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Beitragvon [) i r k » 11.10.2004, 00:34

Die Pest von Albert Camus

Mein Lesetagebuch

Wie bereits angekündigt, werde ich zu diesem Roman also ein Lesetagebuch führen. Hier aber schon mal der Hinweis – ich habe das Buch bereits gelesen. Das heißt, es ist nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass ich an bestimmten Stellen vorgreifen werde, an Hypothesen mangelt es mir nicht. Wer also "Die Pest" unvoreingenommen lesen möchte, dem sei davon abzuraten, meine die Lektüre begleitenden Aufzeichnungen mitzuverfolgen, ehe er das Buch selbst beendet hat.




1. Etwas, was wirklich existiert

Ohne weitere Unschweife, beginne ich mit dem Titel des Buches: Die Pest. Was fällt mir spontan dazu ein? Wäre es der Titel eines Films, so würde ich wohl einen reißerischen Historienfilm dahinter vermuten oder etwas in Richtung "Der Name der Rose". Die Amerikaner und überhaupt die Angelsachsen neigen ja dazu das Mittelalter zu verklären und zu verkitschen, habe ich den Eindruck. Aber ich verstehe natürlich auch die Faszination, die dieses dunkle Kapitel der europäische Geschichte auf die Gegenwart ausübt. Aber ich komme von Thema ab: also, denke ich an die Pest, so denke ich als erstes ans Mittelalter. Ich sehe enge und schmutzige Städte vor mir, die zwar dem Menschen, die darin lebten, einen gewissen Schutz bieten sollten, aber dennoch jederzeit verheerenden Katastrophen wie dem Feuer oder einer Seuche ausgesetzt waren. Keine Kanalisation, schlechte Hygiene, Mensch und Tier leben auf engstem Raum, Aberglaube. Die Krankheitsüberträger der Pest sind und waren wohl primär Ratten und Flöhe, was die Menschen jener Epoche nicht wussten. So wurde die Seuche nicht selten unliebsamen Minderheiten in die Schuhe gesteckt, z.B. den Juden oder den Muselmännern. Aber zumindest letztere hatten von Hygiene und Medizin zu dieser Zeit mehr Ahnung als alle europäischen Quacksalber zusammen. Nun, wenn man den Namen "Pest" hört, dann assoziiert man auch unweigerlich damit den Tod – den Tod vieler Menschen. Der schwarze Tod wurde die Pest genannt. (Aber warum "schwarzer" Tod?) Fieber. Pestbeulen. Ich habe das gespenstische Bild von Ärzten mit Schnäbelmasken vor mir. In diesen Schnäbeln waren Schwämme mit – ich glaube – Essigessenzen, die den Arzt vor Ansteckung schützen sollten. Ich sehe auch Leichenkarren und Scheiterhaufen, auf denen die Pesttoten verbrannt wurden. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wer so verrückt gewesen ist, diese Arbeit zu übernehmen und die Toten aus ihren Häusern und auf die Karren zu verfrachten? Das kam doch einem Todesurteil gleich. Wie dem auch sei, von einem Buch mit diesem Titel erwarte ich vor allem eins. Dass es sich – auf welche Art auch immer – mit dem Sterben und dem Tod auseinandersetzt.
Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert.

Daniel Defoe (2, S.5)

Dieses Zitat ist dem Buch vorangestellt. Was ist daraus abzuleiten? Zum einen wird hier bereits ein zentrales Motiv des Buches angeschnitten, ein Motiv, das "Die Pest" mit "Robinson Crusoe" gemeinsam haben mag: Gefangenschaft und Isolation. Man wird später darauf sicherlich zu sprechen kommen. Zum anderen wird hier – ganz ohne Zweifel – der Gleichnischarakter des Buches hervorgehoben. Was immer in diesem Buch geschildert wird, repräsentiert etwas ganz anderes. Es geht hier nicht bloß um eine kleine Hafenstadt an der algerischen Küste, die von einer heimtückischen Seuche heimgesucht wird. "Wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert." Das heißt: es gab keinen Ausbruch der Pest in Oran, wie er in diesem Buch geschildert wird. Das ist nichts als die Erfindung des Dichters, die aber ein anderes, ein reales Ereignis darstellen und reflektieren soll. Durch den zeitlichen Kontext des Werkes ist nicht schwer zu erraten, um welche historischen Ereignisse es sich dabei handelt. Der erste Satz spricht Bände:
Die seltsamen Ereignisse, die Gegenstand dieser Chronik sind, haben sich 194’ in Oran zugetragen. (2, S.7)

