3. Sie kommen, sie kommenWährend dem Leser im ersten Kapitel, im ersten Abschnitt des Buches die Stadt und die Menschen allgemein vorgestellt werden, so versetzt uns das zweite Kapitel mitten in die Handlung. Ich denke, diesen Auftakt der Erzählung kann man schon fast klassisch nennen: erst präsentiert uns der Erzähler die Kulisse in der Vogelschau, quasi die Stadt aus der Ferne und den Blick von oben auf alles herab und dann reißt uns ein Zoom direkt in das Geschehen hinein und verwickelt uns in das Schicksal einzelner Menschen. Auch der wertende Unterton, diese distanziert-abfällige Beurteilung des ersten Kapitels, scheint plötzlich verschwunden zu sein, sodass der zweite Abschnitt des Buches (2, S.12-30) schon eher den Kriterien eines Berichtes standhielte. Das Kapitel beginnt mit einer einzelnen toten Ratte, die im Hausflur gefunden wird, es berichtet von einer "widerlichen Invasion", von Ratten, die zu Tausenden auf der Straße und in den Häusern verenden, und es schließt mit dem – sehr nüchtern und doch zugleich sehr ergreifend geschilderten – Tod des ersten Menschen, der einer bis zu diesem Zeitpunkt noch namenlosen Epidemie zum Opfer fällt.
Aber es sind nicht nur die Ratten, die im zweiten Kapitel aus ihren Löchern kommen, um zu sterben. Auch alle später für den Roman mehr oder weniger bedeutsamen Personen werden in diesem Abschnitt eingeführt und kurz vorgestellt. Man kann nur bewundern, wie geschickt dies Camus bewerkstelligt, wie er mit wenigen Worten, mit ein paar sparsam ausgewählten Andeutungen, den Charakter seiner Figuren umreißt.
Bernard RieuxEr ist der ruhige, der in sich gekehrte tragische Held und Mittelpunkt dieses Romans. Das liegt nicht nur daran, dass er, wie sich am Ende des Buches herausstellen wird, der Erzähler ist. Nein, der Arzt Rieux, der handelnde Mensch, ist eine Art Pol in dieser Geschichte. Alles, was in diesem Buch geschieht, scheint irgendwie um ihn zu kreisen, sich auf ihn zu beziehen, jede andere Person trifft irgendwann unweigerlich auf ihn und jede andere moralische Position muss sich irgendwann vor seinem Angesicht die Blöße geben, ja, in den Zwang geraten, sich zu rechtfertigen, und er steht dort in der Mitte, scheinbar starr und regungslos, zurückgeworfen auf sich selbst, und schweigt und nimmt alles gleichmütig und vorurteilslos hin. Er ist eindeutig ein moderner Sisyphus, ein stoischer Arbeiter, was man nicht mit Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit verwechseln sollte. Es ist anzunehmen, dass sich in dieser Figur am ehesten Camus mit seiner Philosophie widerspiegelt.
Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der seine Mitmenschen jedoch liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. (1, S.15f.)
Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe angesichts solcher Äußerungen den Eindruck, dass Rieux nicht nur so etwas wie einen moderner Sisyphus vorstellt, sondern auch eine Art Bodhisattwa, einen, der die Welt und die Sinnlosigkeit des Leidens durchschaut und das Absurde erkannt hat, und der trotzdem nicht alles, was ist, negiert, nicht alle Werte verneint, auch wenn sie sich durch nichts rechtfertigen lassen, der nicht resigniert und das Leben aufgibt, oder nur um seinetwillen nach Selbsterkenntnis strebt, sondern von Mitleid und Liebe zu den Menschen geleitet, alles tut, ihr Elend zu mildern. Es ist kein Zufall, dass Rieux Arzt ist. Dieser Beruf verkörpert am ursprünglichsten einen ganz grundlegend christlich-humanistischen Gedanken: dem Menschen zu helfen, seine Leiden zu lindern, sein Leben zu verlängern. (Der Nazarener hat, wenn wir seinen Wundern Glauben schenken wollen, nichts anderes gemacht.) Die Pest konfrontiert Rieux mit dem Schlimmsten, mit dem Tod des Menschen, der Willkür und Notwendigkeit der Natur, die er nicht ändern, nicht aufhalten kann. Jeder Pesttote, jedes Erdbebenopfer, jeder Kindstod scheint die Schöpfung selbst in Frage zu stellen. – Warum? Es gibt darauf keine Antwort. Und das ist die Sinnlosigkeit, mit der Rieux konfrontiert ist. Er, der Arzt, angetreten, die Krankheit zu heilen, ist am Ende dazu verurteilt, nur noch den Ausbruch des tödlichen Fiebers festzustellen, zu veranlassen, dass die unschuldigen Opfer in Quarantäne verbracht werden und hilflos zuzusehen, wie sie sterben. Er hat alle Hände voll zu tun, doch eigentlich
tun kann er nichts.
