DER STARTSCHUSS

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Hamburger
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DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 25.12.2004, 01:33


Habe die Pest vor einer guten Woche zuende gelesen. Von mir aus kann's losgehen...
(Zitat Spider)


Na dann fangen wir doch einfach an. Ich freue mich riesig auf die Diskussion mit euch die ich hiermit offiziell für eröffnet erkläre.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin jämmerlich an meinem eigenen Anspruch gescheitert und habe kein Essay auf die Beine gestellt, nicht einmal einen Poetry-Chat. Und meine Gedanken zu diesem Buch sind immer noch außerordentlich ungeordnet, wahrscheinlich auch oberflächlich. Und ich habe von den bisherigen Beiträgen, die sich inhaltlich mit dem Buch beschäftigen, noch keinen gelesen. Tiefer als ich kann man also gar nicht mehr sinken. :-D

So, und jetzt zur Sache selbst:

Ich beginne mit der Sprache des Buches, die mir ausnehmend gut gefallen hat. Camus` Erzählweise ist fast spartanisch und weitgehend frei von bombastischen Bildern. Nicht künstlich gesteigerte Vergleiche sondern das beschriebene Schicksal der Menschen und der Gang der Handlung faszinieren, wenngleich festzuhalten bleibt: An äußerer Handlung passiert gar nicht so viel. Die Pest kommt, steigt an, die Kurve schwankt ein wenig hoch und runter und die Pest verschwindet wieder. Kommen allerdings bombastisch erscheinende Bilder (der „Dreschflegel“) vor oder wird der Schrecken der Pest ausgiebig geschildert (zum Beispiel der Tod des Jungen, bei dem sich die 4 Hauptfiguren des Buches, ich glaube zum einzigen Mal überhaupt, in einem Raum befinden), so geschieht dies in funktionaler Natur. Kein Bild erschien mir nur um seiner Selbst Willen da zu sein. Der Versuchung sein Handlungsszenario voyeuristisch auszuschlachten hat sich Camus erfolgreich verschlossen. Als sehr ironisch ist in diesem Zusammenhang Grands Suchen nach dem perfekten Satz, und seine Entscheidung die Adjektive wegzulassen, anzusehen. Der künstlerische Ausdruck findet bei Camus seine Perfektion in der Einfachheit, Schlichtheit, Klarheit. Gerade das bewundere ich an diesem Werk.

Das Buch wird natürlich noch von weiteren Faktoren getragen: Erst einmal sind die Figuren allesamt sehr gut charakterisiert, ja ich würde sogar behaupten dass es sich nach langer Zeit mal wieder um ein Buch handelt, bei dem ich nie das Gefühl hatte dass eine der den Handlungsverlauf beeinflussenden/tragenden Figuren von der Charakterisierierung her gesehen abfällt.
Camus` Charaktere wirken unter anderem durch ihre authentischen Brüche niemals eintönig. Der emotionale Ausbruch des ansonsten äußerlich ruhigen und gegen die Pest ankämpfenden Arztes Rieux, die Entscheidung des Journalisten Rambert trotz aller Mühen kurz vor dem Ziel die Stadt doch nicht zu verlassen und – meine Lieblingsszene – die Szene in der sich der recht rätselhaft wirkende Tarrou Rieux offenbart mögen als, sicher nicht einzige, Beispiele hierfür dienen.

Zum Zweiten weist schon die Vorbemerkung von Daniel Defoe


Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht exisitiert.


darauf hin, dass es sich bei diesem Buch um eine Parabel handelt. Aber was ist ihr Thema? Mit einer geordneten Beantwortung dieser Fragestellung tue ich mich noch etwas schwer.

Einiges ist mir aufgefallen und das werfe ich jetzt mal einfach in den Raum:

Soziologisch gesehen beginnt der Vergesellschaftungsprozess durch die Pest ein Stück weit von vorn. Eine vormals offene ist nun eine kasernierte Gesellschaft und die marktwirtschaftlichen Elemente, die zuvor das Leben der Mitbürger weitgehend regelten und bestimmten (und die Camus`ja schon zu Beginn des Buches einer Kritik unterzieht), sind fast bedeutungslos geworden. Natürlich gibt es einige Profiteure der Pest wie zum Beispiel Cottard und natürlich muss die Ärzteschaft um die Bereitstellung von zum Beispiel Arzneien mit den zuständigen Behörden feilschen. Aber die vormalige soziale Ordnung der Gesellschaft wird neu durchmischt, da die Pest letztlich vor niemandem haltmacht. Die sozialen Akteure sind in ihrer Existenz bedroht und die Frage, die sich nun stellt ist, wie sie dem begegnen. Der Mechanismus, der sie nun bedroht und regiert, ist die Pest. Ich denke, das dies mindestens eine Grundfrage des Buches ist: Wie verhält sich der Mensch im Angesicht seines eigenen Todes? Ich glaube auch dass durch diese Grundfrage und durch die angesprochene kasernierte Gesellschaft als strukturelle Bedingung unter der diese Grundfrage gestellt wird ein sehr klarer Blick auf die vielen Facetten der menschlichen Natur möglich wird. Deshalb finde ich dieses Buch übrigens gerade in der heutigen Zeit noch wertvoller zu lesen, da wir in wesentlich ausdifferenzierten Gesellschaften leben als es zu Camus` Zeiten der Fall war.