Nun gut. Es braucht nicht viel, um darauf zu kommen: Im zweiten Quartal des Jahres 1940 besetzen deutsche Truppen eine großen Teil Frankreichs und Paris. Im Osten das nationalsozialistische Deutschland, im Südosten der faschistische Helfershelfer, Italien, im Westen das Spanien Francos', und im Norden und Süden das Meer. Frankreich ist bis 1944, bis zur Landung der Alliierten in der Normandie, von seinen Verbündeten abgeschnitten, besetzt, gespalten und isoliert. Das ist das Szenario, das als Ausgang für "Die Pest" gedient haben mag. Aber man sollte nicht den Fehler machen, das Werk auf diese seine historischen Wurzeln zu reduzieren (Pest = Nationalsozialismus) und damit den größeren Bedeutungszusammenhang des Gleichnisses und die Allgemeingültigkeit für vergleichbare Situationen der Gefangenschaft und der Herrschaft der Willkür zu verleugnen.
Nach allgemeiner Ansicht paßten sie nicht dort hin, da sie etwas aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fielen. (2, S.7)

Merkwürdiger Satz. Es klingt für mich, als sollte hier – durch die Blume – noch einmal der Gleichnischarakter des Werkes betont werden. Ja, die berichteten Ereignisse fallen aus dem Rahmen des Gewöhnlichen, stellen ein singuläres Geschehen dar, und ja, sie gehören nicht dort hin, nicht nach Oran, sondern referieren auf einen größeren historischen Kontext, der in Wahrheit noch schrecklicher ist als die Seuche, die ihn versinnbildlichen soll. Und darin mag man schließlich auch den ersten und vielleicht entscheidenden Nachteil des Gleichnisses entdecken: denn in Wirklichkeit war es eben keine Epidemie, keine Katastrophe, deren Ursache die Natur selbst ist, die Abermillionen Menschen das Leben gekostet hat. Sondern es waren Menschen, die mit Vorsatz und planvoll handelten. So mag das Gleichnis das ganze Ausmaß der Geschehnisse verkleinern, während es – und das ist wiederum sein Vorzug – die Auswirkungen der Ereignisse auf das alltäglichen Leben, die einzelnen Menschen und ihre Beziehungen untereinander vergrößert und näher ausleuchtet.

So far.


Quellenverzeichnis

Ich zitiere, je nach dem welche Stelle mir persönlich besser gefällt, aus den zwei mir vorliegenden Ausgaben:

(1) Albert Camus: Die Pest. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Bald Salzig und Boppard am Rhein: Karl Rauch Verlag 1949

(2) Albert Camus: Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. 71. Auflage, Februar 2004. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: [) i r k s L e s e t a g e b u c h

Beitragvon [) i r k » 22.10.2004, 03:41

2. Eine kleine gemütliche Stadt am Meer

Die ersten Seiten des Buches – der Erzähler spricht von einer Chronik, von einem Bericht. Aber wie seltsam, das Bild, das er von dem Ort und den Menschen zeichnet, ist alles andere als ausgewogen und neutral ...
Zugegeben, die Stadt selber ist häßlich. [...] Ein farblos-nüchterner Ort! (1, S.7)

[...] es ist ein Frühling, der auf den Märkten verkauft wird. Im Sommer steckt die Sonne die ausgetrockneten Häuser in Brand und bedeckt die Mauern mit grauer Asche; dann kann man nur noch im Dunkel hinter geschlossenen Läden leben. Der Herbst dagegen ist eine einzige Schlammflut. (2, S.7)

In unserer kleinen Stadt – womöglich liegt es am Klima – macht man dies alles gleichzeitig, auf ein und dieselbe hektische und abwesende Weise. Das heißt, man langweilt sich hier und ist bemüht, Gewohnheiten anzunehmen. Unsere Mitbürger arbeiten viel, aber immer nur, um reich zu werden. (2, S.8)

Oran dagegen ist anscheinend eine Stadt ohne Ahnungen [...] In Oran ist man wie anderswo aus Zeitmangel und Gedankenlosigkeit einfach gezwungen, sich zu lieben, ohne es zu merken. (2, S.9)

