Auf, auf die weiße Insel der Freiheit!

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Pentzw
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Auf, auf die weiße Insel der Freiheit!

Beitragvon Pentzw » 23.04.2020, 11:42

In grauer Vorzeit explodierte ein Vulkan und spie einen Berg voll Schwefel aus, so daß man später die aus Basalt und Schwefel bestehende hartgewordene Vulkaninsel abschürfte und verarbeitete, indem man diese Substanzen auf kleine Holzleistchen kopfartig setzte und sie in alle Welt als Streichhölzer verkaufte, bis andere auch auf diese Idee kamen und andere Untensilien diese Funktion übernahmen, so daß es sich nicht mehr lohnte für die Einwohner. Der Tourismus gewährte ein besseres Leben und zum Zweck der Attraktion und staunenden Ergötzung hinterließ man noch einen kleinen Hügel aus gift-grünen Magma-Gestein. Von der naheanbei liegenden größtenteils weißen Insel, Santorin, konnte der Restbestand dieser Satelliteninsel besichtigt werden, die ehemals die Lebensgrundlage der Bewohner hier gesichert, gebildet und ausgemacht hatte.

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Aber in diesen Tagen sind mittlerweile so viele Menschen auf die weiße Insel geströmt, daß kaum mehr Platz für die Einheimischen und für die neu Hinzugekommenen besteht. Man findet kaum Ausweichmöglichkeiten, vielmehr können sie nicht weg von hier, werden auch dabei nicht von den umliegenden Bewohnern oder von denjenigen unterstützt, die ein kleines bißchen weiter weg wohnen und mit der Ursache des Flüchtlingsstroms in Saus und Braus, in Gold und Silber, davon in Hülle und Fülle und mit allen technischen Schikanen und Schnicknack bewehrt ein luxuröses, ausschweifendes, sattes Leben führen können. Diese weiße Insel ist nun einmal als Markstein und Ziel von den Reichen erachtet, fixiert und festgelegt worden, damit die Ärmeren nunmehr unaufhaltsam darauf „zuschwemmen“, flüchten, dahingedrängt reisen können, damit sich die anderen nicht bedroht fühlen in ihrem Reichtum, ihren Räumen, ihrer bunt bestückten Umwelt, die sie partout nicht teilen wollen - vielleicht auch zu recht, denn der Mensch braucht einen gewissen Freiraum, wenn er es nicht anders kennt, gelernt und erfahren hat. Bildet sich eine dichte Besiedlung zu rasch auf, dann entstehen Spannungen, Aggressionen, Neid, Missgunst, Einschränkung und Ausgrenzung. Eine dichter werdende Besiedlung kann nur sehr langsam vonstatten gehen, wobei sie nicht zu stoppen sein wird, solange die Menschen auf „wachset, gedeihet und vermehret Euch“ machen werden. Aber hier auf dieser weißen Insel haben die Armen zunächst einmal ein Refugium, eine Anlauf- und Verharrstelle, bevor den Reichen etwas besseres wird einfallen, wohin man jene schicken, aussiedeln und versetzen kann.