Viele Wege, mit dem Schrecken umzugehen, werden dann charakteristisch an den Figuren des Buches dargestellt. Zwei möchte ich zum Schluss zunächst exemplarisch herausstellen.

Rambert ist lange der Überzeugung er sei ein Sonderfall. Seine Argumentation erinnert an das neoliberale Diktum, dass jeder seines Glückes Schmied sei, denn laut Rambert liegt das Glück der Gesellschaft vor allem im Glück des Einzelnen. Würde die Gesellschaft ihm sein Glück, nämlich die Ausreise zu seiner geliebten Frau, verweigern, so würde sie, folgte man dieser Logik, sich auch ein Stück ihres eigenen Glückes berauben. Also müsse die Gesellschaft ihn quasi um ihrer Selbst Willen gehen lassen. Zusammengefasst trägt er dies den ganzen wichtigen Menschen vor, mit denen er spricht. Dabei erscheint eine Überprüfung seiner Argumentation von Beginn an hohl, denn Rambert übergeht den Unterschied zwischen einer offenen Gesellschaft (in die er fliehen will) und einer geschlossenen Gesellschaft (in der er festsitzt) leichter Hand. Die kasernierte Gesellschaft, in der er sich befindet, hätte nämlich überhaupt nichts davon ihn gehen zu lassen außer der Gefahr eines Aufruhrs würde dieser Fall bekannt. Insofern kann sie keinen Gewinn daraus schlagen die Vorschriften für ihn nicht gelten und ihn gehen zu lassen. Schließlich besitzt Rambert auch keine Machtmittel, die der kasernierten Gesellschaft gefährlich werden könnten. Selbst wenn er sich mit anderen Fremden zusammentut, die sein Schicksal teilen, befände sich Rambert immer noch in einer machtlosen Minderheit. Also sucht er sich seinen eigenen Weg und erkennt im letzten Moment, dass ihn das Schicksal dieser Menschen, mit denen er ungewollt ein Leid teilt, doch etwas angeht. Er bleibt also und wendet sich ihnen zu. Dies ist eine bemerkenswerte Handlung und ein schöner Kniff in der Geschichte, liegt doch somit das Wohl der Gesellschaft nicht im egoistischen Streben des Einzelnen nach Glück, wie Rambert selber erkennt, sondern in solidarischem Handeln gegenüber seinen Mitmenschen.

Dieses solidarische Handeln gegenüber seinen Mitmenschen übt der Arzt Rieux die ganze Zeit aus. Von Beginn an tut er seine Arbeit ruhig und gewissenhaft und selbst als sie seine Käfte eigentlich übersteigt findet er Wege sie fortzusetzen. Dabei wirkt er, was ihn unheimlich symphatisch und lebensecht macht, ganz und gar nicht wie ein Held sondern wie ein ruhiger, beständig für die gute Sache tätiger Mensch. Wobei seine Ruhe ambivalent zu sehen, mehr äußerlicher Natur ist.
Als ich vor 6 Jahren meinen Zivildienst begann hat mir einer meiner Mitbewohner bei einem der ersten Abendgespräche in der WG gesagt sein Lieblingsbuch sei „Die Pest“ von Camus. Auf meine Nachfrage warum das so sei antwortete er: “Wegen dem Arzt. Ich hab das Buch gelesen als ich mich damals mit 20 beim Fußball verletzte. Ich hatte einen Kreuzbandriss. Ich spielte schon in der Landesliga, hätte vielleicht noch höher spielen können, aber nach einiger Zeit wurde klar, ich würde nur noch unter Schmerzen weiterspielen können. Ich musste aufhören. Da hat mir der Arzt imponiert. Er sitzt in der Scheiße, kann nichts machen und macht immer weiter.“
Was Sönke, so hieß mein Mitbewohner, damals sehr drastisch und etwas ungelenk ausdrückte trifft exakt den Kern wie ich finde – "er macht immer weiter." DAS ist das Bewundernswerte an dieser Figur. Sie ist schon vor der Pest helfend tätig, sie ist es während der Pest in weit größerem Umfange und sie wird es nach der Pest wieder sein. Und egal was sie alles verliert und wie groß ihre Zweifel am Sinn, oder besser: an der Wirkung der Tätgkeit ist (ist sie nicht doch nur ein unwichtiger Tropfen auf dem heißen Stein?) – sie hört nicht auf. Ohne sich zu brüsten, zu erhöhen, große Worte zu machen. Und gerade weil Rieux damit im oberflächlichen Verständnis der meisten Menschen nicht zum Helden taugt, gerade deshalb ist er für mich einer. Ich erkenne hierin auch einen Appell an den Leser, gerade in Verbindung mit Camus Aussage man müsse sich „Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“. Und gerade weil eine an den eigenen Kräften und am Gang des Weltenlaufs zweifelnde Figur mir diese Botschaft überbringt wirkt diese Botschaft bemerkenswert ungekünstelt, geradezu natürlich, als gäbe es die klebrigen Gutmenschen gar nicht, von denen man sich, verkündeten sie Ähnliches, mit Grausen abwenden würde.

So, ich kann gar nicht aufzählen was jetzt alles noch fehlt, was ich vergessen und übersprungen habe. Aber das soll für heute trotzdem reichen. Jetzt zähl`ich auf euch.

