Kritisches meinerseits

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Hamburger
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Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 24.12.2002, 03:38

Zunächst ein paar Worte zum Essay Lieben und Leiden:
Dem Essayisten ist zu gratulieren. Der Essay ist äussert umfangreich ohne sich der Schwafelei hinzugeben, beschäftigt sich tiefsinnig mit dem Buch. Ganz besonders gefällt mir die Tatsache der Existenz einer Würdigung an sich zu Beginn und das von einem Manne, der dem grossen Goethe sehr kritisch gegenübersteht. Insbesondere das Kapitel (Werthers ambivalente Persönlichkeit) hat mich, wenngleich ich inhaltlich manches anders sehe, überzeugt, ja sogar überrascht! So viel aus dem Charakter des Werther herauszuholen ist gewiss eine Leistung, vor der der Hut gezogen werden muss. Was den Umfang und das Kriterium der Tiefsinnigkeit angeht ist meine Rezension diesem Essay nicht ebenbürtig. Ausserdem ist dieser Essay sprachlich wesentlich besser.

Was das Inhaltliche angeht, so befinden sich der Essayist und ich aber längst nicht überall auf einer Wellenlänge, insbesondere was Kapitel 3 (Werthers ambivalente Persönlichkeit angeht. Seinem Anspruch das zu diskutieren was interessant und/oder kontrovers erscheint kann ich mich nur anschliessen. Zum Einstieg stürze ich mich daher auf
Kapitel 3:

1. Mir will die Rede von der Hybris (Seite 5, 2.Absatz) nicht so ganz einleuchten. Ich habe das Wort zum ersten Mal in Bezug auf die Titanic-Katastrophe gehört. Da erschien es mir auch ganz angemessen, das Verhalten der Besatzung, der Passagiere und der Journalisten als Hybris zu bezeichnen, nämlich als frevelhaften Übermut. Und bei Werther? Sicherlich passt Übermut zu diesem idealistischen Träumer, aber frevelhaft? Was ist daran frevelhaft das Unbedingte, Vollkommene und Unendliche zu suchen und überall in der Welt nur das Bedingte, Unvollkommene und Endliche zu erkennen. Schon Faust, eine der berühmtesten literarischen Figuren überhaupt, strebte danach zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich kann in diesem Verhalten keine Frevelhaftigkeit erkennen. Aber der Essayist definiert ja hier Hybris auch anders, spricht von der Ursache für das Verhängnis, das ihm (Werther) zuteil wird. Diese Ursache ist aber nicht Werthers Hybris. Es müsste ein anderer Begriff gefunden werden, kein so negativ besetzter.

2.
Vernunft, Bildung und Mäßigung beurteilt er mit Geringschätzung, für ihn ist das Maß aller Dinge sein eigenes Herz. Es ist für ihn auch die ausschlaggebende Instanz bei allen Entscheidungen, die er zu treffen hat. (Seite 5, 3.Absatz)

Was den zweiten Satz angeht, so finde ich es erstaunlich, das Werther es dennoch schafft sich von seiner Lotte für eine lange quälende Zeit loszusagen, als er die Stelle bei Hofe antritt und dann den Frühling bei einem Fürsten auf dem Jagdschloss verbringt. Bis wir das erste Mal wieder von einer Begegnung seinerseits mit Lotte aus seinen Briefen hören vergeht insgesamt über ein Jahr. (10.September 1771 - 12.September 1772)
Dies sollte immer bedacht werden, wenn davon die Rede ist, das der Werther nur seinem eigenem Herzen folgt.

3. Frage: Was ist (Seite 6,Absatz 2) mit Speculation gemeint. Es gelingt mir nicht dieses dort verwendete Wort in einen ordentlichen Sinnzusammenhang zu stellen.

4. Es ist korrekt Werther seinen Realitätsverlust vorzuwerfen (besonders Seite 8), jedoch bin ich der Meinung das die in der Tat als unschuldig geschilderte Lotte hier nicht mit einer rhetorischen Frage
War sie es nicht gewohnt, im Hause ihres Vaters umschwärmt und von allen geliebt zu werden?

in Schutz genommen werden sollte. Werther gehört a) nicht zu ihrer Familie und dürfte deswegen b) nicht ständig bei ihr zu Hause sein um sie zu umschwärmen aber c) er ist ständig bei ihr um sie zu umschwärmen. Also selbst die unschuldigste Seele sollte sich da nach einiger Zeit einen Reim darauf machen können, ansonsten sollte das Wort unschuldig richtigerweise durch einfältig ersetzt werden. Alleine die Tatsache wie er mit ihren Geschwistern spielt (Brief vom 29.Junius) müsste ihr doch klar gemacht haben welch heftige Gemütsbewegungen diesen Charakter auszeichnen.

5. Auch finde ich es merkwürdig, wie negativ der Essayist Werthers Verhalten rund um die Stellung, die er bei Hofe antritt, bewertet. Er wirft Werther die Flucht vor Lotte und die vom Hofe zu Lotte vor. Beides halte ich für ungerechtfertigt. Ersteres, weil er seinen Entschluss die Stellung bei Hofe anzutreten nach reiflicher Überlegung fasst
Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu
verlassen - Brief vom 3.September 1771

und sich teilweise sogar von der Vernunft geleitet mit der Thematik beschäftigt
Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? betriegst du dich nicht selbt? Was soll diese tobende endlose Leidenschaft? - Brief vom 30.August 1771

, Letzteres weil seine Flucht vom Hofe absolut nachvollziehbar ist. Auch ein weniger leidenschaftlicher Mensch hätte sich in dieser Gesellschaft höchst unwohl gefühlt und seine Schwierigkeiten gehabt. Wie soll Werther mit Menschen, wie mit seinem Gesandten, zusammenarbeiten, die über seine Vorgesetzten lästern, die ihn permanent für jede Kleinigkeit schlecht machen, die ein ganzes Dorf aufbringen können gegen ihn? Der Essayist wird mir vorwerfen, ich habe mich zu sehr in den Bann des Subjektivismus des Werther schlagen lassen was diese Thematik angeht. Dem widerspreche ich jetzt schon ganz entschieden. Lässt man die Arbeitsbedingungen objektiv revue passieren so war es das Beste den Hof zu verlassen. Dass der Werther selten kreativ, was ihm mehr liegen müsste, seine Emotionen und Affekte kontrolliert und sublimiert (zum Beispiel durch das Zeichnen) und wieder zu Lotte zurück kehrt ist sicher kritisierenswert, aber nicht das er die Stellung bei Hofe verließ.