Aber die extremen klimatischen Bedingungen in Oran, die Wichtigkeit der Geschäfte, die hier betrieben werden, das Unansehnliche der Umwelt, die schnell hereinfallende Dämmerung und die besonderen Vergnügungen – all das erfordert eine gute Gesundheit. Ein Kranker ist hier sehr allein. [...] Dann wird man verstehen, wie ungemütlich der Tod, auch der moderne Tod sein kann, wenn er einen an solch gefühllosem Ort ereilt. (1, S.9)

Hervorzuheben war das geistlose Gesicht der Stadt und des Lebens. Aber sobald man Gewohnheiten angenommen hat, verbringt man seine Tage mühelos. [...] Diese reiz-, pflanzen- und seelenlose Stadt wirkt mit der Zeit ausruhend, und zuletzt schläft man ein. (1, S.9f.)

Was ist nun davon zu halten? Beinah erweckt das in mir den Eindruck, die Stadt hätte das Schicksal verdient, welches sie im folgenden ereilen soll – kann das sein? Es ist ja nicht einfach nur eine Beschreibung, ein nüchtern-realistisches Bild, sondern eine Tristesse, eine düster-pessimistische Darstellung, eine nichts beschönigende Abrechnung mit den Gegebenheiten des Orts, den Umständen und Widrigkeiten des hiesigen Lebens und den Eigenheiten der Menschen. Ich frage mich, warum Camus einen so trostlosen Auftakt wählt? Was steckt dahinter?

Dabei muss man sich vor allem vor Augen führen, wie sehr dieser Einstieg schon dem eigentlich – wie ich meine – nahe liegenden Aufbau einer solchen Story zuwiderläuft: wenn der Kern meines Plots sich um eine Katastrophe, um ein großes Unglück dreht, dann werde ich natürlich am Anfang der Geschichte den späteren Schrecken möglichst stark kontrastieren. Denken wir an ein Buch wie "Herrn der Ringe" oder denken wir an einen Film wie "Jurassic Park" – Ausgangspunkt einer solchen Story ist meistens eine Art Idyll. Und was macht Camus? Kein Grün, keine Blumen, keine Liebe, keine Gutmenschen, keine heile Welt, kein Wohlfühlszenario. Er kämmt gegen den Strich aller Genrestereotypen: ein trostloser Ort und darin Menschen, scheiß alltägliche Menschen, die ein getriebenes, gedankenloses Leben führen, Zeit verplempern, Gewohnheiten annehmen, altern und einsam sterben. Natürlich ist das mit dem Genre Quatsch und die Vergleiche, die ich herangezogen habe, ebenso. Aber trotzdem: Warum tut er das? Weil er sich um die Wirklichkeit bemüht? Weil es kein Schwarz-Weiß gibt?

Er wählt nicht die Beste aller möglichen Welten als Ausgangspunkt, um sie dann in die Schlimmste zu verkehren, sondern er wählt ein schmuddeliges, ebenso glaubwürdiges wie unspektakuläres Setting, und ja, es lässt schon erahnen, dass etwas nicht stimmt, es bröckelt schon und hinter dem Putz, dem Gilbschleier des Gewöhnlichen, des Gewohnheitsmäßigen, erwartet uns wirklich das Schlimmste: der Tod. Die lichten Punkte tauchen erst später auf, aber auch da nur vereinzelt. Denn dieses Buch ist ja nichts als eine anthropologische Entdeckungsreise: Die Katastrophe wird zum Katalysator, die den Status quo des Lebens, mit dem man sich leidlich arrangiert hat, aufhebt, die dieses gleichmäßig-gedankenlose Dasein, diese ewige Wiederkunft dessen, was schon da gewesen ist, mit einem Mal beendet, alle Erfordernisse des Zusammenlebens verschärft und so schließlich auch das Gute wie das Schlechte in den Menschen – deutlicher denn je – zum Vorschein bringt. Das ist simpel, das ist schon beinah ein Klischee – denn erst wo Gefahr ist, kann sich Mut unter Beweis stellen, erst wo ein Mangel ist, verdient Solidarität ihren Namen. Und doch wie wenig heldenhaft sind die Helden in diesem Buch, denn es gibt kaum etwas, das sie tun könnten, und wie blass ist selbst der Verbrecher, denn er kann kaum etwas schlimmer machen, als es ohnehin schon ist. Aber ich greife zu weit vor.

