Einstieg

Was liest Du gerade? Was kannst Du empfehlen? Was war ein Reinfall? Benutze dieses Forum, um Deine eigenen Rezensionen zu publizieren.
gelbsucht
Pegasos
Beiträge: 1105
Registriert: 25.04.2002, 20:55
Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel

Einstieg

Beitragvon gelbsucht » 21.12.2002, 01:56

Dann will ich mal mutig sein und den Anfang machen!

Ich habe mir vorgenommen vor allem inhaltlich zu diskutieren, was mir interessant, was mir kontrovers erscheint - immer eng am Text. Aber vorweg möchte ich auch ein paar allgemeine Worte zu der Rezension "Goethe mal anders?!" verlieren. Was hat mir gefallen? Sie ist prägnant, ohne Schnörkel und Umschweife und bemüht sich schnell auf den Punkt zu kommen, sie verhehlt nicht die Meinung des Rezensenten. Sie gibt dem, der das Buch noch nicht gelesen hat, eine kurze Inhaltsangabe, setzt sich mit einem der wichtigsten Aspekte des Romans auseinander, nämlich Werthers Charakter, sie bemüht sich um Gründe und versucht das Buch auch in einem größeren Kontext zu betrachten. Was hat mir nicht gefallen? Ich wurde ja schon der Täuschung überführt, als mein eigener Essay dann doch etwas länger und intensiver wurde, als ich es vorher plante und dementsprechend verlautbarte. Ich bin also schuld, dass mein Kompagnon glaubte, ein bisschen weniger tiefsinnig ist auch okay. Darf ich es sagen? Man merkt es seiner Rezension auch an! Ein bisschen salopp, ein bisschen geschlunzt wirkt sie auf mich. Interessante Fragen und Aspekte werden aufgeworfen und gestreift, aber nicht näher verfolgt. Natürlich muss man dabei auch bedenken, dass sich eine Rezension vornehmlich an jemanden wendet, der das Buch noch nicht gelesen hat - mein eigener Essay wird dann die Schwäche aufweisen, dass er dieser Zielgruppe eher unzugänglich, um nicht zu sagen unverständlich vorkommen muss. Lassen wir das! Öffnen wir die Büchse und schauen, was drin ist.

Zu 1.) Zusammenfassung

Die Inhaltsangabe ist gut und richtig. Aber sie ist auch, was dieses Buch angeht, vollkommen nebensächlich, wenn sie sich nur auf das bloße Geschehen konzentriert. Das ist der Auftakt der Rezension - aber ist er imstande den Leser zu fesseln und für das rezensierte Buch zu interessieren? Ich glaube: eher weniger. Wie ich in meinem Beitrag bereits schrieb: "Wenn man es recht bedenkt, bilden hier die äußeren Handlungen und Ereignisse lediglich den Rahmen zu der Erzählung, eigentlich interessant und spannend wird sie durch das, was sich im Inneren ereignet." Nichts von der Spannung des Buches lässt sich zusammenfassen, indem man sich einfach nur auf "Ereignisse" bezieht, das widerstrebt ganz dem subjektiven Grundzug dieses Buches, des Stroms der Reflektion und Vermittlung durch Werthers Augen. Am Anfang ist Werthers Herz und nichts anderes, dieses Herz ist viel wichtiger, als jeder Krumen Realität, den wir hier zu fassen meinen. Ich will diesen Einwand abmildern: mit all dem beschäftigt sich die Rezension auch noch im folgenden. Nur eben als Auftakt scheint mir diese Zusammenfassung unzureichend: zwar wird der äußere Konflikt herausgeschält, aber ansonsten sind es Nebensächlichkeiten, mit denen sie sich beschäftigt, die niemanden dazu verleiten werden, das Buch zu lesen. Gefallen an dieser Zusammenfassung hat mir, dass sie nicht alles erzählt, dass sie nach gut der Hälfte des Buches abbricht und den Fortgang offen lässt. Das ist geschickt gemacht vom Rezensenten!