6. Okay, Werthers Meinung über diee Ständegesellschaft ist zynisch und die Beispiele belegen korrekt, das es ihm bei dieser Thematik hauptsächlich um seinen eigenen Vorteil geht.
Aber: Ich könnte auch nicht mit einem geistlosen Pedanten zusammenarbeiten. Ich sehe das Problem hier eindeutig beim Gesandten. Auch der Graf erregt sich über ihn (und das zu Recht) und wie soll man mit einem Mann zusammenarbeiten...aber das hatten wir schon.
Weiter heisst es im Essay:
Mit Hochmut und Geringschätzung begegnet er schliesslich auch dem Rest der adligen Gesellschaft. Auf die, die gesellschaftlich über ihm stehen, schaut er herab. (Seite 10, 2.Absatz).

Meiner Meinung nach tut er das völlig zurecht. Sein Zynismus gegenüber ihrer Rangsucht und ihres geistlosen Wettbewerbs der Eitelkeiten ist eine völlig berechtigte Schutzreaktion seinerseits. Was soll er tun? Solche Menschen auch noch ehren, sich ihnen unterordnen und als Schleimbuckel enden? Ich verstehe hier die Kritik an Werther nicht. Korrekterweise ist sein Stolz gekränkt, als nach dem skandalösen Vorfall sich alle das Maul über ihn zerreißen - was bitte schön würde der Essayist tun der sich in einer solchen Gesellschaft befindlich unwohl fühlt und dann noch zum Tratschgegenstand jeder Kaschemme und des Hofes wird? Hier sind wir fundamental anderer Meinung.

7. Werther`s Zitat zur Arbeit (Seite 11) sollte noch in einem anderen Kontext betrachtet werden, als der Essayist es tut. Die moderne Frage lautet: Was fängt der Mensch mit seiner Freiheit an, wenn er sie denn nach Dienstschluss erhält? (wenn wir hier einmal Freiheit so definieren, das er dann im Rahmen seiner Möglichkeiten tun und lassen kann was er will und nicht mehr weisungsgebunden ist). Und ich glaube: Da hat der Werther den Nagel auf den Kopf getroffen. Es ist nur private Erfahrung, aber mir fallen spontan 5 Menschen ein, deren Leben mehr oder weniger aus Arbeit besteht und die mit freier Zeit, ohne geleitet zu werden, nichts anfangen können, denen Eigenmotivation ein Fremdwort ist. Dieser Kontext ist deshalb so interessant, weil Werther`s Kritik an der bürgerlichen Lebensform durchaus berechtigt ist und glaubwürdiger wäre, wenn er etwas zustande brächte. Doch der Essayist hat korrekt erkannt: Werther ist kein Genie!
Hier stimme ich voll und ganz zu. Und gerade deswegen wirkt seine Kritik an Anderen und deren Zeitverschwendung und Freiheitsangst höchst unglaubwürdig. Nicht nur Müßiggang ist aller Laster Anfang hat hier als Sprichwort zu gelten sondern auch Kehre erst einmal vor deiner eigenen Türe, lieber Werther.

8. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen das der Werther es nicht geschafft hätte, Lotte ein guter Mann zu sein. Er hätte eine ganz andere Motivation gehabt und die Fesseln der Einschränkung einer bürgerlichen Existenz wesentlich leichter ertragen können - behaupte ich. Aber das ist Spekulation. Schwierig geworden wäre es auf jeden Fall.

Das bestimmte So ist das mit Werther! ist schön provokativ aber wie wir gesehen haben kann man vieles dagegen setzen. Etwas schade ist es, das manche Betrachtungen des Essays, die ich richtig gut fand, unter den Tisch gefallen sind, aber zu denen hatte ich nichts mehr hinzuzufügen und keinen Diskussionsaspekt mehr gefunden. Dennoch wirken die 8 Punkte (fast alles kritische Punkte) jetzt so, als wenn hier nur eine negative Generalkritik vorgenommen wurde. Doch ich versichere, das mir dieses Essay eine durchaus differenzierte Sichtweise auf den Werther gerbacht hat und viele Gedanken beinhaltete, die ich nicht so extrem weiterverfolgt habe. Werthers Pathos, sein zunehmender Realitätsverlust, seine Idealisierung des unteren Standes und der Kinder, die Herausarbetung all dieser und vieler weiterer Aspekte gilt es hier eigentlich noch zu würdigen, aber eine Lobrede auf all diese Aspekte erscheint mir langweilig. So bleibt eine generelle Würdigung, die ich auf die anderen Kapitel mitbeziehe, die nun aber erstmal außen vor bleiben, um die Diskussion nicht ausufern zu lassen (und noch was in der Hinterhand zu haben...) ;-)

orangene grüße,

Hamburger
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gelbsucht
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon gelbsucht » 12.01.2003, 21:39

Hallo Ham!

Okay, nachdem ich jetzt meinen Compi wieder halbwegs eingerichtet (und bei der Gelegenheit gleich auf Windows XP umgestellt) habe, kann ich wieder mitreden. Ich glaube wir müssen uns ranhalten, wenn wir Ende Januar einhalten wollen!? Eventuell können wir ja im Februar noch ein wenig weiterdiskutieren, während wir schon an den „Mordphantasien“ eines Herrn Walser lesen ...