Einigen Formulierungen des ersten Kapitels sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden:
Auf den ersten Blick ist Oran nämlich eine ganz gewöhnliche Stadt ... (1, S.7)

Man wird zweifellos entgegnen, daß unsere Stadt darin keine Ausnahme bildet und daß eigentlich alle unsere Zeitgenossen so sind. Gewiß erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Kaffeehaus und mit Geschwätz vertun. (1, S.8)

Das ist ebenfalls nichts Besonderes. Wie anderswo ist man auch in Oran ... (1, S.9)

Ich denke, es ist nicht schwer, diese Zeilen zu deuten. Noch deutlicher kann man nicht sagen, dass es sich um ein Gleichnis handelt, das mehr Geltung beansprucht als ein Bericht es je könnte. Das trostlos-nüchterne Bild von Oran, das der Autor uns mit wenigen Sätzen vor die Füße wirft, ist letztendlich nichts anderes als eine Kritik seiner Zeit.
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)

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Re: [) i r k s L e s e t a g e b u c h

Beitragvon [) i r k » 05.11.2004, 16:48

3. Sie kommen, sie kommen

Während dem Leser im ersten Kapitel, im ersten Abschnitt des Buches die Stadt und die Menschen allgemein vorgestellt werden, so versetzt uns das zweite Kapitel mitten in die Handlung. Ich denke, diesen Auftakt der Erzählung kann man schon fast klassisch nennen: erst präsentiert uns der Erzähler die Kulisse in der Vogelschau, quasi die Stadt aus der Ferne und den Blick von oben auf alles herab und dann reißt uns ein Zoom direkt in das Geschehen hinein und verwickelt uns in das Schicksal einzelner Menschen. Auch der wertende Unterton, diese distanziert-abfällige Beurteilung des ersten Kapitels, scheint plötzlich verschwunden zu sein, sodass der zweite Abschnitt des Buches (2, S.12-30) schon eher den Kriterien eines Berichtes standhielte. Das Kapitel beginnt mit einer einzelnen toten Ratte, die im Hausflur gefunden wird, es berichtet von einer "widerlichen Invasion", von Ratten, die zu Tausenden auf der Straße und in den Häusern verenden, und es schließt mit dem – sehr nüchtern und doch zugleich sehr ergreifend geschilderten – Tod des ersten Menschen, der einer bis zu diesem Zeitpunkt noch namenlosen Epidemie zum Opfer fällt.

Aber es sind nicht nur die Ratten, die im zweiten Kapitel aus ihren Löchern kommen, um zu sterben. Auch alle später für den Roman mehr oder weniger bedeutsamen Personen werden in diesem Abschnitt eingeführt und kurz vorgestellt. Man kann nur bewundern, wie geschickt dies Camus bewerkstelligt, wie er mit wenigen Worten, mit ein paar sparsam ausgewählten Andeutungen, den Charakter seiner Figuren umreißt.

Bernard Rieux
Er ist der ruhige, der in sich gekehrte tragische Held und Mittelpunkt dieses Romans. Das liegt nicht nur daran, dass er, wie sich am Ende des Buches herausstellen wird, der Erzähler ist. Nein, der Arzt Rieux, der handelnde Mensch, ist eine Art Pol in dieser Geschichte. Alles, was in diesem Buch geschieht, scheint irgendwie um ihn zu kreisen, sich auf ihn zu beziehen, jede andere Person trifft irgendwann unweigerlich auf ihn und jede andere moralische Position muss sich irgendwann vor seinem Angesicht die Blöße geben, ja, in den Zwang geraten, sich zu rechtfertigen, und er steht dort in der Mitte, scheinbar starr und regungslos, zurückgeworfen auf sich selbst, und schweigt und nimmt alles gleichmütig und vorurteilslos hin. Er ist eindeutig ein moderner Sisyphus, ein stoischer Arbeiter, was man nicht mit Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit verwechseln sollte. Es ist anzunehmen, dass sich in dieser Figur am ehesten Camus mit seiner Philosophie widerspiegelt.
Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der seine Mitmenschen jedoch liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. (1, S.15f.)

Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe angesichts solcher Äußerungen den Eindruck, dass Rieux nicht nur so etwas wie einen moderner Sisyphus vorstellt, sondern auch eine Art Bodhisattwa, einen, der die Welt und die Sinnlosigkeit des Leidens durchschaut und das Absurde erkannt hat, und der trotzdem nicht alles, was ist, negiert, nicht alle Werte verneint, auch wenn sie sich durch nichts rechtfertigen lassen, der nicht resigniert und das Leben aufgibt, oder nur um seinetwillen nach Selbsterkenntnis strebt, sondern von Mitleid und Liebe zu den Menschen geleitet, alles tut, ihr Elend zu mildern. Es ist kein Zufall, dass Rieux Arzt ist. Dieser Beruf verkörpert am ursprünglichsten einen ganz grundlegend christlich-humanistischen Gedanken: dem Menschen zu helfen, seine Leiden zu lindern, sein Leben zu verlängern. (Der Nazarener hat, wenn wir seinen Wundern Glauben schenken wollen, nichts anderes gemacht.) Die Pest konfrontiert Rieux mit dem Schlimmsten, mit dem Tod des Menschen, der Willkür und Notwendigkeit der Natur, die er nicht ändern, nicht aufhalten kann. Jeder Pesttote, jedes Erdbebenopfer, jeder Kindstod scheint die Schöpfung selbst in Frage zu stellen. – Warum? Es gibt darauf keine Antwort. Und das ist die Sinnlosigkeit, mit der Rieux konfrontiert ist. Er, der Arzt, angetreten, die Krankheit zu heilen, ist am Ende dazu verurteilt, nur noch den Ausbruch des tödlichen Fiebers festzustellen, zu veranlassen, dass die unschuldigen Opfer in Quarantäne verbracht werden und hilflos zuzusehen, wie sie sterben. Er hat alle Hände voll zu tun, doch eigentlich tun kann er nichts.
«Das brennt, das Schwein verbrennt mich.»
Wegen seines dunkel geschwollenen Mundes sprach er undeutlich, und er wandte dem Arzt hervorquellende Augen zu, die vor Kopfschmerz tränten. Seine Frau sah Rieux angstvoll an, aber er blieb stumm. (2, S.27)

Aus seinem mit schwammigen Schwellungen verklebten Mund kamen Wortfetzen: «Die Ratten!» sagte er. Grünlich, mit wächsernen Lippen bleischweren Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den Lymphknoten gemartert, tief in seine Pritsche vergraben, als er hätte er sie am liebsten über sich verschlossen oder als riefe ihn unablässig etwas aus der Tiefe der Erde, erstickte der Concierge unter einem unsichtbaren Gewicht. Die Frau weinte.
«Gibt es denn keine Hoffnung mehr, Herr Doktor?»
«Er ist tot», sagte Rieux. (2, S.30)

So nüchtern und trocken diese beiden Szenen auch erzählt sein mögen, sie knistern vor innerer Spannung. Täusche ich mich, oder macht Rieux hier einen nicht mehr nur verschlossenen und ruhigen, sondern einen schon beinahe harten, ja fast kaltherzigen Eindruck, so als ginge ihn der Tod des Concierge überhaupt nichts an? Und wie passt das mit dem, was ich vorher gesagt habe, zusammen?
Die erlebte Rede beziehungsweise die Reflexionen des Dr. Rieux lassen durch ihre pragmatische Natur nur sehr eingeschränkt Schlüsse auf seinen Seelenzustand zu.
Der Leser sieht Rieux ständig handeln, was ihm ein zunächst edles (äußeres) Wesen verleiht; da allerdings auch seine Gedanken stets mit handlungsbezogenen Überlegungen beschäftigt sind, wird ein Einblick in den tatsächlichen seelischen Zustand erschwert, unterstützt durch sein schweigsames Wesen im Umgang Gesprächspartnern und Aussparung seiner Urteile im Bezug auf diese. (Oliver M.)

Ja, das ist die Frage: Was geht in diesem Mann vor? Ich glaube, das Buch wäre nur halb so spannend, wenn Camus dem Leser die Suche nach einer Antwort erspart hätte und das Gefühlsleben von Rieux, seinen "seelischen Zustand" dezidiert ausgebreitet hätte. Ich glaube schon, dass Rieux' Reaktion auf den Tod des Concierge natürlich und verständlich ist. Er wird mit seiner Hilflosigkeit und seiner Niederlage konfrontiert, mit der Absurdität des Lebens, was bleibt da übrig, was er noch sagen könnte?