«Das brennt, das Schwein verbrennt mich.»
Wegen seines dunkel geschwollenen Mundes sprach er undeutlich, und er wandte dem Arzt hervorquellende Augen zu, die vor Kopfschmerz tränten. Seine Frau sah Rieux angstvoll an, aber er blieb stumm. (2, S.27)
Aus seinem mit schwammigen Schwellungen verklebten Mund kamen Wortfetzen: «Die Ratten!» sagte er. Grünlich, mit wächsernen Lippen bleischweren Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den Lymphknoten gemartert, tief in seine Pritsche vergraben, als er hätte er sie am liebsten über sich verschlossen oder als riefe ihn unablässig etwas aus der Tiefe der Erde, erstickte der Concierge unter einem unsichtbaren Gewicht. Die Frau weinte.
«Gibt es denn keine Hoffnung mehr, Herr Doktor?»
«Er ist tot», sagte Rieux. (2, S.30)
So nüchtern und trocken diese beiden Szenen auch erzählt sein mögen, sie knistern vor innerer Spannung. Täusche ich mich, oder macht Rieux hier einen nicht mehr nur verschlossenen und ruhigen, sondern einen schon beinahe harten, ja fast kaltherzigen Eindruck, so als ginge ihn der Tod des Concierge überhaupt nichts an? Und wie passt das mit dem, was ich vorher gesagt habe, zusammen?
Die erlebte Rede beziehungsweise die Reflexionen des Dr. Rieux lassen durch ihre pragmatische Natur nur sehr eingeschränkt Schlüsse auf seinen Seelenzustand zu.
Der Leser sieht Rieux ständig handeln, was ihm ein zunächst edles (äußeres) Wesen verleiht; da allerdings auch seine Gedanken stets mit handlungsbezogenen Überlegungen beschäftigt sind, wird ein Einblick in den tatsächlichen seelischen Zustand erschwert, unterstützt durch sein schweigsames Wesen im Umgang Gesprächspartnern und Aussparung seiner Urteile im Bezug auf diese. (Oliver M.)
Ja, das ist die Frage: Was geht in diesem Mann vor? Ich glaube, das Buch wäre nur halb so spannend, wenn Camus dem Leser die Suche nach einer Antwort erspart hätte und das Gefühlsleben von Rieux, seinen "seelischen Zustand" dezidiert ausgebreitet hätte. Ich glaube schon, dass Rieux' Reaktion auf den Tod des Concierge natürlich und verständlich ist. Er wird mit seiner Hilflosigkeit und seiner Niederlage konfrontiert, mit der Absurdität des Lebens, was bleibt da übrig, was er noch sagen könnte?
Jean TarrouWährend Rieux als Pragmatiker erscheint, ist Tarrou der Idealist, der Bedingungslose. Trotzdem sind sich diese zwei Figuren sehr nah. Tarrou vertritt eine ganz besondere Art von Idealismus, sein Idealismus ist – was eigentlich ganz untypisch ist – nicht blind für die Welt, nicht unzugänglich für den Standpunkt des anderen. Denn sein höchstes Ideal heißt Verständnis. Er ist der Vorurteilslose, der allem Aufgeschlossene, der, der niemanden verurteilen, sondern verstehen will und diese Maxime lebt er bis zur letzten Konsequenz. Auch den Kollaborateur, der im Elend der anderen aufgeht, auch ihn versucht er noch zu verstehen. Diese Figur strahlt einen bedingungslosen Optimismus und eine Unvoreingenommenheit gegenüber den Menschen aus, die sie einerseits sehr sympathisch macht, andererseits manchmal etwas naiv erscheinen lässt. Sie erinnert mich zum Teil etwas an Hans Castorp, die zentrale Figur in Thomas Manns "Zauberberg". Ich kann aber kaum sagen, warum. Es muss mit diesem staunenden, kindlich-neugierigen Blick auf die Welt zu tun haben, der beiden gemeinsam ist.
