Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

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Metägo
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Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Beitragvon Metägo » 06.10.2004, 23:21

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

So, ich hoffe es gibt ein paar Russophilen in diesem Forum.
Zurzeit wird bei uns in Aachen vom Theater aus eine Lesung der Brüder Karamasow veranstaltet ("Die Brüder Karamasow in 35 Wochen", also 35 Lesungen).
Das gibt mir Anlass und Motivation, mich mal an einige - wie ich hoffe - Interessierte zu wenden.
Obwohl ich hier unter "Rezensionen" schreibe, wage mich noch nicht an eine solche zu diesem Buch heran; ich wollte ein wenig Inhalt und ein paar Themenkomplexe ausführen und hoffe auf ein paar Reaktionen oder Anregung zur "Lektüre", was bei diesem Buch eine begrifflich absolute Untertreibung ist.

Das Buch ist das letzte Werk und der Abschluss der "großen" Romane Dostojewskijs. Es bildet die Kulmination und gleichsam Zusammenfassung seiner philosophischen Überlegungen, seines dichterischen Schaffens.

Zum Inhalt:

Fjodor Pawlowitsch Karamasow
ist ein Trunkenbold, Schürzenjäger, linkischer Draufgänger, kurz: ein "Hanswurst", wie er sich auch selbst zu nennen pflegt.
Er gilt als verantwortungsloser, verkommener Alkoholiker (keine Besonderheit im damaligen - leider auch heutigen - Russland).
Er ver- und entführt zwei Aristokratentöchter und bemächtigt sich deren geldlichem Besitz.
Mit der ersten zeugt er den Sohn Dmitrij, mit der zweiten die Söhne Iwan und Alexej.

Die drei Söhne wachsen in völlig unterschiedlichen Verhältnissen, fern von ihrem Vater, auf und werden ebenso unterschiedliche Lebenswege beschreiten; Dmitrij, der erste Sohn Pawlowitschs, wird, wie alle Söhne, vom Vater nicht nur vernachlässigt, sondern mitunter gar "vergessen". Der Hausdiener Grigorij nimmt sich seiner an.
Iwan, der zweite Sohn, genießt durch glückliche Umstände eine elitäre Erziehung außer Haus.
Alexej, der dritte Sohn und "Held" des Romans, wächst in einer durch menschliche (weibliche) Wärme geprägten Umgebung auf.
Dmitrijs erwachsenes Dasein ist bestimmt durch ein zwiespältiges Wesen von gleichzeitig innerer Leere und, ich möchte sagen, tiefer Empfindsamkeit (gespiegelt in seiner "aufbrausenden Art").
Iwan ist Intellektueller, Universalgelehrter, geistige Elite, "Nihilist".
Alexej - ja, Alexej... ich versuche es mit den äußeren Umständen zu beschreiben:
Alexej, mit Kosenamen Aljoscha, wird Novize im Kloster. In seiner Kindheit wird er beschrieben als verschämter (im Sinne von: schamhaft, würdebewußt) und ruhiger, zurückgezogener, jedoch nicht schüchterner Junge. Trotz seiner Andersartigkeit ist er unter den vergleichsweise rauhen, schamlosen Jungen stets geachtet, niemals verhöhnt.
Gleichwohl er seine Mutter nach dem dritten Lebensjahr verloren hat, erinnert er sich an sie, sieht sie stets vor sich.


Dmitiij, der als Lebemann, Offizier, Degradierter, Duellant, sein Dasein fristet, fordert in finanzieller Not seinen Vater um Geld an. Zu naher Zeit findet auch Iwan sich auf dem Gut seines Vaters ein und steht sich mit diesem, so scheint es der Öffentlichkeit, recht gut.

Bald entfacht, wie könnte es anders sein, eine Frau Zwiespalt; und zwar zwischen Dmitrij und seinem Vater. Fjodor Pawlowitsch ist wie verrückt und über die Ohren verliebt. Sein Trumpf ist sein vermeintliches Kapital; er bietet der "Dame", Gruschenka, die in schlechtem Ruf steht, im Falle, dass sie seinen Heiratsantrag annimmt, 3000 Rubel.