Vorfreudige Grüße,

Euer Hamburger
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Spiderman » 25.12.2004, 17:04

Hi Hamburger,

Deinen Ausführungen kann ich folgen und zustimmen. "Wie verhält sich der Mensch im Angesicht seines eigenen Todes?" halte auch ich für eine der Grundfragen des Buches. Exemplarisch führt Camus typische menschliche Reaktionsweisen aus. Beim Lesen und im Vorfeld dieser Diskussion ging mir immer wieder die Frage durch den Kopf, wie sich die Botschaft des Buches in wenigen Sätzen zusammenfassen läßt. Ich will's an dieser Stelle mal probieren:

1. Das menschliche Leben ist geprägt durch die Bewußtheit des Todes, Leidhaftigkeit, Unbeständigkeit, Begrenzheit und der Unmögichkeit, einen endgültigen Sinn darin zu erkennen.
2. Alle Manöver, die Grenzen des menschlichen Lebens und den Tod zu überwinden, laufen auf Verleugnung, Scheingefechte oder schlichtweg Scheitern hinaus.
3. Dennoch läßt sich eine glückliche Haltung entwickeln ("Sysiphos als glücklicher Mensch"), die in der Pest Rieux verkörpert.
4. Diese Haltung beinhaltet Weitermachen, Handeln, nützlich sein, helfen, Leben verlängern und Anstrengungen auf sich nehmen.

An der Stelle noch eine Bemerkung: Ein anderes Buch von Camus, der "Mythos von Sysiphos" beinhaltet so etwas wie eine essayistische Entsprechung zur "Pest". Ich hab's in diesem Forum schon an anderer Stelle mal gesagt, dieses Buch hat mir zu einem klareren Blick auf die Welt verholfen.

Gruß

Spiderman
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 26.12.2004, 13:45

Hallo Spider,

Im Wesentlichen stimme ich auch deinem Beitrag zu (Herrje ist das harmonisch hier ;-) ) wobei ich noch offen lassen möchte ob es nicht noch weitere Botschaften des Buches gibt, aber du hast ja auch keinen Alleinvertretungsanspruch erhoben.

Drei Haare in der Suppe habe ich aber dennoch gefunden.

Du schreibst...


2. Alle Manöver, die Grenzen des menschlichen Lebens und den Tod zu überwinden, laufen auf Verleugnung, Scheingefechte oder schlichtweg Scheitern hinaus.


"den Tod zu überwinden" würde ich eher durch "die Gewissheit des Todes zu verdrängen" ersetzen.

Allerdings hätte ich für diesen gesamten Punkt 2, auch wenn ich ihm emotional sofort und unbedingt zustimme, gerne ein paar praktische Beispiele aus dem Buch.

Und dem Punkt 3 stimme ich nicht so ganz zu, da du von einer glücklichen Haltung sprichst und dies auf das Sysiphos-Zitat von Camus beziehst. Hier würde ich der Klarheit halber unterschieden wollen zwischen der Haltung selbst und dem Träger der Haltung. Die Haltung selbst, die du in Punkt 4 treffend charakterisierst, ist als "glücklich" anzusehen, in der Tat. Der Träger der Haltung selbst ist ganz und gar nicht glücklich. Es heißt ja in dem Zitat "Wir müssen uns Sysiphos als glücklichen Menschen vorstellen." Ich glaube eine Tragik dieser Haltung liegt daran, dass sie von außen als "glücklich", oder besser als "richtig" angesehen werden kann, ihrem Träger aber viel Leid aufbürdet, was auch die innere Spannung zeigt unter der die Figur des Bernhard Rieux steht.
Das Zitat bezieht sich eher auf die Außenstehenden. Wir müssen uns den, dessen Leid uns unermeßlich und vor allem sinnlos erscheinen will als glücklich vorstellen und ihn uns zum Vorbild nehmen, sonst werden wir nicht mehr glücklich oder besser sonst können wir kein moralisch vertretenswertes Leben führen.
Das ist noch etwas ungelenk ausgedrückt aber das scheint mir der eigentliche Kern des Zitates zu sein. Vielleicht hattest du auch genau das gemeint, dann unterstützen meine Ausführungen diese "glückliche Meinung" ;-) selbstverständlich.

Gruß,

Hamburger
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Spiderman » 26.12.2004, 15:03

Na Gott sei Dank hast Du ein paar Haare in der Suppe gefunden, Hamburger, ansonsten wären wir mit unserer Diskussion auch schnell am Ende.

Geht es darum den Tod zu überwinden oder die Gewißheit des Todes zu verdrängen? Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ja klar, es geht um Abwehrmechanismen, den Tod als Gewißheit und Grundlage des Lebens nicht wahrhaben zu müssen. Meinem Eindruck nach laufen viele dieser Abwehrmechanismen darauf hinaus, so zu tun, als wäre er überwindbar, dieser Tod. Beispiel Religion: der Tod wird nicht mehr als das Endgültige gesehen, sondern als eine Zäsur, die zu einem anderem, dem ewigen Leben führt. Allerdings versucht die Religion auch leichzeitig, dem Tod eine Sinnhaftigkeit abzuringen (der Priester), was im weiteren Verlauf der Pest ad absurdum geführt wird. Weiteres Beispiel: Rambert meint, durch eine Flucht aus den Mauern dem Tod entgehen zu können, so als wäre er vom Tod ganz ganz eigentlich gar nicht betroffen. Rambert und der Priester sind auch Beispiele für meinen Punkt 2.