Einen inhaltlichen Aspekt möchte ich noch herausgreifen und etwas eingehender diskutieren: "Werther ... lernt ... die attraktive Charlotte (im Roman im Folgenden stets Lotte genannt) kennen, zu der er sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig vom ersten Moment an stark hingezogen fühlt." Es ist Liebe auf den ersten Blick:
Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete - wie die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, [...]
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 23-24, Brief vom 16. Junius 1771)

Da er sie von Anfang an auch körperlich begehrt, sie aber nicht begehren darf, weil sie schon verlobt ist und es ihm die gesellschaftliche Konvention, die christliche Norm untersagt, entsteht daraus einer der schönsten Konflikte im Buch. Wir sehen Werther, wie er ständig mit sich kämpft, Lotte nicht berühren, nicht umarmen, nicht küssen zu dürfen, obwohl es sein sehnlichstes Verlangen ist. Die Spannungsbogen zwischen Reiz, Lust und Verbotenem, dieser psychische Kampf, das ist eine wunderschöne, prickelnde Erotik - der Leser sehnt und leidet ständig mit Werther, bis sich die Spannung bis zum Unerträglichen steigert und entlädt.
Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird's schwindelig vor den Sinnen. - O! und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt, und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, daß der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann:- ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt.- Und, Wilhelm! wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen -! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! schwach genug!- Und ist das nicht Verderben?
Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 38-39, Brief vom 16. Julius 1771)

Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin, ihr um den Hals zu fallen! Weiß der große Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn fällt? - Und ich?
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 84, Brief vom 30. Oktober 1772)

Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen. [...] Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? warum durft' ich nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? [...] Ich widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: Nie will ich es wagen, einen Kuß euch aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben. - Und doch - ich will - Ha! Siehst du, das schwebt wie eine Scheidewand vor meiner Seele - diese Seligkeit - und dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen - Sünde?
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 87-88, Brief vom 24. November 1772)

Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, [...]. Ihre Sinn verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 115)

Man sieht sehr schön an diesen Zitaten die Entwicklung, den inneren Kampf, den Werther durchsteht - und am Ende verliert? Erstaunlich ist, wie lange dieses erotische und psychologische Spannungsverhältnis aufrechterhalten und gesteigert wird. Mir ist lediglich ein Buch eingefallen, indem ich bereits eine ähnliche Ausdauer des Erzählers, eine Auflösung herbeizuführen, vorgefunden habe: Der Zauberberg. Hier wartet man auch unaufhörlich, dass es zu einem erlösenden Kuss zwischen Hans Castorp und Claudia Chauchat kommt, und wartet vergeblich.

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Hamburger
Phantasos
Beiträge: 1808
Registriert: 28.04.2002, 23:48
Wohnort: Hamburg

Re: Einstieg

Beitragvon Hamburger » 24.12.2002, 04:04

Eine erste Antwort auf einen ersten Anfang!

Mangelnde Tiefsinnigkeit - erkenne ich an. Hätte ich mal nicht auf meinen Kompagnon gehört - aber lassen wir das.

Es wäre mir schwer gefallen die Zusammenfassung der Handlung, die ich für notwendig halte, erst später einzubauen. Durch die Zusammenfassung konnte ich mich in dem durch sie gesetzten Rahmen später in der Rezension bewegen. Vielleicht hätte ich aber in der Zusammenfassung schon deutlicher herausstellen sollen, das die äußeren Ereignisse eher den Rahmen bilden für das, was sich in Werthers Innerem ereignet.

An dem von dir herausgegriffenen Aspekt ist für mich vor allem auch interessant, das Lotte ebenfalls eine Entwicklung durchlebt, denn auch diese unschuldige Seele begreift irgendwann, das Werther sie abgöttisch und über alles liebt. Am Anfang weist das Leiden des Werthers, wie auch deine Zitate zeigen, noch eine gewisse Selbstreferentialität auf, aber später (das zeigt vor alem dein letztes Zitat) leidet Lotte mit. Sie leidet mit Werther und es heisst ja Mitleid ist das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann.

In diesem Zusammenhang finde ich es interessant, wie sie Werther von seiner Vorstellung, die Beiden könnten doch noch zusammenkommen, wie sie ihn von seiner Fixierung lösen will.