Zuerst: Für das Lob und die Anerkennung bedanke ich mich. Hat mir gut getan! Hab ich auch verdient! :-D

Dass du nicht alle Punkte meiner Charakterisierung von Werther teilen würdest war mir von vornherein klar. Mir kommt es beinah so vor, als hätte ich schon einige deiner Vorstellungen beim Schreiben meines Essays erahnt und antizipiert. Aber höchstens halbbewusst. So ähnlich wie ich bei Kafka in weiser Voraussicht ein paar Sticheleien gegen psychoanalytisch-biographische Deutungen in meinen Essay eingebaut habe, um Robert damit zu provozieren. Hat ja damals grandios funktioniert: Er war ja geradezu sprachlos. :-D

Ich gehe deine Kritikpunkte systematisch durch; werde es aber sicherlich nicht alles auf einmal bewältigen:

Zu 1.) Also diesen Punkt gebe ich dir zu. Es ist sicherlich etwas unpassend, von Hybris zu reden, nur weil Werther „das Unbedingte, Vollkommene und Unendliche sucht und überall in der Welt nur das Bedingte, Unvollkommene und Endliche erkennt.“ Eigentlich sollte diese Stelle ein Verweis auf einen späteren Teil meines Essays sein, der dann wegrationalisiert werden musste, weil er ohnehin schon so lang geraten ist und ich keine Zeit mehr hatte. Aber ich bin mir selbst nicht mehr ganz im Klaren darüber, was ich hier gemeint habe. Aber ich glaube der Begriff, so wie er auch auf die griechische Tragödie angewendet wird, passt dennoch auf Werther – allerdings in einer anderen Beziehung. Erinnerst du dich, wie er einem jungen Mann Vorhaltungen macht und ihn belehrt (Brief vom 1. Julius 1771)? Hier stellt er ein Gesetz auf, gegen das er später selber verstößt. Er stellt sich über einen anderen, in dem aufrichtigen Glauben besser zu sein, und verurteilt sich damit selbst. Nun, passt hier das Wort frevelhaft? Ich weiß es nicht. Zweifellos ist er übermütig, aber frevelhaft? Wenn wir nach der Frevelhaftigkeit seiner Handlungsweise fragen, dann fragen wir, ob er selbst mitschuldig ist an seinem Ende. Wie viel muss er selbst verantworten? Oder ist er an seinem Selbstmord ganz und gar unschuldig, weil es nichts als eine Krankheit zum Tode ist? Ich frage dich das! Für seine Empfindsamkeit und seine Leidenschaft kann man ihn sicherlich kaum verantwortlich machen – das ist ihm gegeben, das ist seine Natur. Aber liegt es nicht an irgendeiner Stelle in seiner Macht, dieses Ende abzuwenden? Es ist alles ganz folgerichtig und schicksalhaft und wir würden wahrscheinlich nicht so sehr mit ihm leiden, wenn es anders wäre, wenn er an irgendeiner Stelle eine wirkliche Wahl hätte ... Aber lesen wir doch einmal zwischen den Zeilen! Ist er wirklich ganz unschuldig an seinem Schicksal? Ist seine Handeln ganz erhaben gegen jeden moralischen Zweifel?

Zu 2.) Auch diesen Punkt gebe ich dir gewissermaßen zu. Man sollte nicht übersehen, dass Werther auch ziemlich intelligent sein muss. Ein Denker. Eine Dichternatur. Allerdings ist seine Flucht sowohl einer Entscheidung seines Herzen, als auch eine dagegen. Einerseits muss er lange von seinem Freund Wilhelm überredet werden. Es ist ja nicht gerade ein spontaner Entschluss, den er hier gefasst hat:
Ich muß fort! Ich danke dir, Wilhelm, daß du meinen wankenden Entschluß bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muß fort.
Später wird er seinem Freund und seiner Mutter vorhalten, dass sie ihn zu der Stellung bei dem Gesandten quasi überredeten, zu etwas, das er gar nicht wollte. Da entscheidet er sich einmal gegen sein Herz und was kommt dabei raus? Er muss es bereuen. Welche Ironie! Die Entscheidung fortzugehen, können wir aber auch gleichsam als Entscheidung des Herzens interpretieren, denn er merkt doch schon, wie er leidet und wie aussichtslos seine Leidenschaft ist. Und kann nicht auch ein Herz, dass leidet, sich wünschen, nicht mehr leiden zu müssen, sich dem Gegenstand, dem es unglücklich anhängt, zu entziehen? Wie ein Alkoholiker sich wünscht, dem Alkohol zu entkommen. Ein guter Vergleich: oft macht Werther den Eindruck eines Abhängigen, eines Süchtigen auf mich. „Ich muß fort“, sagt er und zwischen den Zeilen lesen wir: ich kann nicht fort, aber ich muss es trotzdem versuchen, sonst gehe ich zugrunde. Die Macht der Vernunft zeigt sich auch hier begrenzt, es gleicht eher einem Kampf zwischen Leidenschaft und Vernunft. Es ist eine schmerzliche Trennung, das will ich nicht leugnen, und die rationalen Kräfte Werthers halten hier den emotionalen noch die Waage.