Ist Rieux nun glücklich oder müssen wir ihn und nur so vorstellen, damit wir nicht verzweifeln. Hier muss ich Dir widersprechen, ich glaube wirklich, dass Rieux im Grunde ein glücklicher Mensch ist. Allerdings bedeutet das nicht, dass es für ihn kein Leid, keine Anstrengung gibt, ganz im Gegenteil. Die meisten Menschen hängen vielleicht der Illusion an, dass Glück so etwas bedeutet wie Freiheit von Leiden. Vielleicht ist dem ja gar nicht so. Vielleicht ist Glück das Ergebnis einer dialektischen Haltung. Als These: das Bewußtsein der Leidhaftigkeit, der Endlichkeit, der Absurdität und die Akzeptanz von all dem. Rieux schaut den Tatsachen ins Auge und akzeptiert, dass es Tatsachen sind. Als Antithese: das Handeln, das auf Veränderung abzielt, das auf die Überwindung von Leiden und Lebensverlängerung hinausläuft. Das ist Rieuxs ärztliche Tätigkeit. Die glückliche Haltung könnte die Synthese davon sein, glücklich, weil mit sich und der Welt im Reinen. Hm, das trifft's vielleicht nur ungefähr. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass Camus nicht so etwas sagen will wie "eigentlich geht's ihm total dreckig, aber laßt uns mal so tun, als wäre er der glücklichste Mensch der Welt".

So weit erstmal

Spider
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 27.12.2004, 14:14

Hallo Spiderman,

na Gott sei Dank siehst du diese Haare in der Suppe nicht oder sie sehen für dich anders aus, denn so können wir muter weiter diskutieren

Erster Punkt ist folgender


Geht es darum den Tod zu überwinden oder die Gewißheit des Todes zu verdrängen?
Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ja klar, es geht um Abwehrmechanismen, den Tod als Gewißheit und Grundlage des Lebens nicht wahrhaben zu müssen.


Statt "Grundlage des Lebens" würde ich eher sagen als "Abschluss des Lebens" (ich bin aber auch pingelig, was? ;-) ).

Darauf läuft nämlich auch dein überzeugendes Religionsbeispiel mit Pater Paneloux hinaus.

Du schreibst es ja selbst


Beispiel Religion: der Tod wird nicht mehr als das Endgültige gesehen, sondern als eine Zäsur, die zu einem anderem, dem ewigen Leben führt.


Mit der Forumlierung "den Tod zu überwinden" hingegen kann ich mich mittlerweile besser anfreunden. Wenn die sinnhafte Integration des Todes in das ewige Leben damit gemeint ist bin ich fast einverstanden. Denn der Tod wird im Christentum (bleiben wir aus praktischen Gründen da es näher am Buch ist doch gleich dort) nicht einfach nur als der Tod gesehen sondern als Anfang eines neuen, ewig währenden Lebens. Aber wird der Tod damit überwunden? Ihn gilt es ja dennoch zu erleiden, die physische Existenz wird beendet. Das leugnet nichtmals das Christentum. Aber das wahrscheinlich zu penibel gedacht von mir.

Dein Beispiel mit Rambert überzeugt mich hingegen nicht. Er spricht meines Erachtens vor allem immer davon, dass er zu diesen Menschen nicht dazugehöre, dass er in diese Geselslchaft nicht gehöre, ihm durch seine Zwangsanwesenheit hier sein Glück gestohlen würde. Natürlich kann man das im Sinne des Gleichnisses auslegen im Sinne von:"Ich gehöre nicht zu diesen Sterbenden".
Aber ob Rambert sich deshalb vom Tode an sich überhaupt nicht betroffen fühlt, davon gar kein Bewusstsein hat, nicht weiß dass er eines Tages sterben wird? Ich finde das fragwürdig. Hier bin ich unverschämt und verlange nach Textstellen oder hätte gerne eine wie auch immer geartete weitere Ausführung des Ganzen.

Was du zu Rieux schreibst finde ich außerordentlich interessant. Ich denke These und Antithese hast du gut getroffen, aber ob sich daraus Glück ergibt? Den Schluss den du ziehst wage ich zu bezweifeln. Ich hänge ganz und gar nicht
dem edanken an ass Glück die "Freiheit von Leiden" bedeutet. Aber Glück ist für mich auch ein schwebender, ein selten greifbarer, auf alle Fälle ein außergewöhnlicher Zustand. Ich war glücklich nach unserem ersten O livro-Treffen am 17.Januar als ich mit Dirk in der Bahn saß und wir das Treffen revue passieren ließen, war glücklich nach und während des DLS-Treffens, es gab noch einige weitere solche Momente in diesemJahr. Aber ein Glück das in einer beständigen Haltung liegt lässt sich für mich nur schwer vorstellen. Natürlich bin ich a aber angreifbar, da ich noch nie mit mir selbst im Reinen war. Doch auch da bin ich mir nichtmals so sicher, ob Rieux mit sich selbst im Reinen ist. Als Rambert ihn zu Beginn besucht - dies nur als ein Beispiel - sagt er folgendes


Rieux sagte, ohne lauter zu werden, das wisse er nicht, aber es sei die Sprache eines in der Welt, in der er lebe, überdrüssigen Menschen, der jedoch für seinesgleichen etwas übrig habe und entschlossen sei, was ihn anginge, Ungerechtigkeit und Konzessionen abzulehnen


Hier habe ich mich sofort eines gefragt: Existiert nicht auch eine unvermeidliche
Dialektik zwischen Individuum und Welt? Wie kann ein Individuum überhaupt mit sich selbst im Reinen sei, wenn es der Welt, in der es lebt, überdrüssig ist?