Jean Tarrou rauchte hingegeben eine Zigarette, während er den letzten Konvulsionen einer Ratte zusah, die auf einer Stufe zu seinen Füßen verendete. Er blickte ruhig und eindringlich mit seinen grauen Augen zu dem Arzt auf, sagte ihm guten Tag und fügte hinzu, dieses Auftauchen der Ratten sei eine merkwürdige Sache. (2, S.18)
– Ja, sagte Rieux, es wird schon langsam lästig
– Nur in einer Hinsicht, Herr Doktor, nur in einer Hinsicht. Weil wir noch nie so etwas gesehen haben. Aber ich finde es interessant, wirklich, geradezu interessant. (1, S.16)
Tarrou ist so etwas wie ein Aussteiger, ein Lebenskünstler, ein Weltenbummler, der sich von seinen Wurzeln befreit hat. Ich glaube mit und in ihm ist eine ganze Generation vorweggenommen, deren eigentliches Idol John Lennon ist – diese nach Frieden und Selbsterkenntnis suchenden jungen Leute der späten 60er, frühen 70er: die Hippies. Auch sein Idealismus ist eine Rebellion gegen sein Elternhaus, gegen die ältere Generation, eine Auflehnung und Empörung gegen seinen Vater, den Staatsanwalt.
Joseph GrandEr ist ein Sonderling, aus dem ich bis jetzt nicht ganz schlau geworden bin. Vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Sein Ideal – seine heimliche Leidenschaft – ist schon etwas weltfremder, etwas mehr der Norm der Wirklichkeit entrückt, und er repräsentiert, wenn man es genau nimmt, eigentlich keinen Idealisten, sondern einen Phantasten, jemand, bei dem ein starker Widerspruch zwischen dem äußerlich recht tristen Leben und der Welt seiner Imagination besteht. Dieser Widerspruch setzt sich in vielen Wesensmerkmalen dieser Person fort: Da ist der Verwaltungsangestellte, der pflichtbewusste, immer korrekte Bürokrat in ihm und da ist der Dilettant und Möchtegernschriftsteller, der Kreativität mit Penibilität verwechselt. Er verschätzt sich und seine Möglichkeiten und kommt so dem Leben etwas abhanden. Er träumt von einem Erfolg, der nie eintreten wird. Das wirkt zwar geckenhaft, und es lässt sich nicht abstreiten, dass Grand etwas an sich hat, das lächerlich ist, aber er ist dennoch kein Aufschneider, kein Angeber, kein Betrüger – nein, er betrügt höchstens sich selbst, was wir ein stückweit doch alle tun. Man kann über ihn lachen oder ihn bemitleiden, denn er ist trotz allem eine ehrliche Haut, die, wenn es drauf ankommt, für andere da ist:
– Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich ihn kenne; aber man muß sich gegenseitig helfen.
In den Gängen schaute Rieux unwillkürlich in alle Winkel und fragte Grand, ob die Ratten gänzlich aus seinem Viertel verschwunden seien. Der Angestellte wußte es nicht. Er habe von dieser Geschichte gehört, aber er gebe nicht viel auf die Gerüchte in seinem Quartier.
– Ich habe andere Sorgen, sagte er. (1, S.23)
Raymond RambertEr lebt nie in der Gegenwart, habe ich das Gefühl. Er ist immer woanders, nämlich bei der Frau, die er liebt. Er hat etwas abwesend-ungeduldiges an sich, etwas gehetztes. Er sagt etwas so dahin, und ist mit den Gedanken schon wieder weit weg:
«Ich glaube, ich verstehe Sie», sagte er schließlich im Aufstehen.
Der Arzt geleitete ihn zur Tür:
«Ich danke Ihnen, daß sie es so aufnehmen.»