*

Die Flüchtlinge, die Vertriebenen, die Herankommenden fühlten sich bedrängt, blockiert, eingeengt auf den als eng empfundenen Räumen, Böden und Umständen ihres Ursprungslandes durch den sich steigernden Bevölkerungswachstum oder den Folgen des entstehenden Klimawandels oder der Austrocknung der Flüsse durch die zu Effektivitätszwecken gemachten Dämme und sind bis auf diese weiße Insel vorgedrungen oder verdrängt worden und es ist eine Stauung, eine Stagnation, ein Verharren hier entstanden, weil sie nicht weiter können oder nicht wollen oder dazu gedrängt werden, aber gewiss nicht hinter sich eine Perspektive sehen.
Aber auch dieser Raum der Insel wird immer enger und enger für die Menschen.
Für die Einheimischen der weißen Insel nun aber ist es absehbar, daß die Zugewanderten bald sogar auf die Vulkaninsel ausweichen werden. Was das zu bedeuten, nach sich ziehen und hervorrufen könnte, ist den Eingeweihten, den Vorausschauenden, den Auf-Sicherheit-Bedachten nur zu bewußt. Von daher versuchen sie zwar, die vielen Menschen daran zu hindern, auf diese Schwefelinsel zu gelangen, wobei es für jeden ein Leichtes ist, kann man doch schier die paar Meter hinüberwaten, schwimmen und sich hangeln, vor allem bei sich umgreifendem, weniger ruhigen Wellengang, seicht genug ist es – sie drängen, der letzte Zipfel der Erde muß von ihnen betreten werden, niemand wird sie davon abhalten können, es muss so sein!
Zwar werden vorsorglich um die Vulkaninsel Seile, Beschränkungsbänder, alle möglichen Barrieren gespannt, aufgebaut und getan, was aber die Leute letztlich nur mehr noch anspornt, dort hinzukommen und was Adam und Eva machten mit der Verbotenen Frucht, tun ihre Kinder ihnen schließlich nach. Eines Nachts ergreifen einige Dutzende von jungen, besonders hitzigen Köpfen die Gelegenheit und waten dort hinüber, in der Hoffnung, etwas mehr Raum, Ruhe und Entspannung von dem turbulenten Trubel der vielen anderen „Leidenden“, Getriebenen, Freiheitskämpfern, die schier schon jeden Quadratzentimeter besetzt haben, zu ergattern und auch aus einem blinden Willen wird dieser Expansions-, Ausdehnungs-, Flucht- und Vertreibungsdrang des „vernunftbegabten Wesen Mensch“ zur Ursache ihres Handelns. Dazu nehmen sie Kocher mit, die ihnen zwar von einigen aufgestellten Sicherheitsleuten abgenommen werden können, denn dies ist das schlimmste aller Dinge, die sie tun können, wie die Vorausblickenden, Einheimischen und Klugen nur zu gut wissen, aber es gelingt dies nicht bei allen auf diese Insel Flüchtenden, daß man sie dieser gefährlichen Dinge entledigt. Nur auch ein Feuerzeug, geschweige denn ein Streichhölzchen ist die Lunte für das Dynamit, der Funke fürs Öl, das herunterbrennende Licht fürs trockene Stroh, auf dem diese Lemminge stehen, die Menschen können oder wollen es nicht wissen, erst erfahren müssen sie, in welcher Gefahr sie schweben – trotz des Geschreis all der Einheimischen, Sicherheitsleuten und Polizisten und außerdem, wer kann es ihnen allen letztlich auch vermitteln bei dieser babylonischen Sprachenvermischung, schließlich sprechen die Angekommenen manchen Dialekt, den die besten, breitaufgestelltesten und sprachgewandtesten Übersetzer, Vermittler und Gutwilligen nicht verstehen und vermitteln können. Es gibt in diesem Durcheinander einer sich ansammelnden Menschenmenge immer welche, die nicht erreichbar sind und das tun, was alle tun müssen und das tun sie schließlich auch: sie strömen einfach auf diese Vulkaninsel, weil – eben darum!

*

Nacht ist es. Es wird kalt. Die Menschen stehen zwar dicht gedrängt zusammen, doch wärmt das auch nicht sehr. Man spiel Gitarre, Congas, Rasseln, Kastagnetten und andere exotische Instrumente erklingen, man singt und tanzt und diese Geräusche verhallten in der schwarzen Weite des ägäischen Raums, in dem giftgrüne hohe Wellen schlagen im Gegensatz zu den tiefblauen des Tages, diesem so satten dichtem Blau. Wenn jetzt hier auf dem Hügel einer aufgrund bibbernder Kälte ein Feuer entzündet, dann geht der Schwefel in gelbem Licht auf und Flammen werdebn lichterloh brennen...
...Und die Menschen stampfen auf, halten sich fest, tanzen, singen und spielen und jemand möchte das Licht des Friedens entzünden, um den Lebenswillen des Menschen, den Drang zur Ausdehnung über diese ganze Erde zu feiern.
„Freiheit! Freiheit!"
„Frieden, Frieden!“
„Wir wollen essen, weil wir hungrig sind!“
Und immer wieder und am meisten und am lautstärksten „Freiheit!“