Übrigens...


Jedenfalls bin ich mir sicher, dass Camus nicht so etwas sagen will wie "eigentlich geht's ihm total dreckig, aber laßt uns mal so tun, als wäre er der glücklichste Mensch der Welt".


so krass habe ich es nicht ausgedrückt aber in die Richtung geht es schon, wobei ich das Sysiphos-Zitat am Ende des Buches natütrlich einfach auf Rieux bezogen habe.
Vor allem habe ich nie vom "glücklichsten Mensch der Welt" gesprochen. Aber wie erklärst du dir im Zitat denn den Bezug auf die Außenstehenden "Wir" und vor allem das Zwangswort "müssen"? Warum sagt Camus nicht einfach "Sysiphos ist im Grunde ein glücklischer Mensch"?

So weit erstmal meinerseits,

der Hamburger

der auch auf weitere Stimmen hofft auch wenn er mit der netten Lyrik-Spinne von nebenan außerordentlich gut diskutiern kann
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Spiderman » 28.12.2004, 16:45

Hi Hamburger,

ich muss gestehen, dass bei meinen Ausführungen manchmal weltanschauliche Überlegungen mit hinein spielen, die sich vielleicht gar nicht aus der "Pest" ableiten lassen. Auch habe ich gerade das Buch gar nicht vorliegen, so dass ich mit Textstellen als Beleg in höchstem Maße geizig bin.

Der Tod als Grundlage oder Abschluß des Lebens? Eigentlich kann man doch sagen, dass es Leben nur geben kann, weil es den Tod gibt. Ohne Tod funktioniert das ganze System doch gar nicht. Deshalb würde ich den Tod als Grundlage und Abschluß des Lebens bezeichnen. Ob das Camus genauso sieht?

Zu Rambert: naja, zumindest sieht er sich selbst so, dass er ungerechtfertigt mit dem Tod konfrontiert ist. Klar, da ist ein Bewußtsein vom Tod, jedoch gleichzeitig die Illusion, dass der Tod etwas für die anderen sei. Sobald Gerechtigkeit wiederhergestellt und ihm die Flucht gelungen ist, stellt der Tod kein Thema für ihn mehr dar. Aber, Hamburger, wahrscheinlich hast Du Recht: ein generelles Nicht-Betroffensein vom Tod war von mir vielleicht überinterpretiert.

Mit der Frage nach Glück und nach Rieuxs Haltung sind eine Unmenge von Fragen aufgeworfen, auf die ganze philosphische, weltanschauliche und religiöse Systeme gründen: Was ist Glück? Bedeutet Glück die Erfüllung von Trieben, Wünschen, Begierden? Oder bedeutet Glück die Freiheit von Trieben, Wünschen, Begierden? Bedeutet Glück die Freiheit von inneren und äußeren Konflikten? Oder die Akzeptanz der Widersprüche? Ist das Glück eine Illusion oder real? Ist Glück flüchtig oder als Ziel ein beständiger Zustand?

In einer Sache hast Du sicher recht: Rieux ist mit der Welt nicht im Reinen, dennoch nimmt er sie so, wie sie ist, und versucht nicht, sich in irgendwelche Illusionen zu flüchten.

Mich würden ehrlich gesagt an dieser Stelle weitere Meinungen interessieren. Weil so viele von Euch unbedingt Camus disuktieren wollten, durfte ich nicht mein geliebtes Buch "Geschichte machen" hier ausbreiten. Wo sind denn nun die ganzen Camus-Fans?

Gruß

Spider
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Silentium » 28.12.2004, 16:55

mein geliebtes Buch "Geschichte machen"....


Die sind beschäftigt und versprechen, sobald wie möglich was dazu zu sagen. Tröstet es dich, wenn ich sage, dass ich dafür meinen Bookreport in Englisch über das "Geschichte machen" schreib?
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 28.12.2004, 20:36


Die sind beschäftigt und versprechen, sobald wie möglich was dazu zu sagen. Tröstet es dich, wenn ich sage, dass ich dafür meinen Bookreport in Englisch über das "Geschichte machen" schreib?


Mich tröstet das in keinster Weise :-|
Hoffentlich Spider auch nicht.

Aber: WIR WARTEN :-p
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Edekire » 28.12.2004, 20:48

Wisst ihr eigentlich wie lange es her ist das ich das buch gelesen habe? wann fing die lesezeit an? Ja , genau ich habe noch an dem abend angefangen, an dem die entscheidung dann gefallen war. Ich muss ehrlich zugeben, ich habe zwar noch soviel schimmer, das ich eure Haare in wessen Suppe zwar irgendwie nachvollziehen kann, aber nicht gerade mehr.

Das übel geht noch weiter, ich schreibe im januar abi, ich habe keine zeit was anderes zu lesen, als die bücher zur vorbereitung zum zweiten mal :-(

aber ich bin nicht schuld, ich war pünktlich fertig...
ich wünschte ich hätte musik, doch ich habe nur worte
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 28.12.2004, 23:37

Sorry da muss ich dir widersprechen, Edekire

Ich war auch pünktlich fertig. Und keiner hat mich oder dich oder irgendwen sonst daran gehindert direkt nach dem Auslesen des Buches ein Essay zu schreiben, einen Poetry-Chat auf die Beine zu stellen oder die Diskussion sonstwie in irgendeiner Form, und wenn es nur ein Posting mit den ersten Eindrücken ist, zu beginnen. Und es hat auch keiner dich oder mich oder sonstwen daran gehindert zu Dirks oder Metagös weit zurückliegenden Beiträgen etwas zu sagen.