Zu 3.) Speculation heißt hier: Grübelei, Nachsinnen

Zu 4.) Ich wollte den Anteil Lottes an Werthers Schicksal wirklich nicht durch eine rhetorische Frage relativieren. Kein Zweifel: sie ist bedeutsam für sein Schicksal, aber die entscheidende Frage ist: wie viel ist Absicht? Wir haben das in dem anderen Thema bereits umrissen. Ihr Handeln ist sicherlich nicht vorsätzlich und darauf gerichtet, Werther gleich einer femme fatale zu verführen und zugrunde zu richten. Mit der Frage wollte ich eher andeuten, dass sie es gewohnt ist, von anderen bewundert und umschwärmt zu werden – und die Unterscheidung zwischen Familienmitgliedern und Nicht-Familienmitgliedern ist bei dieser Gewohnheit und Erwartungshaltung wohl eher nebensächlich. Ebenso wie ein Kind, das von der Eltern verhätschelt und verwöhnt wird, dadurch zu einem Egoisten heranwächst, nicht in der Welt außerhalb der Familie mit einer anderen Erwartungshaltung und Attitüde auftreten wird. – Einfältig würde ich Lotte aber nicht nennen. Denken wir beispielsweise an das erste Treffen, wo sie ihre Meinung über einige Bücher auseinandersetzt. Naiv, aber nicht dumm – das trifft es wohl eher! Außerdem behaupte ich, dass Werther gerade in der Anfangszeit ungewöhnlich häufig bei Lotte ist – ständig ist vielleicht etwas schwammig ausgedrückt, aber er lässt keine Gelegenheit aus, bei ihr zu sein und sie tut eine ganze Zeit lang nichts, seine häufigen Besuche von sich aus zu reduzieren, obwohl sie verlobt ist und ihr Verlobter abwesend ist. Ich glaube, zu jener Zeit hätte das in jedem Fall schon für eine Frau einen zweifelhaften Ruf nach sich gezogen. Sie aber tut nichts, weil sie a.) etwas naiv ist, b.) freundschaftliche Gefühle für Werther hegt, daher c.) die ungewöhnliche Häufung nicht wahrnimmt, und nicht zuletzt d.) weil sie es eben gewohnt ist, umschwärmt, verehrt und geliebt zu werden. Allerdings ist sie offenbar nicht fähig zu erkennen, dass Werther sie auf eine andere Art „liebt“, als ihre Geschwister es tun, nämlich nicht als Mutterersatz, sondern als Frau. Ebenso wie Werther unfähig ist, zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Mitleid und Liebe zu diskriminieren. Das ist die Fatalität in der Beziehung zwischen den beiden. Sie sind beide nicht dumm, doch sie täuschen sich beide in dem anderen bzw. betrügen sich selbst, gaukeln sich etwas vor, das nicht der Realität entspricht.

Okay, den anderen vier Punkten widme ich mich in meinem nächsten Beitrag!


:-) gelbe grüße :-)
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon gelbsucht » 14.01.2003, 23:57

Auf in die zweite Runde ...

Zu 5.)
Auch finde ich es merkwürdig, wie negativ der Essayist Werthers Verhalten rund um die Stellung, die er bei Hofe antritt, bewertet. Er wirft Werther die Flucht vor Lotte und die vom Hofe zu Lotte vor. Beides halte ich für ungerechtfertigt.
Hier liegt ein Irrtum vor: ich bewerte Werthers Verhalten nicht und ich werfe ihm auch nichts vor. Ich habe lediglich versucht Werthers Charakter zu beschreiben, typische Verhaltensweisen zu identifizieren (Flucht) und Widersprüche herauszuarbeiten.
weil er seinen Entschluss die Stellung bei Hofe anzutreten nach reiflicher Überlegung fasst und sich teilweise sogar von der Vernunft geleitet mit der Thematik beschäftigt
Das gebe ich dir zu: die „Flucht vor Lotte“ ist nicht spontan, sondern durchgeplant. Aber wollen wir das wirklich „reifliche Überlegung“ nennen? Eher führt er doch mit sich selbst einen Kampf, weil es ihm schwer fällt, sich von ihr „loszureißen“ und sich aus ihrem Bann zu befreien? Hinzu kommen die Überredungsversuche von Wilhelm. Und jenseits jeder Bewertung – widerspricht es einer Flucht, dass sie lange im Vorhinein geplant und durchdacht wird und ein geeigneter Moment abgepasst wird? Mir ging es bei diesem Aspekt nicht darum, Werther irgendetwas vorzuhalten, sondern lediglich festzustellen, dass es typisch für ihn ist. Wie sinnvoll diese Aktionen sind, lasse ich dahingestellt.
Letzteres weil seine Flucht vom Hofe absolut nachvollziehbar ist. Auch ein weniger leidenschaftlicher Mensch hätte sich in dieser Gesellschaft höchst unwohl gefühlt und seine Schwierigkeiten gehabt.
Das bestreite ich nicht und ich bin mir auch nicht bewusst, Gegenteiliges in meinem Essay behauptet zu haben. Aber darum ging es mir nicht.
Lässt man die Arbeitsbedingungen objektiv revue passieren so war es das Beste den Hof zu verlassen.
Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit irgendetwas „objektiv“ zu beurteilen, da bis zu dieser Stelle alles lediglich durch die Augen von Werther vermittelt wird und notwendig subjektiv (eventuell einseitig vermittelt) ist. Ich habe in meinem Essay versucht ein paar Andeutungen zu finden und gegenüber zu stellen, die Werthers Probleme am Hof und mit dem Gesandten erklären können, die dann ein anderes Bild auf ihn werfen (Stichwort: „Ich liebe die Subordination nicht sehr ...“). Auch im Brief vom 17. Februar 1771 lässt sich durchaus erkennen, dass Werthers Probleme mit dem Gesandten durchaus nicht unbedingt etwas mit den objektiven Arbeitsbedingungen zu tun haben, sondern mit Werthers persönlicher Einstellung zu der Arbeit:
Wie er meine allzu große Empfindlichkeit zurechtweiset, wie er meine überspannten Ideen von Wirksamkeit, von Einfluß auf andere, von Durchdringen in Geschäften als jugendlichen guten Mut zwar ehrt, sie nicht auszurotten, nur zu mildern sucht, wo sie ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige Wirkung tun können.
Mit anderen Worten: ich sehe durchaus nicht ein, dass es nur die objektiven Widrigkeiten sind, die schuld an Werthers Frustration sind. Ich denke, vielmehr ist es ein Mix aus zweierlei: überzogener Anspruch und eingeschränkte Wirklichkeit. Werthers basaler Konflikt.