Jean Tarrou
Während Rieux als Pragmatiker erscheint, ist Tarrou der Idealist, der Bedingungslose. Trotzdem sind sich diese zwei Figuren sehr nah. Tarrou vertritt eine ganz besondere Art von Idealismus, sein Idealismus ist – was eigentlich ganz untypisch ist – nicht blind für die Welt, nicht unzugänglich für den Standpunkt des anderen. Denn sein höchstes Ideal heißt Verständnis. Er ist der Vorurteilslose, der allem Aufgeschlossene, der, der niemanden verurteilen, sondern verstehen will und diese Maxime lebt er bis zur letzten Konsequenz. Auch den Kollaborateur, der im Elend der anderen aufgeht, auch ihn versucht er noch zu verstehen. Diese Figur strahlt einen bedingungslosen Optimismus und eine Unvoreingenommenheit gegenüber den Menschen aus, die sie einerseits sehr sympathisch macht, andererseits manchmal etwas naiv erscheinen lässt. Sie erinnert mich zum Teil etwas an Hans Castorp, die zentrale Figur in Thomas Manns "Zauberberg". Ich kann aber kaum sagen, warum. Es muss mit diesem staunenden, kindlich-neugierigen Blick auf die Welt zu tun haben, der beiden gemeinsam ist.
Jean Tarrou rauchte hingegeben eine Zigarette, während er den letzten Konvulsionen einer Ratte zusah, die auf einer Stufe zu seinen Füßen verendete. Er blickte ruhig und eindringlich mit seinen grauen Augen zu dem Arzt auf, sagte ihm guten Tag und fügte hinzu, dieses Auftauchen der Ratten sei eine merkwürdige Sache. (2, S.18)
– Ja, sagte Rieux, es wird schon langsam lästig
– Nur in einer Hinsicht, Herr Doktor, nur in einer Hinsicht. Weil wir noch nie so etwas gesehen haben. Aber ich finde es interessant, wirklich, geradezu interessant. (1, S.16)

Tarrou ist so etwas wie ein Aussteiger, ein Lebenskünstler, ein Weltenbummler, der sich von seinen Wurzeln befreit hat. Ich glaube mit und in ihm ist eine ganze Generation vorweggenommen, deren eigentliches Idol John Lennon ist – diese nach Frieden und Selbsterkenntnis suchenden jungen Leute der späten 60er, frühen 70er: die Hippies. Auch sein Idealismus ist eine Rebellion gegen sein Elternhaus, gegen die ältere Generation, eine Auflehnung und Empörung gegen seinen Vater, den Staatsanwalt.

Joseph Grand
Er ist ein Sonderling, aus dem ich bis jetzt nicht ganz schlau geworden bin. Vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Sein Ideal – seine heimliche Leidenschaft – ist schon etwas weltfremder, etwas mehr der Norm der Wirklichkeit entrückt, und er repräsentiert, wenn man es genau nimmt, eigentlich keinen Idealisten, sondern einen Phantasten, jemand, bei dem ein starker Widerspruch zwischen dem äußerlich recht tristen Leben und der Welt seiner Imagination besteht. Dieser Widerspruch setzt sich in vielen Wesensmerkmalen dieser Person fort: Da ist der Verwaltungsangestellte, der pflichtbewusste, immer korrekte Bürokrat in ihm und da ist der Dilettant und Möchtegernschriftsteller, der Kreativität mit Penibilität verwechselt. Er verschätzt sich und seine Möglichkeiten und kommt so dem Leben etwas abhanden. Er träumt von einem Erfolg, der nie eintreten wird. Das wirkt zwar geckenhaft, und es lässt sich nicht abstreiten, dass Grand etwas an sich hat, das lächerlich ist, aber er ist dennoch kein Aufschneider, kein Angeber, kein Betrüger – nein, er betrügt höchstens sich selbst, was wir ein stückweit doch alle tun. Man kann über ihn lachen oder ihn bemitleiden, denn er ist trotz allem eine ehrliche Haut, die, wenn es drauf ankommt, für andere da ist:
– Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich ihn kenne; aber man muß sich gegenseitig helfen.
In den Gängen schaute Rieux unwillkürlich in alle Winkel und fragte Grand, ob die Ratten gänzlich aus seinem Viertel verschwunden seien. Der Angestellte wußte es nicht. Er habe von dieser Geschichte gehört, aber er gebe nicht viel auf die Gerüchte in seinem Quartier.
– Ich habe andere Sorgen, sagte er. (1, S.23)


Raymond Rambert
Er lebt nie in der Gegenwart, habe ich das Gefühl. Er ist immer woanders, nämlich bei der Frau, die er liebt. Er hat etwas abwesend-ungeduldiges an sich, etwas gehetztes. Er sagt etwas so dahin, und ist mit den Gedanken schon wieder weit weg:
«Ich glaube, ich verstehe Sie», sagte er schließlich im Aufstehen.
Der Arzt geleitete ihn zur Tür:
«Ich danke Ihnen, daß sie es so aufnehmen.»
Rambert schien ungehalten zu werden:
«Ja», sagte er, «ich verstehe, verzeihen Sie die Störung.» (2, S.17f.)