Wie lange die Lesephase dauern wird und wann sie beginnt war auch von Anfang an bekannt und auch die Modifikation Anfang Dezember wurde bekannt gegeben.

Versteh mich nicht falsch, aber mich nervt dieses "ich bin nicht schuld" doch gewaltig. Weißt du, meine mehr oder weniger subtilen Aufforderungen an alle Voting-Aktivisten loszulegen zielen wirklich nur auf ein Ziel: eine Diskussion in Gang zu bekommen!

Verschont mich - ich weiß das klingt verdammt hart, aber ich bin auch schon wieder verdammt enttäuscht - um Himmels Willen bitte alle mit weiteren Postings warum was nicht geht. Klar haben wir alle unsere Prioritäten, aber ich vermute viel eher ein Organisationsproblem im Selbstmanagement bezüglich der Zeiteinteilung bei vielen Mitlesern, auf Grund dessen jetzt die Zeit knapp geworden ist. Das zeigt sich übrigens auch an dem großen Erfolg von "TI" und an anderen Foren hier, in die viele eine Unmenge Zeit, - GottseiDank - hineinstecken. So ein Buch, auf einmal gelesen und dann umfassend zu diskutieren, ist eben erstmal ein Brocken. Die Ordnung der eigenen Gedanken erfordert hier einiges an zeit, somit auch eine große dauerhafte Investition, auch in die Diskussion. Dafür ist eine gründliche Planung der eigenen Zeitreserven fast unerlässlich. Und ich glaube da haben wir alle Schwierigkeiten.
Man muss eben viel Zeit investieren um seine Gedanken zu ordnen und planen wann man das tut. Und ich wiederhole es: Dieser Weg war niemandem in den letzten Monaten versperrt, nur weil hier im Forum nicht viel passierte.


Versteh mich bitte abermals nicht falsch, da du jetzt das Gefühl haben musst es gewissermaßen stellvertretend abzukriegen: Ich beziehe mich in all diese Vorwürfe ausdrücklich mit ein. Ich schrieb es schon, ich bin an meinen eigenen Ansprüchen jämmerlich gescheitert. Aber ich will trotzdem eine Diskussion zu diesem Buch, nein ich wünsche sie mir von Herzen.

Eine eventuelle Debatte über Modifizierungen und Schwierigkeiten des gesamten Pozesses lass uns nach dem Diskussionsende Ende Januar führen. Wobei ich kaum weiß was wir noch entgegenkommend modifizieren sollen, denn zwangloser als dieses Mal geht es nun wirklich nicht mehr.

Wie dem auch sei - ich dürste nach inhaltlichen Beiträgen. Und ich verleihe meiner nach diesem Beitrag sicher naiven Hoffnung Ausdruck dennoch schnell zu einer breiten inhaltlichen Diskussion mit möglichst vielen Usern zu kommen.

Nochmals sorry für die harten Worte, aber ich musste mir mal Luft machen.

Nimms mir nicht übel.

Bleibt die Frage: Wer steigt ein?

Liebe Grüße sendet,

Hamburger
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Silentium
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Silentium » 01.01.2005, 02:35

So. Der Rieux. Die Gefah, dass ich Blödsinn schreib, ist jetzt übermäßig groß, aber wurscht.

Nämlich:
Dieses solidarische Handeln gegenüber seinen Mitmenschen übt der Arzt Rieux die ganze Zeit aus. Von Beginn an tut er seine Arbeit ruhig und gewissenhaft und selbst als sie seine Käfte eigentlich übersteigt findet er Wege sie fortzusetzen. Dabei wirkt er, was ihn unheimlich symphatisch und lebensecht macht, ganz und gar nicht wie ein Held sondern wie ein ruhiger, beständig für die gute Sache tätiger Mensch. Wobei seine Ruhe ambivalent zu sehen, mehr äußerlicher Natur ist.


Es gibt da diese Stelle (die ich jetzt nicht find), wo es darum geht, dass er kein Mitleid mehr empfindet. Er schaut zu, wie die Leute sterben, schaut ihnen beim Leiden zu, aber empfindet kein Mitleid mehr. An der Stelle hat er auf mich gewirkt, als würde er nicht weitermachen, weil es seine Art ist, weiterzumachen und zu helfen, sondern weil es für ihn völlig egal ist, ob er weitermacht oder nicht. So wie es leichter ist, wenn man einen Hang hinunterrennt, weiterzulaufen, als zu anzuhalten, weil das anhalten Energie kosten würde, die nicht mehr da ist. Und erst, wie sie dann gemeinsam im Meer baden gehen, hat er beschlossen weiterzulaufen und es nicht einfach getan.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Hamburger » 02.01.2005, 20:45

Hallo Silentium,


Es gibt da diese Stelle (die ich jetzt nicht find), wo es darum geht, dass er kein Mitleid mehr empfindet. Er schaut zu, wie die Leute sterben, schaut ihnen beim Leiden zu, aber empfindet kein Mitleid mehr. An der Stelle hat er auf mich gewirkt, als würde er nicht weitermachen, weil es seine Art ist, weiterzumachen und zu helfen, sondern weil es für ihn völlig egal ist, ob er weitermacht oder nicht. So wie es leichter ist, wenn man einen Hang hinunterrennt, weiterzulaufen, als zu anzuhalten, weil das anhalten Energie kosten würde, die nicht mehr da ist. Und erst, wie sie dann gemeinsam im Meer baden gehen, hat er beschlossen weiterzulaufen und es nicht einfach getan.