An der Hand hält ein Vater sein Kind. Oder soll man besser sagen, der Junge hält sich krampfhaft an einer Hand des Vaters fest? Denn es ist ihm mulmig zumute. Es ist Nacht. Das Meer ist weit, weiter als sonst, weil es dunkel ist und nirgendwo am Horizont Berge, Erhebungen, andere Inseln zu sehen sind. Die Aussicht gleicht der ins Nichts.
Es hält sich fast krampfhaft fest.
Zuhause geblieben sind die Geschwister, die Mutter, die Oma, der Opa, die ganze weitere Familie. Er wurde von seinem Vater mitgenommen. Sie wollten ihr Glück versuchen. Er wurde auserwählt. Die anderen hatten im wortwörtlichem Sinne das Nachsehen. Er liebte die unheimliche Bangigkeit der Ungewissheit ihres Aufbruchs.
Nunmehr aber war ihm doch ziemlich unheimlich zumute. Es ist nach Monaten ihres Aufbruchs, diese waren sehr beschwerlich gewesen, nicht genug, zumindest nicht sättigend genug zu Essen, auch das Trinken war eher knapp bemessen. Und die unwirklichen Unterkünfte, das Schreien der anderen in der Nacht, wenn man schlafen sollte oder man gerade eingeschlafen war. Das zehrte mit Zeit nicht wenig.
Und momentan war es doppelt unangenehm.
Wenn es denn eine Steigerung gäbe.
Wohl ist er dazu erzogen worden, dem Vater mindestens Gehorsam zu leisten, das heißt, nicht zu maulen, nicht zu quengeln und lamentieren. Auch, weil der Vater mehr als die Mutter ein Vorbild ist. Aber die Strapazen setzten ihm derart zu, daß er sich oft dabei ertappt, ungewollt zu jammern und dies in letzter Zeit so oft, daß er vom Vater Geständnisse eingeheimscht hat.
„Wie lange wollen wir noch herumirren?“
„Mein Sohn!“, mittlerweile ist der Vater schon so erweicht worden, wohl, weil er es selbst schon so weit ist, Mitleid mit dem Sohn zu empfinden.
„Ich verspreche Dir, daß sich bald alles ändern wird.“ Anlaß dazu? Immerhin hatten sie es bis zu einem Zipfel des gelobten Landes, Kontinents, Erdflecken „Europa“ geschafft und die Freiheit schien zum Greifen nahe. Das weiß jedoch nur der Vater. Dieser weißt naturgemäß am meisten. Seinem Sohn dies glaubhaft, begreiflich und eingängig zu machen, kostet ihn mittlerweile sehr viel Energie, Energie, die er für den Weg, die Strapazen und seinen Willen braucht, eigentlich. Er unterdrückt jedoch gegenüber dem Sohn Missbilligung, Strafandrohung, Zurechtweisung. Stattdessen sprüht er vor Hoffnung, Zuversicht und Aussicht auf radikale Änderung nur so über. Er spielt es fast mehr, als er noch daran glaubte Auch das kostet sehr viel Energie.
Überhaupt befinden sie sich in einem Dauer-Spar-Modus, ständig darauf bedacht, nicht zu viel von der kostbaren Energie zu verschwenden. Wer weiß, wozu sie noch zu gebrauchen ist? Und wenn man selbst keine Energie mehr hat, um sich essen, trinken und Kleidung zu holen, ja sich sogar in sein Schlafkoje zu begeben, sich an- und auszuziehen, was dann? Was war dann noch übrig vom Leben? War da noch Leben?
Dann schweigt der Sohn wieder seit einiger Zeit.
Dann bricht es aber wieder aus dem Jungen hervor: „Wann?“
„Was?“
„Wann hat das Laufen, Wandern, Suchen ein Ende?“
„Bald!“ In einem recht mageren Tonfall ausgestoßen. Aber da sich die Gesichtszüge des Vaters verbissen verzogen, wagt der Sohn nicht weiter zu insistieren, darauf zu bestehen und zu beharren.
Und so gehen sie wieder weiter. Waten durch das Wasser, das heute erstaunlich still ist.
Dem Vater gehen Erlebnisse mit seinem eigenen Vater durch den Kopf. Wie er auf den anderen, den Nachbarn, den Andersgläubiger schimpfte. Jener zieh ihre Familie, daß sie immer mehr und ununterbrochen Kinder in die Welt setzten. „Wachset und vermehret Euch!“, so steht es geschrieben, konterte der Vater. Der andere sagte: „Wie die Tiere, was?“
Sieht es nicht so aus, als ob er recht gehabt hat, auch damit, daß die Erde nicht so viele Menschen verträgt, beherr- , befraubergen und ernähren kann? Daß der Erdball rund und begrenzt ist und nicht beliebig mit Menschen gefüllt werden kann, sonst würde es immer mehr Konflikte, Verteilungskämpfe und Kriege auf diesem geben? Aber sein eigener Vater hat auch darüber nur gelacht und sagt: „Wir folgen dem Wort des Herrn. Wir haben keine Angst vor der Zukunft. Der Herr wird uns immer leiten, führen und das Richtige tun lassen?“
Des Vaters Stirn runzelt sich jetzt.
Ist das recht? Scheint es nicht jetzt so zu sein, daß kaum mehr Platz auf der Erde ist für ihre Nachkommen, Kinder und Nachzügler?
Und sie gehen weiter, Richtung kleiner, giftgrüner, leicht ätzend riechender Insel, die vor der großen, schönen und weiten Insel liegt, auf dem so viel Verheißung gelegen ist, als sie sich ihren Weg mit einem wackligen, dichtbevölkerten Schlauchboot gebahnt hatten. Das gelobte Land, ja! Eine Einbahnstraße?
Zweifel gräuseln um so mehr des Vaters Stirn.
Bis sie nun auf dieser Insel gelandet sind.
Ist das der Wendepunkt, der Durchbruch, die Erlösung?
Vielleicht, so könnte man sagen, vielleicht ist es dies. Nur wissen alle Beteiligten davon nicht, würden auch nicht dazu kommen, davon berichten zu können, wie man in einem Märchen, einer Erzählung, einer Anekdote, die Wende der Geschichte, der Handlung, des Geschehens breit ausholend in die Strecke dehnte. Nein, das würde sie nicht können, so zu berichten – was sie hinwiederum aber auch nicht wissen. Weil gerne hätten sie es getan, einmal, als alles überstanden ist, sein dürfte. Aber nein! Aber nein, keiner weiß es.
Denn es geschieht, als es eben dann jetzt geschieht.

*

„Wohin geht unser Weg? – Immer nach Hause – schon, aber am Ende ins Licht.“

Copyright Werner Pentz

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