.

Meine naive Hoffnung: In einer Demokratie mit mehr direkten Elementen ist bestimmt alles viel besser. Die Bürger haben mehr politische Verantwortung, interessieren sich folglich mehr für Politik - und halten eine Wahl nicht hauptsächlich für einen Schönheitswettbewerb bzw. bewerten bei ihrer Entscheidung eine gesamte Legislaturperiode und nicht nur eine Einzelentscheidung. (Schill-Rauswurf)

Bin ich da auf dem Holzweg?

MFG,

Mirko
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Silentium
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Re: Wer braucht schon Programmatik

Beitragvon Silentium » 09.03.2004, 19:44

Hallo Hamburger!

Kurzer Du-Bist-Nicht-allein-Trost?

Hier möge kurz zu berichten sein, dass die FPÖ, die in sämtlichen Bundesländern am ersterben ist, am Sonntag im schönen Bundesland Kärnten, wo Herr Bin-schon-weg-bin-schon-wieder-da-Haider wahlkämpfte, sogar noch ein halbes Prozentpünktchen dazugewann und Haider deshalb ziemlich sicher noch einmal Landeshäuptling wird- obwohl er eher in die hier in letzter Zeit viel diskutierte forensische Abteilung gehören würde. Der Wähler ist doof, Leute, das lässt sich akkut nicht ändern. Man wählt, wer oder was sympathisch erscheint- in Kärnten wenigstens.
Ein Erlebniss, das ich vor zwei Jahren mit einer Bekannten hatte:
"Haider? Is' des der Fesche?"- ernst gemeint!

Und noch eine Nachricht aus Österreich: Es gab da doch glatt bei unserem Bundespräsidentenwahlkampf ärger: weil nämlich beide den Slogan "Politik braucht Gewissen" auf ihren Plakaten haben wollte. Tja, da sieht man sehr schön, wie viel Aussage in so was steckt.

(Aber, immerhin: jetzt sind in Ö in sämtlichen Bundesländern im Landtag vertreten! *rechen*- wenn das so weitergeht, haben sie in ca. zwanzig Jahren eine Absolute Mehrheit.... *sagtjanichtsichbrauchemeineillusionen*
Und die liebe ÖVP hat sich in Kärnten halbiert und in Salzburg den Landeshäupling verloren)

Noch-Nicht-Wahlberechtigt-Silentium
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: Wer braucht schon Programmatik

Beitragvon Flocke » 09.03.2004, 21:53

@Hamburger
...hat ein Grossteil der Wähler Ole von Beust denn auch gewählt, weil er so symphatisch ist. Nun frage ich mich: Was hat das alles noch mit Politik zu tun?


Das hat sicher nicht mehr direkt was mit Politik zu tun, aber Programme/Parteien brauchen meist ein Zugpferd. Jemanden als Aushängeschild, der die Wähler anspricht usw. Der Frontmann ist in einer Partei doch selten der, der die Fäden zieht, das machen doch die Ausschüsse usw. im Hintergrund.
Denke mal auch, das hängt ein wenig auch davon ab, auf welcher Ebene sich das ganze abspielt. Lokalpolitisch ist es sicher kein Beinbruch, Symphatiewähler zu sein, auf Bundesebene ist das nicht so drin.

Kenne da ein schönes Beispiel aus meiner (leider ehemaligen) Heimatstadt. Die ist seit einer der ersten freien Wahlen nach der Wende von einem "Bürgerinitiativen"-Bürgermeister regiert und der Kerl kommt immer wieder ran. Einfach, weil er was tut für die Stadt und die Leute merken das. Und sie honorieren es entsprechend. Und der einzige Wahlkampfslogan ist idR ein Plakat mit seinem Kopf und der Aufschrift "Für unsere Stadt". Seltsamerweise kommt keine der großen Parteien dagegen an.
Kann leider nicht einschätzen, wie gut oder schlecht OvB für Hamburg ist, so was merkt man ja nur vor Ort...


@Silentium
Der Wähler ist doof, Leute, das lässt sich akkut nicht ändern. Man wählt, wer oder was sympathisch erscheint- in Kärnten wenigstens.


Ich würde nicht sagen, dass Wähler grundsätzlich doof sind, denke eher, sie wählen nach Symphatie, weil sie sich sagen, es ist ja sowieso egal, wer an der Macht ist, und wenn wir schon leiden müssen, dann wenigstens unter jemandem mit einem gewinnenden Lächeln... ;-)

Was die Wahlen allgemein angeht, hatten wir's im Osten wohl einfacher. Da gab's einfach nichts zu wählen. :-)) Kann mich ganz dunkel noch an Wahlplakate für die Quotenparteien (Bauern, Frauen und Liberale) hier und da erinnern, die natürlich hinter denen für die SED einfach nicht wahrnehmbar waren, aber was soll's... Heutzutage ist die Auswahl eben größer, aber das macht es auch nicht besser/leichter.

...und halten eine Wahl nicht hauptsächlich für einen Schönheitswettbewerb bzw. bewerten bei ihrer Entscheidung eine gesamte Legislaturperiode


Na ja, das ist auch so ein zweischneidiges Schwert. Was, wenn z.B. Programme aufgestellt werden, deren positive Effekte erst nach Ende einer Legislaturperiode greifen, die Leute aber mit den momentanen Auswirkungen unzufrieden sind? Dann wählen sie das nächste Mal die Opposition, die Programme greifen und die neue Regierung streicht das Lob dafür ein... Ist das besser?

Aber ich begebe mich hier auf ziemlich dünnes Eis, politische Diskussionen mit Politikstudenten... und das als Mensch mit einem ziemlich ausgeprägtem Gerechtigkeitsgefühl (und daher unpolitisch, um nicht durchzudrehen)

Trotzdem schönen Abend noch und tröstende Grüße in den Norden
Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

razorback
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Re: Wer braucht schon Programmatik

Beitragvon razorback » 09.03.2004, 22:17

Ich glaube, Hamburger, ich muss Deine Erwartungen in Bezug auf die Schweiz ein wenig dämpfen. Einer meiner besten Freunde lebt dort (er ist aber Deutscher). Da Du Deine Hoffnung auf das Politikseminar setzt erwähne ich noch, dass er gerade an seinem Doktor in Soziologie bastelt, also vom Wissenschaftlichen her einen ähnlichen Blick hat wie Du. Einerseits ist er von vielen Aspekten des politischen Systems dort fasziniert ("einziger funktionierender Sozialismus Europas" :-D ), andererseits führt das Konsenssystem und die fast völlige Abwesenheit von Opposition zu zutiefst verkrusteten und verfilzten Strukturen.

Was Du für Hamburg beschreibst ist eigentlich wenig erstaunlich. Ich bin mittelfristig pessimistisch, was die Möglichkeit eines im 17. Jahrhundert eingeführten politischen Systems betrifft, in einer Mediengesellschaft wie der unseren zu überleben.

Aber wenn die Diktatoren dann wenigstens fesch sind.. :-|
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You


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