O warum mussten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, was sie einmal anfassen, geboren werden. Ich bitte Sie, fuhr sie fort, indem sie ihn bei der Hand nahm, mäßigen Sie sich Ihr geist, ihre Wisnschaften, ihre Talente, was bieten Sie Ihnen für mannigfaltige Ergetzungen dar? Sei`n Sie ein Mann! (Seite 126, Zeile 20-26 - nach dem Brief vom 20.Dezember geschildert vom Herausgeber)


Interessant auch, wo wir gerade bei den Leiden sind. Aus Werthers Leiden entsteht alles Leiden. Die unglücklich begehrte Lotte leidet, Albert leidet unter dem Tratschen der Leute, der Freund Wilhelm wird ebensotraurig die Briefe empfangen wie die Mutter die Nachrichten der Briefe. Fräulein B leidet mit dem geschundenen Werther bei Hofe, ebenso wie der Graf von C und der Fürst. Entweder der Werther tut einem leid oder man leidet aufgrund seiner Leidenschaften - oder beides.
Es ist echt kein Vergnügen für einen fröhlichen unbeschwerten Menschen ihn zu kennen.

schwedische grüße,

Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

gelbsucht
Pegasos
Beiträge: 1105
Registriert: 25.04.2002, 20:55
Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel

Re: Einstieg

Beitragvon gelbsucht » 01.01.2003, 16:10

Hallo alter Schwede!

Meine Kritik an deiner Zusammenfassung sollte nicht bedeuten, dass ich finde, sie wäre an sich überflüssig, nebensächlich, nicht notwendig und dürfe nicht gleich den Anfang machen. Mir ging es eher darum, was eine Rezension leisten soll, was du selbst durch diese Art von Text bei deinem Leser zu erreichen suchst. Einerseits möchtest du ihm den Inhalt eines anderen, ihm fremden Textes näher bringen und zusammenfassen. Andrerseits ist es deine Absicht, den Leser für das Buch, das dir gefallen hat, zu gewinnen, zu interessieren, neugierig zu machen (es gibt natürlich auch Rezensionen, die das Gegenteil bewirken wollen). Beides leistet deine Zusammenfassung nur bedingt. Anders ausgedrückt: mir ist deine Zusammenfassung zu sachlich, zu trocken, zu banal. Einerseits in Hinsicht auf den Gegenstand, den sie behandelt, andererseits auf den Zweck, den die Rezension verfolgt. Bei jeder Art von literarischem Text ist der Auftakt, die Exposition bedeutsam: hier entscheidet sich, ob der Leser an den Text gebunden werden kann oder nicht, hier wird sein erster Eindruck bestimmt, hier entscheidet sich, ob er weiterliest oder nicht, und wenn, mit welcher Erwartungshaltung und Neigung er fortfährt zu lesen. Das gilt auch für die Rezension und bevor man eine schreibt, sollte man sich also überlegen, welches Ziel man mit einem solchen Text erreichen will und welcher Anfang einem solchen Ziel angemessen ist.
An dem von dir herausgegriffenen Aspekt ist für mich vor allem auch interessant, dass (!) Lotte ebenfalls eine Entwicklung durchlebt, denn auch diese unschuldige Seele begreift irgendwann, dass (!) Werther sie abgöttisch und über alles liebt. Am Anfang weist das Leiden des Werthers, wie auch deine Zitate zeigen, noch eine gewisse Selbstreferentialität auf, aber später (das zeigt vor allem dein letztes Zitat) leidet Lotte mit.
Also die Entwicklung Lottes ist mir weniger deutlich, wenn ich ehrlich bin, und wenn es tatsächlich eine Entwicklung gibt, dann ist sie immer noch durch Werthers Augen vermittelt und wir müssen uns fragen, ob es sich wirklich so verhält oder ob es nur sein Wunschdenken ist, dass sie an ihm teilnimmt. Mir sind bis zum Schluss des Buches ihre Gefühle für Werther nicht ganz klar: ist es nur Freundschaft, die sie für ihn empfindet, oder ist es Liebe? Am Ende bringt uns der Herausgeber nahe, dass auch sie leidet. Dem stimme ich zu. Während Werther leidet, weil er sich nicht nehmen darf, wonach er sehnlichst verlangt, leidet Lotte, weil sie diesen Zustande ihres Freundes endlich durchschaut (aber nicht etwa, weil sie ihm geben möchte und nicht geben darf, was er sich ersehnt). Auch früher schon ist sich Werther ihrer Teilnahme sicher:
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen.
Aber es ist wieder nur ein Blick, an dem er das festmacht. Und mitfühlen, mitleiden ist nicht zu verwechseln mit lieben! Doch an anderen Stellen wirkt Charlotte, obwohl sie bereits eine Ahnung haben müsste, was in Werther vorgeht und welche Wirkung sie auf sein Gemüt ausübt, ziemlich rücksichts- und ahnungslos. Relativ spät im Buch begegnet uns die Szene mit dem Kanarienvogel, die mit den folgenden Worten endet:
Ich kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht wecken! - Und warum nicht? - Sie traut mir so! sie weiß, wie ich sie liebe!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 80, Brief vom 12. September 1772)
Wenn sie tatsächlich seinen inneren zerrissenen Zustand kennt, wenn sie tatsächlich mit ihm mitfühlt und -leidet, warum provoziert sie ihn dann so? Entweder ist sie wirklich die "himmlische Unschuld", für die Werther sie hält, aber hat keine Ahnung von dem Ausmaß seiner Leiden, sonst würde sie unterlassen, was sie tut. Oder wir nehmen es, wie es hier steht: sie weiß tatsächlich, wie sehr Werther sie liebt, stachelt seine Leidenschaft noch an und potenziert damit auch seine Leiden. Das überzieht aber die "himmlischen Unschuld" in meinen Augen mit einem deutlichen Schatten, das wirkt doch ziemlich selbstsüchtig, rücksichtslos und hintertrieben. Es würde bedeuten: sie spielt mit ihm, obwohl sie weiß, dass er heftig leidet. Das ist ein Charakterzug der mehr zu einer Carmen aus Georges Bizets gleichnamiger Oper passen würde und nicht zu dem als Engel verherrlichten, niedlichen Bild von Lotte, das mir beim Lesen immer vor den Augen herumschwebte.