Dmitrij, den sie und der sie liebt (die russische Liebe ist ein Fall für sich), steht somit in sehr gespanntem Verhältnis zu seinem Vater.
Als der Vater ermordet wird, fällt der Verdacht auf Dmitrij, denn in der Mordnacht war er tatsächlich am Haus, am Fenster seines Vaters, bereit, ihn zu erschlagen.
Bereits vorher hat er sich in wahnhaftem Zustand zum Gegenteil eines Alibis verholfen und auch der Hausdiener Grigorij hat ihn aus dem Garten fliehen sehen und wurde von ihm niedergeschlagen.
Das Geld, welches Fjodor Pawlowitsch für Gruschenka bereit geahlten hatte, ist aus dem Versteck entwendet.

Nun beginnt oberflächlich ein Verstrickungs-, ein Kriminalroman. Aber die Quintessenz ist - nein eine Quintessenz gibt es eigentlich nicht, vielmehr gibt es eine Anhäufung von literarischem, denkerischem Genieerzeugnis -.
"Worum es also geht", sind zum einen die Charaktere der Brüder im allgemeinen, der jedes einzelnen im Besonderen; den Starez Sosima, Aljoschas Klostervater; das Zwiegespräch Aljoschas ("Heiliger") mit Iwan ("Nihilist"); Dmitrij und die Ursache für den Tod des Vaters in der psychischen Widerspiegelung der Brüder; wobei auch der Hausdiener Smerdjakow (etwa "der Stinkende"), vermeintlich weiterer Sohn Pawlowitschs, gezeugt mit einer Bettlerin, eine beträchtliche Rolle spielt.

In der berühmten Episode der Fabel des „Großinquisitors“ (sie wird im genannten Zwiegespäch zwischen Aljoscha und Iwan von letzterem erzählt) legt Iwan Aljoscha seinen „Nihilismus“ dar:
Im Spanien des 16. Jahrhunderts, einem oder dem Höhepunkt der Inquistion, sorgt ein Mann für Aufregung, der zweifellos als auferstandener Jesus Christus identifiziert wird. Er vollbringt Wunder, und als der Großinquisitor von seiner Existenz erfährt, lässt er ihn unverzüglich verhaften. Er gibt dem Auferstandenen, an dessen Wahrhaftigkeit er nicht zweifelt, Erklärungen und Erläuterungen darüber, warum er ihn nicht unter die Menschen gehen lassen kann; er wirft ihm vor, wie er, als er vom Teufel versucht wurde, gehandelt habe und dass er die in seinen Fähigkeiten liegenden Wunder nicht vollbracht habe, um die Menschen von ihrem Zweifel zu erlösen und ihnen die Freiheit zu glauben zu nehmen.
Das ist grobgesagt der Kernpunkt der Fabel: Die Wahl des Menschen zwischen Freiheit und „Glück“, „Gut und Böse“. – Ich möchte hier nicht zuviel verraten.

Freud nannte die Fabel vom Großinquisitor die größte geistige Schöpfung und das Buch selbst den größten Roman der Weltliteratur. Und ja, ich kenne kein Buch, das in seiner Vielschichtigkeit, Komplexität und Tiefe so viele psychologische und philosophische Themen erörtert und zu einem solchen „Schluss“ kommt; darüber gibt es nichts. Man nimmt dieses Buch und seine Charaktere in sein Denken und Leben auf. – Aber genug.

Ich würde mich sehr über ein paar Stimmen zu diesem Buch freuen.
Wo fass ich dich, unendliche Natur? Goethe, "Faust"

nihil00
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Re: Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Beitragvon nihil00 » 11.10.2004, 17:01

Dass ich das Buch gelesen habe, ist nun schon zu viele Jahre her, um mich auf eine detailgenaue Diskussion einlassen zu können. Bis auf "Erniedrigte und Beleidigte" erachte ich jedoch das gesamte Werk von Dostojewski als absolut lesenswert, wobei mir "Die Dämonen" persönlich am besten gefallen hat, weil es die größten menschlichen Abgründe bietet (z.B. der Selbstmord Kiriloffs, um die Existenz eines Gottes zu widerlegen).


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