Ich habe mir vorgenommen vor allem inhaltlich zu diskutieren, was mir interessant, was mir kontrovers erscheint - immer eng am Text. Aber vorweg möchte ich auch ein paar allgemeine Worte zu der Rezension "Goethe mal anders?!" verlieren. Was hat mir gefallen? Sie ist prägnant, ohne Schnörkel und Umschweife und bemüht sich schnell auf den Punkt zu kommen, sie verhehlt nicht die Meinung des Rezensenten. Sie gibt dem, der das Buch noch nicht gelesen hat, eine kurze Inhaltsangabe, setzt sich mit einem der wichtigsten Aspekte des Romans auseinander, nämlich Werthers Charakter, sie bemüht sich um Gründe und versucht das Buch auch in einem größeren Kontext zu betrachten. Was hat mir nicht gefallen? Ich wurde ja schon der Täuschung überführt, als mein eigener Essay dann doch etwas länger und intensiver wurde, als ich es vorher plante und dementsprechend verlautbarte. Ich bin also schuld, dass mein Kompagnon glaubte, ein bisschen weniger tiefsinnig ist auch okay. Darf ich es sagen? Man merkt es seiner Rezension auch an! Ein bisschen salopp, ein bisschen geschlunzt wirkt sie auf mich. Interessante Fragen und Aspekte werden aufgeworfen und gestreift, aber nicht näher verfolgt. Natürlich muss man dabei auch bedenken, dass sich eine Rezension vornehmlich an jemanden wendet, der das Buch noch nicht gelesen hat - mein eigener Essay wird dann die Schwäche aufweisen, dass er dieser Zielgruppe eher unzugänglich, um nicht zu sagen unverständlich vorkommen muss. Lassen wir das! Öffnen wir die Büchse und schauen, was drin ist.
Zu 1.) Zusammenfassung
Die Inhaltsangabe ist gut und richtig. Aber sie ist auch, was dieses Buch angeht, vollkommen nebensächlich, wenn sie sich nur auf das bloße Geschehen konzentriert. Das ist der Auftakt der Rezension - aber ist er imstande den Leser zu fesseln und für das rezensierte Buch zu interessieren? Ich glaube: eher weniger. Wie ich in meinem Beitrag bereits schrieb: "Wenn man es recht bedenkt, bilden hier die äußeren Handlungen und Ereignisse lediglich den Rahmen zu der Erzählung, eigentlich interessant und spannend wird sie durch das, was sich im Inneren ereignet." Nichts von der Spannung des Buches lässt sich zusammenfassen, indem man sich einfach nur auf "Ereignisse" bezieht, das widerstrebt ganz dem subjektiven Grundzug dieses Buches, des Stroms der Reflektion und Vermittlung durch Werthers Augen. Am Anfang ist Werthers Herz und nichts anderes, dieses Herz ist viel wichtiger, als jeder Krumen Realität, den wir hier zu fassen meinen. Ich will diesen Einwand abmildern: mit all dem beschäftigt sich die Rezension auch noch im folgenden. Nur eben als Auftakt scheint mir diese Zusammenfassung unzureichend: zwar wird der äußere Konflikt herausgeschält, aber ansonsten sind es Nebensächlichkeiten, mit denen sie sich beschäftigt, die niemanden dazu verleiten werden, das Buch zu lesen. Gefallen an dieser Zusammenfassung hat mir, dass sie nicht alles erzählt, dass sie nach gut der Hälfte des Buches abbricht und den Fortgang offen lässt. Das ist geschickt gemacht vom Rezensenten!
Einen inhaltlichen Aspekt möchte ich noch herausgreifen und etwas eingehender diskutieren: "Werther ... lernt ... die attraktive Charlotte (im Roman im Folgenden stets Lotte genannt) kennen, zu der er sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig vom ersten Moment an stark hingezogen fühlt." Es ist Liebe auf den ersten Blick:
Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete - wie die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, [...]
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 23-24, Brief vom 16. Junius 1771)
Da er sie von Anfang an auch körperlich begehrt, sie aber nicht begehren darf, weil sie schon verlobt ist und es ihm die gesellschaftliche Konvention, die christliche Norm untersagt, entsteht daraus einer der schönsten Konflikte im Buch. Wir sehen Werther, wie er ständig mit sich kämpft, Lotte nicht berühren, nicht umarmen, nicht küssen zu dürfen, obwohl es sein sehnlichstes Verlangen ist. Die Spannungsbogen zwischen Reiz, Lust und Verbotenem, dieser psychische Kampf, das ist eine wunderschöne, prickelnde Erotik - der Leser sehnt und leidet ständig mit Werther, bis sich die Spannung bis zum Unerträglichen steigert und entlädt.
Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird's schwindelig vor den Sinnen. - O! und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt, und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, daß der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann:- ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt.- Und, Wilhelm! wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen -! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! schwach genug!- Und ist das nicht Verderben?
Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 38-39, Brief vom 16. Julius 1771)
Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin, ihr um den Hals zu fallen! Weiß der große Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn fällt? - Und ich?
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 84, Brief vom 30. Oktober 1772)
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen. [...] Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? warum durft' ich nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? [...] Ich widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: Nie will ich es wagen, einen Kuß euch aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben. - Und doch - ich will - Ha! Siehst du, das schwebt wie eine Scheidewand vor meiner Seele - diese Seligkeit - und dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen - Sünde?
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 87-88, Brief vom 24. November 1772)
Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, [...]. Ihre Sinn verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 115)
Man sieht sehr schön an diesen Zitaten die Entwicklung, den inneren Kampf, den Werther durchsteht - und am Ende verliert? Erstaunlich ist, wie lange dieses erotische und psychologische Spannungsverhältnis aufrechterhalten und gesteigert wird. Mir ist lediglich ein Buch eingefallen, indem ich bereits eine ähnliche Ausdauer des Erzählers, eine Auflösung herbeizuführen, vorgefunden habe: Der Zauberberg. Hier wartet man auch unaufhörlich, dass es zu einem erlösenden Kuss zwischen Hans Castorp und Claudia Chauchat kommt, und wartet vergeblich.
gelbe grüsse