Ich habe die Stelle jetzt leider auch nicht gefunden. Wo ungefähr kommt sie denn vor?

Ich kann jetzt nur aus dem Gedächtnis sagen dass es sogar einige Stellen im Buch gibt an denen Rieux mitleidlos, ja regelrecht kalt auf mich gewirkt hat. Ich denke das ist in seiner Situation nach einer gewissen Zeit sogar unumgänglich denn nur durch diese Abschottung seines Gefühlslebens nach außen (die natürlich immer nur eine provisorische Abschottung sein kann) kann er weiter tätig bleiben.

Mich hat das übrigens an mein Empirisches Praktikum erinnert, an das Wesen der Sozialarbeit mit behinderten Menschen, das immer von einem doppelten Vermittlungsproblem gekennzeichnet ist, welches prinzipiell auch immer auf den Arzt und seine Tätigkeit zutrifft. Man kann das übertragen.

Zum Einen soll zu dem kranken Menschen als solchem eine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut werden. Er soll als Mensch gesehen werden der in einer seiner Funktionen beeinträchtigt ist, nicht als defekte Maschine die man repariert wie ein Auto.

Zum Anderen muss diese zwischenmenschliche Beziehung balanciert werden, das heißt das Mitgefühl - welches der Arzt auf der zwischenmenschlichen Ebene zwangsläufig für den Patienten empfindet - muss eine deutliche professionelle Distanzierung erfahren, da der Arzt sonst vor lauter sich gemein machen mit den Problemen des Patienten psychisch daran gehindert wird seine Fähigkeiten zur Heilung auszuspielen, da er von seinem überbordenden Mitgefühl sonst blockiert wird.

Rieux ist nun ein Extremfall und befindet sich in einer Extremsituation. Aus seiner Perspektive ist das Leiden seiner Patienten nach einer kurzen Zeit schon Routine und zweitens scheint er treffend zu bemerken, dass er sich nicht ständig mit dem Leiden dieser Menschen gemein machen kann, da es sich hier um die Pest, also um ein Vorkommnis auf Leben und Tod, eine existenzielle Erfahrung für die Leidenden also, handelt.

Ich glaube aber - im Gegensatz zu dir - nicht dass es ihm egal ist ob er weitermacht. Aber ich glaube dass es oft so scheint.

Vor der von dir geschilderten Schwimmszene liegt beispielsweise der schreckliche Tod des Jungen, der zum einzigen Ausbruch Rieuxs im ganzezen Buch führt. Ich denke in den Schlusssätzen des Dialoges mit Pater Paneloux wird Rieux Einstellung dann sehr deutlich...


"Was ich hasse, sind der Tod und das Böse, das wissen Sie ja. Und ob Sie wollen oder nicht, wir sind zusammen da, um sie zu erleiden und zu bekämpfen." (Seite 248 unten bis Seite 249 oben, Rohwolt-Ausgabe)


Hinzufügen möchte ich noch eine Stelle aus dem Dialog mit Rambert, die ich schon einmal zitiert habe...


"Das ist die Sprache Saint-Justs", sagte der Journalist lächelnd.
Rieux sagte, ohne lauter zu werden, das wisse er nicht, aber es sei die Sprache eines in der Welt, in der er lebe, überdrüssigen Menschen, der jedoch für seinesgleichen etwas übrig habe und entschlossen sei, was ihn anginge, Ungerechtigkeit und Konzessionen abzulehnen.
(Seite 17 Mitte, Rohwolt-Ausgabe)


Rieux muss nicht mehr groß beschliessen ob er hilft oder nicht. Der "wahre Arzt", wie Tarrou ihn bei seiner Offenbarung Rieux gegenüber nennt, ist in Rieux von Beginn an angelegt. Und zwar ob er will oder nicht. Er kann gar nicht anders. Auch deshalb hat er eine so besonders starke Wirkung auf mich. Sein Handeln entspricht seinen Überzeugungen, ohne Showeffekte aber immer unbedingt.

Es ist ihm nicht egal was er tut. Es ist aber bereits so tief in ihm verwurzelt, dass er sich und auch dem Leser darüber keine große Rechenschaft mehr ablegen muss.

Und deshalb - und hier stimme ich dir wieder zu - hat Rieux so etwas was man "einen Lauf" nennen kann. Er hört nicht auf.

Aber er hört nicht deswegen nicht auf weil er nicht die Energie hat abzustoppen. Er hört deswegen nicht auf weil es seinem tiefsten Naturell entspricht nicht aufzuhören. Dabei empfindet er seine Taten nicht als heldenhaft sondern das eine an seinen Mitmenschen auszuübende Pflicht, ganz gleich was komme. Wie am Schluss des Buches deutlich wird ist Rieux auch so etwas wie ein Wissender, was ihm die Erfüllung dieser Pflicht vorschreibt...