Zu 6.)
Ich könnte auch nicht mit einem geistlosen Pedanten zusammenarbeiten. Ich sehe das Problem hier eindeutig beim Gesandten.
Ich auch nicht. :-D Aber ich habe in meinem Essay auch nicht behauptet, ich könnte und Werther sollte, weil es mir um Beschreibung und nicht um Bewertung ging.
Meiner Meinung nach tut er das völlig zurecht.
Das entscheide ich nicht. Und es ging mir auch in meinem Essay nicht darum, ein solches Werturteil zu fällen.
Was soll er tun? Solche Menschen auch noch ehren, sich ihnen unterordnen und als Schleimbuckel enden?
Mir ging es in meinem Essay nicht um die Frage, was Werther tun soll oder nicht, sondern was er tut und eventuell Erklärungen zu finden, warum. Mehr nicht.
Ich verstehe hier die Kritik an Werther nicht.
Viele Missverständnisse deinerseits beruhen darauf, dass du glaubst, meine Charakterisierung von Werther wäre als Kritik gedacht, was sie aber definitiv nicht sein soll.
Hier sind wir fundamental anderer Meinung.
Hier unterliegst du einer Täuschung. Ich habe in meinem Essay meine persönliche Meinung über Werther weitestgehend zurückgestellt zugunsten einer sachlichen Kontroverse.

Zu 7.) Kein Widerspruch! Sehe ich ähnlich!

Zu 8.) Nehme ich erst einmal so hin. Das ist ein bisschen dünn, um etwas erwidern zu können. Und ja! das ist im höchsten Grade Spekulation, aber ich habe versucht, meine Spekulation argumentativ zu untermauern und mit Indizien abzusichern. Dabei leitet sich meine Behauptung aus der Charakterisierung Werthers ab. Im Endeffekt ist es aber wahrscheinlich müßig, sich solche Was-wäre-wenn-Fragen vorzulegen, bei einer fiktiven Figur und Handlung.

;-) gelbe grüsse :-)
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 18.01.2003, 15:09

Hallo aus der schneefreien und auch sonst Freien und auch noch Hansestadt Hamburg!

zu 1) Die Rationalisierung macht also selbst bei deinen Essays nicht halt. Wie mag sich der Teil gefühlt haben, den du einfach wegrationalisiert hast?

Aber zur Sache: Ich denke das auf dein Beispiel das Wort frevelhaft nicht ganz zutrifft. Denn das der Werther später selbst oft üble Laune bekommt und sich sarkastisch bzw. zynisch äussert liegt zwar in seiner Verantwortung und kann als verantwortungsloses Handeln bezeichnet werden, wenn man in Betracht zieht, dass er einem anderen Vorhaltungen gemacht hat.
Aber frevelhaft scheint mir hier zu hoch gegriffen. Ich verwende das Wort nur wenn es um Sachverhalte viel stärkerer Dimension geht (Stichwort Titanic ), aber das ist letztlich eine Definitionssache.

Viel interessanter ist es hingegen die Fragen zu erörtern die du mir danach gestellt hast. Mein Urteil fällt da äussert zweischneidig aus. Auf der einen Seite wird Werthers Leiden, bedingt drch seine Empfindsamkeit und seine Leidenschaft, wirklich so geschildert, als sei dieses Leiden die Krankheit die folgerichtig zum Tod führen müsse. Auf der anderen Seite denke ich könnte man hier - oh je jetzt vesucht er es nach einem Semester Philosophie - den kategorischen Imperativ von Kant einführen:"Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte."
Werther handelt so sicherlich nicht. Bei ihm würden Mörder aus Leidenschaft alle freikommen, Selbstmörder aus Leidenschaft von jeder Schuld freigesprochen - ganz gleich jeweils um welchen Einzelfall es geht. Jede Handlung aus Leidenschaft wäre gerechtfertigt, so lange sie nur im aufrichtigen Glauben an die Reinheit und Wahrheit der eigenen Leidenschaft begangen würde. Diejenigen Konsequenzen, die die zu ertragen hätten, die Objekte der Handlungen wären, wären unerheblich.

Anders herum: Wer handelt schon nach dem etwas schwammigen "kategorischen Imperativ"?

Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist die: Hätte man es Werther zumuten können nicht Selbstmord zu begehen und seine Leiden weiterhin zu ertragen, vielleicht gar ihm zumuten können den Versuch zu wagen sie zu lindern oder sich zumindest mit den Konsequenzen eines Selbstmordes für die, die ihn lieben, zu befassen?

Meine Antwort: Ja, hätte man. Und dennoch kann ich ihn verstehen, denn ich sagte ja schon in einm anderen Posting, das ich bezweifle das es Sinn macht nur um der Anderen Willen zu leben, womit die Etscheidung bei ihm liegt und er war eben der Ansicht, seine Leiden nicht mehr ertragen zu können.

Meine Antwort ist vielleicht unbefriedigend, weil nicht eindeutig, aber sie fasst mine ambivalenten Gefühle diesbezüglich immerhin zusammen.

zu 2) Ich wollte darauf hinweisen, das bei dieser Entscheidung eben Herz und Verstand involviert sind, was auch in deinem letzten Satz ausgedrückt wird...

Es ist eine schmerzliche Trennung, das will ich nicht leugnen, und die rationalen Kräfte Werthers halten hier den emotionalen noch die Waage.