Dann die Stelle, die du selbst zitierst! Sie ist auch für mich interessant - allerdings unter einem anderen Aspekt: indem Lotte versucht, Werthers Besuche zu reduzieren und selbst etwas Abstand zu gewinnen, indem sie ihn bittet, sich zu mäßigen und seine empfindliche Reaktion erlebt, scheint ihr erst das Ausmaß seiner Liebe und seiner Leiden deutlich zu werden. Erst jetzt scheint ihr vollkommen klar zu werden, wie stark seine Leidenschaft und Neigung zu ihr ist. Ihre Unbefangenheit in seiner Gegenwart schwindet; erst jetzt scheint sich in ihrem fröhlichen, ungetrübten Gemüt ein Konflikt anzubahnen: sie fühlt mit ihm, fühlt, wie schwer ihm die Trennung fällt. Sie ist aufrichtig besorgt um ihn. Ihr Rat und ihre Worte sind ernst, aber sie kommen natürlich viel zu spät! Interessant ist auch, dass sie gar nicht selbst auf den Gedanken verfallen ist, seine Besuche müssten reduziert werden, vielmehr kommt sie hier dem Wunsche ihres Ehemannes nach. So geht der besagten, von dir zitierten Stelle, dieses voraus:
Albert fing von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und wünschte, daß es möglich sein möchte, ihn zu entfernen. - "Ich wünsch' es auch um unsertwillen," sagt er, "und ich bitte dich," fuhr er fort, "siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern. [...]"
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 97)