Rambert schien ungehalten zu werden:
«Ja», sagte er, «ich verstehe, verzeihen Sie die Störung.» (2, S.17f.)
Die Isolation ist ihm besonders unerträglich, er versucht fast bis zum Schluss zu fliehen, sich der Gefahr zu entziehen, um sein eigenes Glück zu retten. So verschließt er sich die meiste Zeit den eigentlichen Erfordernissen der Situation, von der er meint, sie ginge ihn nichts an, da er nur zufällig an diesen Ort geraten sei. Er stellt sein persönliches Glück, seine Hoffnung, sein Ideal – die Liebe – über das Wohl und das Leid aller anderen. Die Geliebte in der Ferne wird für ihn unendlich begehrenswert, während das Bild ihres Gesicht in seiner Vorstellungskraft immer mehr verblasst und an Konturen verliert.
Monsieur CottardEr ist der Kollaborateur. Er ist der Schwarzhändler, der von der Pest profitiert. Das Elend der anderen wird ihm zum Glücksfall. Am Anfang des Romans erleben wir seinen gescheiterten Selbstmordversuch; er hat nichts mehr zu verlieren. Nach und nach erfährt man, dass die Justiz hinter ihm her ist, wegen einer Angelegenheit, die im ganzen Roman nicht näher benannt wird. Ihm droht die Verhaftung und die Pest – die neue Ordnung – sorgt für den Aufschub, mit dem er nicht mehr rechnen konnte. Solange andere bedroht sind und sterben, ist er sicher.
Pater PanelouxEr vertritt nicht nur die ganze Klugheit und Dialektik des Christentums und den Dogmatismus der Kirche, sondern auch den unauflösbaren Widerspruch des Glaubens. Ähnlich wie Cottard kommt auch Paneloux die Pest nicht ungelegen:
Es war Pater Paneloux, ein gelehrter und streitbarer Jesuit, dem er manchmal begegnet war und der in unserer Stadt sogar von jenen, die in Sachen Religion gleichgültig sind, sehr geschätzt wurde.
[...]
«Oh», sagte der Pater, «das muß eine Epidemie sein», und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern. (2, 23f.)
Ein Satz und der Mann ist ausreichend charakterisiert. Ich wiederhole: bewundernswert, was Camus hier vollführt. Paneloux erkennt und spricht als erster aus, was vor sich geht. Das spricht für seinen Intellekt. Doch die hinter den Brillengläsern lächelnden Augen sind vielsagend. Die Augen des Geistlichen lächeln, während der Rest seiner Mine und seines Gestus – wahrscheinlich – Betroffenheit und Anteilnahme ausdrücken. Was heißt das? Wie kann es sein, dass die Augen des Priesters angesichts der Tatsache, dass der Stadt eine Epidemie bevorsteht, lächeln? Nun, das liegt in der Wesenhaftigkeit des Glaubens (und zwar durchaus nicht nur des christlichen) begründet: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Einer der wichtigsten Sätze aus der Bergpredigt. Das Christentum fußt auf dem Leid – Elend, Krankheit und Unterdrückung sind quasi die notwendigen Bedingungen für den Glauben an einen Erlöser und eine bessere Welt. Geht es den Menschen schlecht, schenken sie dem Märchen vom Eiapopeia des Himmels den größten Glauben – und dann freut sich der, der es die ganze Zeit gepredigt hat. Auch wenn er nicht zu erklären vermag, wie das Leiden überhaupt möglich ist, steht es doch in unauflösbarem Widerspruch zu einem anderen wichtigen Grundsatz seines Glaubens und seiner Lehre, nämlich dass Gott allmächtig und gnädig ist.
Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber er kann nicht:
dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft,
oder er kann, aber er will nicht:
dann ist er mißgünstig, was Gott fremd ist,
oder er will nicht und kann nicht:
dann ist er sowohl schwach, als auch mißgünstig, also nicht Gott,
oder er will und kann, was allein sich für Gott ziemt:
woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?
(Epikur)
Und da sind wir wieder mitten drin im Theodizeeproblem.
Monsieur OthonEr ist eine der unsympathischsten Figuren im Buch, er vertritt das Bürgertum, die steife Konvention und Ohnmacht.