Deinen weiteren Ausführungen stimme ich zu. Natürlich ist sein Herz auch hier stark involviert und natürlich ist das eine Entscheidung für sein Herz als auch eine dagegen. Da hast du Recht!


zu 3) Dann hätten wir das ja geklärt.

zu 4) Das kann man noch leicht modifizieren: Nicht dumm - aber ausserodentlich naiv.
Ich finde die Unterscheidung von Familienmitgliedern und Nicht-Familienmitgliedern bedeutsam in Bezug auf die Tatsache, dass sie es ist, die besucht wird. Natürlich ist sie es gewohnt von allen, auch von Nicht-Familienmitgliedern, umschwärmt zu werden, aber ist sie es auch gewohnt, das ein Nicht-Familienmitglied sie ungewöhnlich häufig besucht und so umschwärmt wie der Werther es tut? Das glaube ich weniger. Deshalb finde ich dein Beispiel mit dem von den Eltern verwöhnten Kind nicht ganz treffend, da ja die Umschwärmerei innerhalb ihres eigenen Hauses geschieht. Einer nicht dummen Frau sollte das zu denken geben - es sei denn sie ist außerordentlich naiv.
Dazu passt auch dein Punkt c), indem du sagst das sie die ungewöhnliche Häufung der Besuche nicht wahrnimmt.

Deinen letzten Ausführungen stimme ich dann wieder zu mit der Ergänzung: Der Werther täuscht sich aufgrund seiner ausserordentlich starken Empfindsamkeit und Leidenschaft. Lotte täuscht sich aufgrund ihrer extremen Naivität.

Das - extreme Naivität - ist die mindeste Formulierung, die ich anstatt "einfältig" verlange B-)

Bis gleich,

Hambuger
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 18.01.2003, 16:21

Hallo nochmals!

zu 5) Ich sage es anders: Dein sehr sehr direkte Art den Werther zu charakterisieren wirkt auf mich oft wie eine subtile, negative Bewertung.

Ein Beispiel: Du schreibst in einem deiner Postings zu Punkt 1) unter anderem:

Für seine Empfindsamkeit und seine Leidenschaft kann man ihn sicherlich kaum verantwortlich machen - das ist ihm gegeben, das ist seine Natur.


In deinem Esay schreibst du auf Seite 7, Zeile 4-6:"In zweifacher Hinsicht ist das "Herz" der zentrale Begriff des Romans: zum einen bezeichnet es die fanatische Empfindsamkeit, der sich der Protagonist verschrieben hat, zum anderen steht es für die radikale Subjektivität, die hier beschworen wird.

Über die Formulierung fanatische Empfindsamkeit, der sich der Protagonist verschrieben hat bin ich dann gestolpert. Es erscheint so, als wilst du das deiner Meinung nach zu positive Bild des Werthers korigieren, und das tust du auch zurecht und hast in einigen Passagen sogar mich überzeugt, obwohl ich mich mit der Figur des Werther sehr stark identifizieren kann.
Aber manchmal tust du damit, wie in diesem Beispiel, der Figur auf subtile Weise Unrecht. Natürlich hat sich Werther in gewisser Weise seiner Empfindsamkeit verschrieben - aber es bleibt ihm auch nichts anderes übrig, weil dies seine Natur ist.

Das du das Bild des Werthers unbdingt korrigieren willst und dabei überziehst zeigt sich auch an einigen anderen Stellen deiner Charakterisierung, besonders schön aber am Schluss mit dem trotzigen Satz (Ausruf): "So ist das mit Werther!"

Du hast in einem deiner Postings geschrieben:

Dass du nicht alle Punkte meiner Charakterisierung von Werther teilen würdest war mir von vornherein klar. Mir kommt es beinah so vor, als hätte ich schon einige deiner Vorstellungen beim Schreiben meines Essays erahnt und antizipiert. Aber höchstens halbbewusst.


Aber mindestens halbbewusst! Ja, das trifft wirklich zu. Das macht mir auch soweit nichts aus. Aber der Figur des Werthers wirst du damit nicht vollends gerecht (was auch gar nicht geht, aber du weisst dennoch wie ich das meine)
Es stimmt eben doch und auch wieder nicht, wenn du folgendes schreibst:"Dann lernen wir auf den folgenden Seiten einen jungen Menschen kennen, der stets die Stadt und die Gesellschaft flieht, um sich in der Gegend herumzuteiben. Später erleben wir ihn, wie er von Lotte an den Hof flüchtet und vom Hof wieder zu Lotte, nachdem er dort Verdruss mit Gesandten erfahren hat, in der adligen Gesellschaft gekränkt worden ist und sich unfähig zeigt dem zu begegnen." (Seite 9 deines Essays, 2.Absatz, Zeile 4-8)
Hier bist du es, der einseitig berichtet. Für mich ist Werther nur wahrlich keiner, der sich herumtreibt. Damit assoziere ich, sorry, eine zwielichtige Gestalt mit finsteren Machenschaften im Sinn. Werther flüchtet nicht einfach hin und her, sondern, bei allem was du zurecht anführst, überlegt vorher. Er versucht es erst einmal bei Hofe und sieht der Realität ins Auge - nur was er sieht erträgt er nicht und dem kann er nicht begegnen. Das Verhalten der Anderen und vor allem des Gesandten lässt du fast völlig außen vor, auch in deiner späteren Charakterisierung. Das bietet ihm eben nur den Vorwand.
Du klagst nirgendwo an - korrekt und falsch zugleich. Unterschwellig tust du dies meiner Meinung nach sehr wohl. Und obwohl dadurch Formulierungen zustande kommen (siehe meine Beispiele), die ich nicht teile (und die meiner Meinung nach hier auch ein schiefes icht auf die Figur werfen) , mag ich deine Art Essays so zu schreiben und möchte dich NICHT dazu auffordern, in Zukunft auf jedes Wort zu achten, welches ich oder andere Clubmitglieder anders assozieren könnten.
Aber betone nicht so sehr deine Sachlichkeit ("wolle nur feststellen, das...", etc.) - dazu ist deine Sprache zu tendenziös. Und da sie so tendenziös ist musst du in Kauf nehmen, wenn ich über manche Formulierung stolpere, die dann ja ausdiskutiert werden kann.

Deinen beiden Schlussättzen zu diesem Punkt stimme ich dafür voll zu...