Aus Werthers Leiden entsteht alles Leiden. Die unglücklich begehrte Lotte leidet, Albert leidet unter dem Tratschen der Leute, der Freund Wilhelm wird ebenso traurig die Briefe empfangen wie die Mutter die Nachrichten der Briefe. Fräulein B leidet mit dem geschundenen Werther bei Hofe, ebenso wie der Graf von C und der Fürst. Entweder der Werther tut einem leid oder man leidet aufgrund seiner Leidenschaften - oder beides.
Es ist echt kein Vergnügen für einen fröhlichen unbeschwerten Menschen ihn zu kennen.
Das ist ein interessanter Aspekt, den du hier herausgreifst. Es ist ja nicht nur ein einzelner Mensch, der hier ins Unglück stürzt, sondern alle anderen zieht er mit. Denn auch sein Tod ist doch, anders als er es darstellt und inszeniert, keine Lösung. Das aber bedenkt der Selbstmörder nicht, wie die Welt nach ihm aussieht, welchen Schmerz und welcher Verwirrungen er anrichtet, er denkt vielmehr nur an sich und ist auf seine eigene Welt und Wünsche fixiert. Er denkt, durch seinen Tod würde er Albert und Lotte nicht mehr im Wege stehen (zumindest im Leben), aber in Wirklichkeit zerstört er durch seinen Selbstmord auch ihr Glück. Sie bleiben zurück mit der Schuld, und anstatt die beiden in seinem letzten Brief von jeder Schuld zu entlasten, lädt er noch mehr auf ihre Schultern, treibt den Keil noch weiter zwischen sie und beansprucht Lottes Liebe, auf die er nach christlicher Moral kein Recht hat. Bedenken wir nur in welche Verlegenheiten er die Zurückgebliebenen mit seinem letzten Brief an Lotte versetzt!
Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfaßt, diese Lippen haben auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist mein! du bist mein! ja, Lotte, auf ewig.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 117)
Am Ende zeigt sich am deutlichsten sein Egoismus, seine selbstsüchtige Rücksichtslosigkeit auf die, die er liebt, in den Worten, mit denen er den Empfang der Mittel, die zu seinem Tod benutzt werden sollen, quittiert.
Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels, begünstigst meinen Entschluß, und du, Lotte, reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach! nun empfange!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 121)
Wie kann man das nur jemandem antun, den man liebt? Wie kann man denen, die man zurücklässt, nur soviel Schuld und Gewissensqual aufbürden? Wie blind muss man sein? Wie Hohn klingen daher seine Worte an Albert (in meinen Ohren):
O daß ihr glücklich wäret durch meinen Tod!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 121)
Wie können sie glücklich werden? Wir kann er das ernsthaft meinen, wo er alles daransetzt, sie ins Unglück zu stürzen, sie leiden, sie mitleiden zu lassen und ihnen Schuld, ihnen Mitschuld aufzuerlegen? Damit haben wir einen anderen deutlichen Widerspruch in Werthers Charakter identifiziert - wir brauchen uns nur an diese Worte erinnern:
"Sie nannten den bösen Humor ein Laster, mich deucht, das ist übertrieben." - "Mit nichten," gab ich zur Antwort, "wenn das, womit man sich selbst und seinen nächsten schadet, diesen Namen verdient. Ist es nicht genug, daß wir einander nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich."
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 34, Brief vom 1. Julius 1771)
Hier gewinnt dann meine Rede von Hybris auch mehr Sinn. Allerdings bin nicht ich es, der Werther eines Frevelhaften beschuldigt, sondern er selbst, wenn man es im Zusammenhang liest. Oder anders: er spricht ein Gebot aus, gegen das er in der Folge selbst verstößt. In seinem letzten Brief an seinen Freund Wilhelm klingt es dann fast wie eine Erkenntnis:
Das war nun mein Schicksal, die zu betrüben, denen ich Freude schuldig war.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 101, Brief vom 20. Dezember 1772)


:-) gelbe grüsse ;-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Hamburger
Phantasos
Beiträge: 1808
Registriert: 28.04.2002, 23:48
Wohnort: Hamburg

Re: Einstieg

Beitragvon Hamburger » 08.01.2003, 00:02

Moin aus der schneebedeckten Hansestadt Hamburg!

Meine Kritik an deiner Zusammenfassung sollte nicht bedeuten, dass ich finde, sie wäre an sich überflüssig, nebensächlich, nicht notwendig und dürfe nicht gleich den Anfang machen.


So habe ich es auch nicht verstanden. Meine ersten beiden Sätze...

Es wäre mir schwer gefallen die Zusammenfassung der Handlung, die ich für notwendig halte, erst später einzubauen. Durch die Zusammenfassung konnte ich mich in dem durch sie gesetzten Rahmen später in der Rezension bewegen


sollten nur verdeutlichen das die Handlung ja schliesslich irgendwo zusammengefasst werden muss und gleich zu Beginn der beste Zeitpunkt dafür ist, um den Leser gleich mit der Geschichte des Buches und den Figuren ein wenig vertraut zu machen.
Daher stellt sich für mich die Frage: Wie fesselt man den Leser gleich zu Beginn einer Rezension? Zuerst einmal muss er doch wissen worum es geht, wann und wo die Geschichte spielt, mit welchen Figuren sie bestückt ist und wer mit wem in welcher Beziehung verbandelt ist....oder nicht?

Dennoch ist die Kritik (zu sachlich, zu trocken, zu banal) korrekt, aber einen Ausweg aus dem Dilemma - für beispielsweise eine nächste Rezension - habe ich noch nicht gefunden.

Also die Entwicklung Lottes ist mir weniger deutlich, wenn ich ehrlich bin, und wenn es tatsächlich eine Entwicklung gibt, dann ist sie immer noch durch Werthers Augen vermittelt und wir müssen uns fragen, ob es sich wirklich so verhält oder ob es nur sein Wunschdenken ist, dass sie an ihm teilnimmt.