Die Isolation ist ihm besonders unerträglich, er versucht fast bis zum Schluss zu fliehen, sich der Gefahr zu entziehen, um sein eigenes Glück zu retten. So verschließt er sich die meiste Zeit den eigentlichen Erfordernissen der Situation, von der er meint, sie ginge ihn nichts an, da er nur zufällig an diesen Ort geraten sei. Er stellt sein persönliches Glück, seine Hoffnung, sein Ideal – die Liebe – über das Wohl und das Leid aller anderen. Die Geliebte in der Ferne wird für ihn unendlich begehrenswert, während das Bild ihres Gesicht in seiner Vorstellungskraft immer mehr verblasst und an Konturen verliert.

Monsieur Cottard
Er ist der Kollaborateur. Er ist der Schwarzhändler, der von der Pest profitiert. Das Elend der anderen wird ihm zum Glücksfall. Am Anfang des Romans erleben wir seinen gescheiterten Selbstmordversuch; er hat nichts mehr zu verlieren. Nach und nach erfährt man, dass die Justiz hinter ihm her ist, wegen einer Angelegenheit, die im ganzen Roman nicht näher benannt wird. Ihm droht die Verhaftung und die Pest – die neue Ordnung – sorgt für den Aufschub, mit dem er nicht mehr rechnen konnte. Solange andere bedroht sind und sterben, ist er sicher.

Pater Paneloux
Er vertritt nicht nur die ganze Klugheit und Dialektik des Christentums und den Dogmatismus der Kirche, sondern auch den unauflösbaren Widerspruch des Glaubens. Ähnlich wie Cottard kommt auch Paneloux die Pest nicht ungelegen:
Es war Pater Paneloux, ein gelehrter und streitbarer Jesuit, dem er manchmal begegnet war und der in unserer Stadt sogar von jenen, die in Sachen Religion gleichgültig sind, sehr geschätzt wurde.
[...]
«Oh», sagte der Pater, «das muß eine Epidemie sein», und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern. (2, 23f.)

Ein Satz und der Mann ist ausreichend charakterisiert. Ich wiederhole: bewundernswert, was Camus hier vollführt. Paneloux erkennt und spricht als erster aus, was vor sich geht. Das spricht für seinen Intellekt. Doch die hinter den Brillengläsern lächelnden Augen sind vielsagend. Die Augen des Geistlichen lächeln, während der Rest seiner Mine und seines Gestus – wahrscheinlich – Betroffenheit und Anteilnahme ausdrücken. Was heißt das? Wie kann es sein, dass die Augen des Priesters angesichts der Tatsache, dass der Stadt eine Epidemie bevorsteht, lächeln? Nun, das liegt in der Wesenhaftigkeit des Glaubens (und zwar durchaus nicht nur des christlichen) begründet: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Einer der wichtigsten Sätze aus der Bergpredigt. Das Christentum fußt auf dem Leid – Elend, Krankheit und Unterdrückung sind quasi die notwendigen Bedingungen für den Glauben an einen Erlöser und eine bessere Welt. Geht es den Menschen schlecht, schenken sie dem Märchen vom Eiapopeia des Himmels den größten Glauben – und dann freut sich der, der es die ganze Zeit gepredigt hat. Auch wenn er nicht zu erklären vermag, wie das Leiden überhaupt möglich ist, steht es doch in unauflösbarem Widerspruch zu einem anderen wichtigen Grundsatz seines Glaubens und seiner Lehre, nämlich dass Gott allmächtig und gnädig ist.
Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber er kann nicht:
dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft,
oder er kann, aber er will nicht:
dann ist er mißgünstig, was Gott fremd ist,
oder er will nicht und kann nicht:
dann ist er sowohl schwach, als auch mißgünstig, also nicht Gott,
oder er will und kann, was allein sich für Gott ziemt:
woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?
(Epikur)

Und da sind wir wieder mitten drin im Theodizeeproblem.