Mit anderen Worten: ich sehe durchaus nicht ein, dass es nur die objektiven Widrigkeiten sind, die schuld an Werthers Frustration sind. Ich denke, vielmehr ist es ein Mix aus zweierlei: überzogener Anspruch und eingeschränkte Wirklichkeit. Werthers basaler Konflikt.


Exakt so ist es.

zu 6)

Hier unterliegst du einer Täuschung. Ich habe in meinem Essay meine persönliche Meinung über Werther weitestgehend zurückgestellt zugunsten einer sachlichen Kontroverse.


Dem stimme ich nicht zu. Das habe ich gerde schon in Punkt 5 bearbeitet. Relativieren muss ich allerdings meine überzogenen Zitate, wie z.B.:

Was soll er tun? Solche Menschen auch noch ehren, sich ihnen unterordnen und als Schleimbuckel enden?


Natürlich war ich hier sehr tendenziös, weil mich deine unterschweillig anklagenden Töne gegen den Werther ein wenig, aber nur ein wenig ;-) geärgert haben. Ich denke, deine beiden gerade schon zitierten Schlussätze treffen auch bei diesem Punkt voll und ganz zu und bilden unseren Konsens.

zu 7) Juchhhu, gewonnen. :-D

zu 8) Jawoll, das ist spekulativ, das ist müßig darüber zu diskutieren. Lassen wir es, nicht ohne zu erwähnen das Werther Lotte bestimmt ein gute Mann gewesen wäre, weil...

blaue Grüße,

Hamburger
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon gelbsucht » 22.01.2003, 19:59

Hallo Ham!

Ich widme mich noch einmal einigen Punkten deiner letzten Antwort:

Zu 1.) Okay, lassen wir den Begriff „frevelhaft“ endgültig außen vor, da er nicht auf Werther zutrifft. Weder kann man ihm sein Gemüt und seine Leidenschaft vorhalten, noch sein unglückliches Los in der Liebe, noch seine Krankheit zum Tode, die sich daraus ergibt. Ich würde dabei auch noch nicht einmal so weit gehen wie du: selbst seine Legitimierung des Selbstmordes ist aus seiner Sicht und auf Grundlage seines Charakters verständlich. Dass er später sogar einen Mörder beschützt und vor dem Todesurteil retten will, fällt schon in die Phase des fortschreitenden Realitätsverlustes, der mit seiner Krankheit einhergeht. Einen Erkrankten kann man aber nicht verantwortlich machen. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich den Begriff „frevelhaft“ gar nicht in die Diskussion gebracht habe, sondern du. Ich habe den Begriff „Hybris“ benutzt, was ins Deutsche übersetzt, sicherlich „frevelhafter Übermut“ heißt. Allein damit wird man der Absicht und der Bedeutung, mit der ich den Begriff benutzt habe, kaum gerecht. Das Wort „Frevel“ ist doch auch ziemlich altmodisch und seine Bedeutungen weitschweifig. Allein das Wort „Hybris“ habe ich hier in einem ganz bestimmten Sinn benutzt, nämlich: in Erinnerung an die antike Sagenwelt. Du hast dir den Begriff im Zusammenhang mit einer Diskussion über den Film „Titanic“ gemerkt, aber dabei vergessen, dass es hier quasi nur eine Analogie ist, nämlich eine Anspielung auf den Krieg der Titanen, also auf jenes Göttergeschlecht, welches durch die Olympier gestürzt und in die Unterwelt verbannt wurde. Der Name sollte ein Synonym für die Größe und Gewalt des vom Menschen geschaffenen technischen Wunderwerks sein, und wurde auch zum Synonym für den „Untergang“, den auch die „Titanen“, die Söhne der Erde (Gaia) und des Himmels (Uranos), erlitten. In der griechischen Epik und Tragödie stehen hinter jedem Schicksal die Götter. Auch der kleinste Frevel, der sich gegen sie und ihre Gebote richtet, wird unerbittlich bestraft. Odysseus muss Jahre um Jahre auf dem Meer herumirren, weil er sich anmaßte, den endgültigen Einfall gehabt zu haben, den das stolze und starke Troja zu Fall brachte. Damit übergeht und beleidigt er implizit den Gott des Meeres (Poseidon), dessen Seeungeheuer es war, welches den trojanischen Seher Laokoon bezwang, ehe er seine Landsleute warnen konnte. Gerade auf derart lästerlichen Übermut (Hybris) reagieren die Götter beleidigt und rächen sich mit fürchterlichen Strafen. Prometheus endet an einem Felsen im Kaukasus, wo ihm Tag für Tag bei lebendigem Leibe zwei Adler die immer nachwachsende Leber fressen. Der Begriff der Hybris, dachte ich nun, passt sehr wohl auch auf Werthers Geschichte: zum einen ist sie tragisch genug, zum anderen zeigt der empfindsame Held genügend Stolz, Würde und Übermut, um sich im Spannungsfeld zwischen Worten und späteren Handlungen, zwischen Introspektive und tatsächlichem Auftreten und Wirken in Widersprüche zu verwickeln. Warum wollen wir nicht von „frevelhaft“ sprechen, wo er in manchem Zusammenhang selbst die Worte „Laster“ und „Sünde“ gebraucht?
Er scheint wenig üble Laune zu haben, und du weißt, das ist die Sünde, die ich ärger hasse am Menschen als alles andere.
Aber lassen wir das! Ich merke gerade, dass ich ernste Probleme habe, dir nahe zubringen, was ich mit „Hybris“ meine.
Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist die: Hätte man es Werther zumuten können, nicht Selbstmord zu begehen und seine Leiden weiterhin zu ertragen ... Meine Antwort: Ja, hätte man.
Nein! Er macht sich zwar durch die Art seines Selbstmordes schuldig, indem er die anderen (Lotte, Albert, die Kinder, Wilhelm) mit ins Unglück reißt. Aber ich glaube, der Selbstmord ist am Ende notwendig und zwar auch aus moralischen Gründen. Werther sieht ja mal vage mal deutlich die Alternativen: entweder er wird selbst zum Mörder (wie jener Knecht) oder er muss wahnsinnig werden und im Tollhaus enden (wie jener Schreiber bei Lottes Vater). Wir reden doch hier von einer „Krankheit zum Tode“ und davon, dass einer das Maß des Leids, des Ertragens ausgeschöpft hat. Er muss auf die eine oder andere Art und Weise zugrunde gehen. An dieser Stelle ist es zu spät, um nach Werthers Verantwortung und nach möglichen Handlungsalternativen zu fragen. Ja, hier wirkt der Freitod im Vergleich zu den anderen denkbaren Optionen (Mord und Wahnsinn) noch als die beste Wahl. Er sagt selbst, dass er schon daran gedacht hat:
O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – deinen Mann zu ermorden! – dich! – mich!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 104, Abschiedsbrief an Lotte)
Für mich läuft es eher auf die Frage hinaus: an welchem Punkt hatte er noch die Wahl, aber entschied sich falsch? Ich denke hier vor allem daran, dass er nach seinem Fortgang vom Hof nicht hätte zurückkehren sollen. An diesem Punkt hätte er noch die Macht über sich selbst haben müssen, fortzubleiben und durch Mobilisierung seiner rationalen Kräfte einzusehen, dass die Rückkehr zu dem inzwischen verheirateten Paar zu nichts führen kann. Hier wäre der Punkt gewesen, sich auf Reisen zu begeben, seine Leiden durch Zerstreuung, durch neue Studien oder die Malerei zu lindern, durch etwas, dass ihm mehr liegen müsste als die sinnlose Arbeit am Hof. Hier hätte er noch die Möglichkeit, auszuweichen und zu versuchen, wieder zu sich selbst zu finden. Doch, was macht er? Er lässt sich gehen und es zieht ihn wieder zu ihr. Betrachten wir Goethes Biographie: er trennt sich von Charlotte Buff und ihrem Verlobten und kehrt nie wieder zurück. Aber insgesamt sind Werthers Handlungen nicht frevelhaft, sondern eher unglücklich.