Widerspruch, denn...

Mir sind bis zum Schluss des Buches ihre Gefühle für Werther nicht ganz klar: ist es nur Freundschaft, die sie für ihn empfindet, oder ist es Liebe? Am Ende bringt uns der Herausgeber nahe, dass auch sie leidet. Dem stimme ich zu. Während Werther leidet, weil er sich nicht nehmen darf, wonach er sehnlichst verlangt, leidet Lotte, weil sie diesen Zustande ihres Freundes endlich durchschaut (aber nicht etwa, weil sie ihm geben möchte und nicht geben darf, was er sich ersehnt).


..du schreibst hier selbst, das sie mit ihm leidet, weil sie diesen seinen Zustand endlich durchschaut. Also leidet sie mit (von einem Grund für das Leiden hatte ich nicht gesprochen, hatte nicht darüber spekuliert).

Halten wir fest: Sie leidet mit!

Ferner: Wenn sie den Zustand Werthers endlich durchschaut, dann hat sie das vorher nicht getan. Dies kennzeichnet eine Entwicklung.

Weiterin: Es wird uns nicht alles durch den Werther vermittelt, sondern auch ein wenig was durch den Herausgeber (wie du ebenfalls selbst schreibst).
Lassen wir ihn sprechen:

So viel ist gewiss, sie war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche freundschaftliche Schonung, weil sie wusste, wie viel es ihm kosten, ja dass es ihm beinah unmöglich sein würde
(Seite 125, Reclam-Ausgabe)



Auch der Herausgeber spielt hier darauf an, dass sie mit ihm leidet, denn er spricht eben davon, dass sie ihm nicht weh tun, ihn nicht verletzen will und es hört sich nicht so an als spiele sie mit ihm.

Und alle leiden mit ;-)

Übrigens: Legt man dieses Zitat zugrunde empfindet sie eher freundschaftliche Zuneigung für Werther als Liebe.

Noch ein Zitat deinerseits:

Wenn sie tatsächlich seinen inneren zerrissenen Zustand kennt, wenn sie tatsächlich mit ihm mitfühlt und -leidet, warum provoziert sie ihn dann so? Entweder ist sie wirklich die "himmlische Unschuld", für die Werther sie hält, aber hat keine Ahnung von dem Ausmaß seiner Leiden, sonst würde sie unterlassen, was sie tut. Oder wir nehmen es, wie es hier steht: sie weiß tatsächlich, wie sehr Werther sie liebt, stachelt seine Leidenschaft noch an und potenziert damit auch seine Leiden.


Ich glaube: Sie IST die "himmlische Unschuld" und HAT eine Ahnung vom Ausmaß seiner Leiden, glaubt aber den Werther durch ihre Lebensfreude von seinen Leiden abbringen zu können. Ich ziehe hier das gerade schon teilweise zitierte Urteil des Herausgebers heran, der sich dieses ja wiederum gebildet hat nachdem er mit vielen Leuten geredet hat.
Allerdings haben wir es dann mit einer zwar reizvollen, aber sehr naiven, um nicht zu sagen einfältigen Frau zu tun.

Deiner Anklage gegen den Werther bezüglich seines Selbstmordes stimme ich zu und wieder nicht. Bei mir bleibt das Verhältnis dazu ambivalent. Insbesondere Werthers Gleichnis hat mich fasziniert, mit dem er bei der Diskussion mit Albert auf ein Mädchen hinweist das sich ermordet (Reclam-Heft, Seite 57ff) weil ihr Geliebter sie verlässt.
Es muss für einen Menschen in Werthers Lage und mit Werthers Charakter einfach hohl, dumm und schal wirken, wenn ihm zur Vernunft und zur Mäßigung geraten wird. Seinen Selbstmord verurteile ich prinzipiell nicht. Es ist immer noch er der über sein Leben zu entscheiden hat und nur um Andererwillen leben erscheint mir nicht sinnvoll.
Ich verurteile aber seinen schlussendlichen Pathos, seine religiösen Narreteien und seinen Abschiedsbrief. Er hätte die Konsequenzen seines Handelns mit Würde für sich tragen müssen - dann wäre er in meinen Augen ein wahrer Held
gewesen.