Monsieur Othon
Er ist eine der unsympathischsten Figuren im Buch, er vertritt das Bürgertum, die steife Konvention und Ohnmacht.
Auf dem Bahnsteig, in der Nähe des Ausgangs, traf Rieux auf Monsieur Othon, den Untersuchungsrichter, der seinen kleinen Jungen an der Hand hielt. Der Arzt fragte ihn, ob er verreise. Monsieur Othon, der, groß und dunkel, hab aussah wie das, was man früher einen Mann von Welt nannte, halb wie ein Leichenträger, antwortete liebenswürdig, aber knapp: [...] (2, S. 16)


Der alte Spanier
Nur ein seniler alter Greis – oder doch mehr?
Nur der alte, asthmatische Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit kindischer Freude: „Sie kommen, sie kommen.“ (1, S.19f.


Rieux' Mutter
Sicherlich nur eine Nebenfigur, aber doch eine sehr angenehme.
Die Mutter des Arztes nahm die Nachricht ohne Verwunderung auf.
«So etwas kommt vor.»
Sie war eine kleine Frau mit silbergrauem Haar und sanften schwarzen Augen.
«Ich bin froh, dich wiederzusehen, Bernard», sagte sie. «Daran können auch die Ratten nichts ändern.»
Er pflichtete ihr bei; es stimmte, daß mit ihr immer alles leicht erschien. (2, S.19f.)

Sie ist wirklich ein Pol der Gelassenheit und Ruhe, während es bei ihrem Sohn unter der vermeintlich erkalteten und ruhigen Oberfläche ständig zu brodeln scheint.
* * *
Am Morgen des 16. April ... (1, S.11)

Anfang Mai 1940 begannen die deutschen Truppen ihren Einmarsch in Frankreich. In der Chronologie befinden wir uns also einige Wochen vor dem Ausbruch der Kriegshandlungen.
Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc [...] bekannt gab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. (1, S.19)

Wer zählt so was so genau? Ich verstehe das als ironischen Seitenhieb auf manch "objektive" Berichterstattung. Camus muss das wissen, er war Journalist.
Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die Treppe herunter. (1, S. 11)

«Was ist das für eine Geschichte mit den Ratten?»
«Ich weiß nicht. Es ist sonderbar, aber es wird vorbeigehen.» (2, S.15)

– Die Ratten ... sagte der Richter
Rieux machte eine Bewegung gegen den Zug, kehrte sich dann aber dem Ausgang zu.
– Ja, sagte er, das hat nichts zu bedeuten. (1, S.15)

Die Mutter des Arztes nahm die Nachricht ohne Verwunderung auf.
«So etwas kommt vor.» (2, S.19)

Die Stadtverwaltung hatte nichts vor und hatte überhaupt nichts ins Auge gefaßt, begann aber damit, ihren Rat zu versammeln, um zu beraten. (2, S.21)

Ich denke, es ist klar, worauf ich mit dieser Zitatzusammenstellung hinaus will. Viele Nachbarländer Deutschlands haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt oder verdrängt: Die Machtergreifung, die zunehmende Militarisierung des NS-Regimes, die Pogrome gegen Juden, der Anschluss Österreichs. Das alles waren Vorzeichen für den Krieg, der mit dem Angriff auf Polen seinen Anfang nehmen sollte. Frankreich war – anders als im 1. Weltkrieg – nicht vorbereitet auf den Einmarsch Deutschlands. Nur so lässt sich der Schock und die Lähmung erklären und das böse Erwachen, das es dann gab:
Man hätte meinen können, daß die Erde selbst, auf die unsere Häuser gestellt waren, sich von ihrer Ladung Körpersäfte entschlacke, daß sie Furunkel und Eiterwunden an die Oberfläche steigen ließ, die bisher in ihrem Innern gärten. Man stelle sich nur die Bestürzung unserer bis dahin so ruhigen und in wenigen Tagen völlig verwandelten kleinen Stadt vor, wie ein gesunder Mensch, dessen dickes Blut auf einmal in Aufruhr gerät.
[...]
Bisher hatte man sich nur über eine etwas abstoßende Erscheinung beklagt. Jetzt bemerkte man, daß dieses Phänomen, dessen Auswirkung man noch nicht genau angeben und dessen Ursprung man nicht ausmachen konnte, etwas Bedrohliches hatte. (2, S. 22)

So far.
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Glaukos
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Re: [) i r k s L e s e t a g e b u c h

Beitragvon Glaukos » 24.02.2009, 20:21

ein gutes haben die spamfuzzies: es kommen verschollene, interessante threads wieder nach oben. *smile


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