Aber er wußte dennoch, daß diese Chronik nicht die des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was vollbracht werden mußte und was ohne Zweifel noch alle Menschen vollbringen müßten, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen den Schrecken und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die zwar keine Heiligen sein können und die Plagen nicht zulassen wollen, sich aber bemühen, Ärzte zu sein.
Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Freude immer bedroht war. Denn er wußte, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, daß nämlich der Pestbazillus nie stribt und nie verschwindet, daß er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, daß er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde
(Rohwolt-Ausgabe, letzte Seite)


Auch diesen Abschluss zu Grunde gelegt ist es sehr unwahrscheinlich dass es ihm jemals egal ist ob er weitermacht, wenngleich er so wirkt.
Er fühlt in solchen Momenten, in denen er am Sinn seines Tuns zweifelt, so würde ich behaupten, intuitiv dass er weitermachen muss. Er kann sich die totale Gleichgültigkeit, eben auf Grund seines Wissens und seiner Bestimmung als "wahrer Arzt" nicht leisten und so findet er immer wieder einen Impuls weiterzumachen.
In diesem Zusammenhang finde ich dein Bild, um nochmal auf Rieuxs Lauf zurückzukommen, ausgezeichnet, denn er wer einen Hang hinunterläuft wird zwangsläufig schneller. Würde Rieux abstoppen würde er fallen. Er würde damit sich und seine tiefsten Überzeugungen verletzen. Wäre ihm egal ob er weitermacht täte er das. Aber das ist es eben nicht. Insofern kann man sagen dass Rieux auch seine eigene Würde dadurch gewinnt, dass er weiterläuft, obwohl er um seine Person nie ein Eufheben macht.


Nochmal zur Schwimmszene: Diese Szene ist etwas ganz Besonderes. Es ist die einzige Szene in der es Rieux vergönnt ist so etwas wie Glück zu empfinden, einmal außerhalb der Pest zu stehen, die Pest nicht mal als Gesprächsthema zu haben. Das wirkt wie der Lichtstrahl am Horizont (welch kitschiges Sonntagsbild) und wie eine Andeutung dessen dass für den beständig trotz seiner Zweifel am Sinn seines Tuns tätigen, helfenden Menschen Momente des Glücks, der Erfüllung, des Friedens, denkbar sind.

Ehrlich gesagt ist diese Szene so schön (auch das vorhergehende Gespräch) dass ich sie heute noch mehrmals lese und mir beim Lesen eine Gänsehaut den Rücken runter läuft.

Liebe Grüße,

Hamburger
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Khadija
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Re: DER STARTSCHUSS

Beitragvon Khadija » 04.01.2005, 00:56

Es gibt einige Stellen, bei denen diese Abstumpfung Rieuxs (und nicht nur seine, sondern eigentlich die aller Mitstreiter) ausdrücklich betont wird:

Nach diesen aufreibenden Wochen, nach all diesen Abenddämmerungen, da die Stadt sich in die Straßen ergoß, um sich dort im Kreis zu bewegen, begriff Rieux, daß er sich nicht mehr gegen das Mitleid zu wehren brauchte. Man wird des Mitleids müde, wenn es nutzlos ist. Und im Gefühl dieses langsam sich verschließenden Herzens fand der Arzt die einzige Entlastung von diesen zermürbenden Tagen. Er wußte, daß es seine Aufgabe erleichtern würde. Deshalb freute er sich darüber.

(Rowohlt-Taschenbuch, S. 105)



Doktor Rieux stellte es fest, als er an seinen Freunden und an sich selbst das Zunehmen einer merkwürdigen Gleichgültigkeit beobachtete. Diese Männer, die bis dahin ein so lebhaftes Interesse für alle Nachrichten über die Pest gezeigt hatten, machten sich jetzt zum Beispiel gar keine Gedanken mehr darüber.

(Rowohlt-Taschenbuch, S.213)


Was die anderen anging, die Tag und Nacht von ihrer Arbeit beansprucht waren, so lasen sie weder Zeitung noch hörten sie Radio. Und wenn ihnen ein Ergebnis mitgeteilt wurde, taten sie so, als interessierten sie sich dafür, nahmen es aber tatsächlich mit jener zerstreuten Gleichgültigkeit auf, wie man sie sich bei den Frontkämpfern der großen Kriege vorstellt, die, völlig abgekämpft, nur noch darauf bedacht sind, in ihren täglichen Pflichten nicht zu versagen und keine Hoffnung mehr auf die entscheidende Kampfhandlung noch auf den Tag des Waffenstillstands hegen.

(Rowohlt-Taschenbuch, S. 214)


Diese Stellen untermauern aber meiner Ansicht nach nur Hamburgers These, dass Rieux deswegen nicht aufgibt, weil dies seinem Naturell widerspricht. Denn diese Abstumpfung ist Mittel zum Zweck, sie ermöglicht es Rieux weiterzumachen. Er verliert sein Mitleid (bis zu einem gewissen Punkt), weil ihm dies seine Arbeit erleichtert. Er verliert den Überblick über das große Ganze um sich auf seinen Bereich konzentrieren zu können.
Dies alles geschieht nicht, weil ihm alles egal ist, sondern es sind Begleiterscheinungen seiner Arbeit.

Nächtliche Grüße

Khadija
...words strain,
Crack and sometimes break, under the burden,
Under the tension, slip, slide, perish,
Decay with imprecision, will not stay in place,
Will not stay still.


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