Aber mit seinem unbestechlichem Auge für das Unvollkommene und Unwahre auf dieser Erde bleibt er für mich ja immer noch ein Idol.... ;-)

MFG,

Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

gelbsucht
Pegasos
Beiträge: 1105
Registriert: 25.04.2002, 20:55
Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel

Re: Einstieg

Beitragvon gelbsucht » 25.02.2003, 23:16

(Habe ich noch auf meiner Festplatte gefunden ...)

Hallo Ham,

ich finde deine Art, mich hier des Widerspruchs zu überführen, plump, weil dabei der Gehalt meiner Differenzierungen verloren zu gehen scheint. Zunächst habe ich die Perspektive von Werther und des Herausgebers unterschieden. Schon diese Unterscheidung wird mir aber irgendwie zum Vorwurf gemacht (ohne, dass ich wüsste, mit welcher Absicht):
Es wird uns nicht alles durch den Werther vermittelt, sondern auch ein wenig was durch den Herausgeber (wie du ebenfalls selbst schreibst).
Der Herausgeber berichtet es so, als würde Lotte erst am Ende des Buches das ganze Ausmaß von Werthers Gefühlen durchschauen und erst jetzt anfangen, sich ihrer eigenen Empfindungen bewusst zu werden, jetzt, wo sie sich von ihm trennen soll. Davon zu unterscheiden: die Entwicklung, die uns durch Werthers Augen vermittelt wird. Ich habe nirgendwo bestritten, dass Lotte am Ende so etwas wie Freundschaft und/oder Mitleid für ihn empfindet. Ich bin nur skeptisch in Bezug auf die Anteilnahme, deren sich Werther viel früher (vor dem Bericht des Herausgebers) schon sicher meint. Es tut mir Leid, wenn ich mich etwas undeutlich oder missverständlich ausgedrückt habe.
Seinen Selbstmord verurteile ich prinzipiell nicht . . . Ich verurteile aber seinen schlussendlichen Pathos, seine religiösen Narreteien und seinen Abschiedsbrief. Er hätte die Konsequenzen seines Handelns mit Würde für sich tragen müssen -
Das unterschreibe ich! Darauf können wir uns verständigen!

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Besucher

Re: Einstieg

Beitragvon Besucher » 05.03.2005, 12:55

Schönen guten Tag,

ich bin auf der Suche nach einer Zusammenfassung nach Briefen, wenn ich das so nennen darf, der Leiden des jungen Werther, auf dieses Forum gestoßen und wollte einfach mal fragen ob es möglich wäre, diese hier zu bekommen?

Vielen Dank

Mit freundlichen Grüßen
Basti

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Einstieg

Beitragvon Silentium » 05.03.2005, 13:19

Hallo Basti!

Ich antworte dir sicherheitshalber, damit kv es nich tut - die wird dann immer so unhöflich. :-D

Also: du kannst an Material verwenden, was du hier findest - es ist öffentlich zugänglich. Wenn du etwas nicht verstehst, hast du hier gute chancen, dass jemand es dir erklärt. Was du aber sicher nicht findest: jemanden, der auf Anfrage deine Hausaufgaben macht. Sorry, dafür sind wir das falsche Forum.

Mit freundlichen Grüßen,
Silentium
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Besucher

Re: Einstieg

Beitragvon Besucher » 05.03.2005, 14:09

Nur um es aufzuklären: Ich bin nicht mehr in der Schule sondern kurz vor meinem Studium und hatte einfach nur Interesse daran.
Aber trotzdem vielen Dank und noch viel Spaß.

PS: Fällt eure Urteile nicht zu früh!!

Mit freundlichen Grüßen

Basti

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Einstieg

Beitragvon Silentium » 05.03.2005, 14:42

Sorry, wir hatten einfach schon zu viele Hausaufgabenschnorrer. Sorgsam herangezüchtete Vorurteile quasi. :-o

Aber warum liest du dann das blöde Buch nicht einfach? Ist kaum eine Stunde lesezeit.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Silentium
Mnemosyne
Beiträge: 2771
Registriert: 24.05.2003, 17:50

Re: Einstieg

Beitragvon Silentium » 05.03.2005, 14:46

I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

vogel
Phantasos
Beiträge: 1889
Registriert: 28.05.2003, 19:55
Wohnort: Braunschweig
Kontaktdaten:

Re: Einstieg

Beitragvon vogel » 05.03.2005, 21:35

Das WWW ist grenzenlos - Ihr macht doch eh alle was ihr wollt :-D
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.


Zurück zu „Rezensionen“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 46 Gäste