Auf dem Bahnsteig, in der Nähe des Ausgangs, traf Rieux auf Monsieur Othon, den Untersuchungsrichter, der seinen kleinen Jungen an der Hand hielt. Der Arzt fragte ihn, ob er verreise. Monsieur Othon, der, groß und dunkel, hab aussah wie das, was man früher einen Mann von Welt nannte, halb wie ein Leichenträger, antwortete liebenswürdig, aber knapp: [...] (2, S. 16)
Der alte SpanierNur ein seniler alter Greis – oder doch mehr?
Nur der alte, asthmatische Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit kindischer Freude: „Sie kommen, sie kommen.“ (1, S.19f.
Rieux' MutterSicherlich nur eine Nebenfigur, aber doch eine sehr angenehme.
Die Mutter des Arztes nahm die Nachricht ohne Verwunderung auf.
«So etwas kommt vor.»
Sie war eine kleine Frau mit silbergrauem Haar und sanften schwarzen Augen.
«Ich bin froh, dich wiederzusehen, Bernard», sagte sie. «Daran können auch die Ratten nichts ändern.»
Er pflichtete ihr bei; es stimmte, daß mit ihr immer alles leicht erschien. (2, S.19f.)
Sie ist wirklich ein Pol der Gelassenheit und Ruhe, während es bei ihrem Sohn unter der vermeintlich erkalteten und ruhigen Oberfläche ständig zu brodeln scheint.
* * *Am Morgen des 16. April ... (1, S.11)
Anfang Mai 1940 begannen die deutschen Truppen ihren Einmarsch in Frankreich. In der Chronologie befinden wir uns also einige Wochen vor dem Ausbruch der Kriegshandlungen.
Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc [...] bekannt gab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. (1, S.19)
Wer zählt so was so genau? Ich verstehe das als ironischen Seitenhieb auf manch "objektive" Berichterstattung. Camus muss das wissen, er war Journalist.
Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die Treppe herunter. (1, S. 11)
«Was ist das für eine Geschichte mit den Ratten?»
«Ich weiß nicht. Es ist sonderbar, aber es wird vorbeigehen.» (2, S.15)
– Die Ratten ... sagte der Richter
Rieux machte eine Bewegung gegen den Zug, kehrte sich dann aber dem Ausgang zu.
– Ja, sagte er, das hat nichts zu bedeuten. (1, S.15)
Die Mutter des Arztes nahm die Nachricht ohne Verwunderung auf.
«So etwas kommt vor.» (2, S.19)
Die Stadtverwaltung hatte nichts vor und hatte überhaupt nichts ins Auge gefaßt, begann aber damit, ihren Rat zu versammeln, um zu beraten. (2, S.21)
Ich denke, es ist klar, worauf ich mit dieser Zitatzusammenstellung hinaus will. Viele Nachbarländer Deutschlands haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt oder verdrängt: Die Machtergreifung, die zunehmende Militarisierung des NS-Regimes, die Pogrome gegen Juden, der Anschluss Österreichs. Das alles waren Vorzeichen für den Krieg, der mit dem Angriff auf Polen seinen Anfang nehmen sollte. Frankreich war – anders als im 1. Weltkrieg – nicht vorbereitet auf den Einmarsch Deutschlands. Nur so lässt sich der Schock und die Lähmung erklären und das böse Erwachen, das es dann gab:
Man hätte meinen können, daß die Erde selbst, auf die unsere Häuser gestellt waren, sich von ihrer Ladung Körpersäfte entschlacke, daß sie Furunkel und Eiterwunden an die Oberfläche steigen ließ, die bisher in ihrem Innern gärten. Man stelle sich nur die Bestürzung unserer bis dahin so ruhigen und in wenigen Tagen völlig verwandelten kleinen Stadt vor, wie ein gesunder Mensch, dessen dickes Blut auf einmal in Aufruhr gerät.
[...]
Bisher hatte man sich nur über eine etwas abstoßende Erscheinung beklagt. Jetzt bemerkte man, daß dieses Phänomen, dessen Auswirkung man noch nicht genau angeben und dessen Ursprung man nicht ausmachen konnte, etwas Bedrohliches hatte. (2, S. 22)
So far.
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)