Zu 4.)
extreme Naivität – ist die mindeste Formulierung, die ich anstatt „einfältig“ verlange
Heißt das, du würdest mir auch in meiner Kritik an dem „naiven“ Frauenbild in Goethes Roman zustimmen?
[...] das Frauenbild, vornehmlich das Bild von Lotte ist insgesamt doch etwas niedlich, belanglos und oberflächlich. Schließlich ist Lotte nach Werther der zweitwichtigste Charakter – und was erfahren wir über sie? Nichts. Bis zum Ende erscheint sie uns wie ein Püppchen. [...] erst ganz zum Schluss fängt sie an, lebendig zu werden und nicht immer nur der verherrlichte »Engel« zu sein, als den Werther sie sieht. [...] sie wirkt fast wie eine Souffleuse, die Werther an den entscheidenden Stelle das richtige Stichwort gibt, damit er in seinem ewigen Monolog fortfahren kann, [...].


Zu 5.) Du hast natürlich recht: ich bin in meiner Beschreibung tendenziös. Ich werte nicht offen, aber die Wahl meiner Wort verrät mich. Dennoch sind viele der Punkte, die du einer Kritik unterzogen hast, sachlich in Ordnung. Werther betrachtet die Menschen am Hof abschätzig. Fakt! Er flieht vom Hof! Fakt! Das sind keine Bewertungen, keine Vorwürfe, sondern Beschreibungen. Natürlich unterschlage ich hier auch einiges: nämlich die Motive und die Berechtigung. Aber gerade die Motive Werthers sind am schwersten zu beurteilen: entweder man lehnt sie ab oder man hängt ihnen nach. Bezieht man sich immer nur auf seine Unbedingtheit und seine Leidenschaft, kann man, wie du ganz richtig feststellst, alles rechtfertigen.
Hier bist du es, der einseitig berichtet. Für mich ist Werther nun wahrlich keiner, der sich herumtreibt. Damit assoziiere ich, sorry, eine zwielichtige Gestalt mit finsteren Machenschaften im Sinn. Werther flüchtet nicht einfach hin und her, sondern, bei allem, was du zurecht anführst, überlegt [er] vorher.
Sehr merkwürdig, was du alles mit dem Wort „treiben“ bzw. „herumtreiben“ assoziierst. Ich meine damit vor allem die Passivität seiner Bewegung: das Getrieben-Werden. Werther gebraucht das Wort teilweise ja selbst:
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 67, Brief vom 15. März 1772)
Ich habe schon einmal dargelegt, dass der Flucht eine vorhergehende Überlegung und Planung nicht widerspricht. Mit dem „herumtreiben“ und dem „umherschweifen“ meine ich aber noch etwas anderes, das von den großen „Umzügen“ noch unterschieden werden muss. Ich ziehe an dieser Stelle einfach noch einmal ein paar Zitate heran, die auch sehr schön veranschaulichen, dass Werther durchaus nicht der Typ ist, der vorher und bei allem überlegt, was er tut:
Und doch schwur ich mir heute früh, nicht hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick’ ans Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht.---
Ich hab’s nicht überwinden können, ich mußte zur ihr hinaus.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 20, Brief vom 16. Junius 1771)

[...] ehe ich mich’s versehe, bin ich bei ihr. [...] ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich nun da bin, ist’s nur noch eine halbe Stunde zu ihr! – Ich bin zu nah in der Atmosphäre – Zuck! So bin ich dort!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 41, Brief vom 26. Julius 1771)

Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu tun hat; wutsch! bin ich drauß, und da ist mir’s immer wohl, wenn ich sie allein finde.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 43, Brief vom 30. Julius 1771)

„[...] Vielmehr – Ein andermal davon ...“, sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll – Und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 50, Brief vom 12. August 1771)

Und – wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand eine Beklemmung auszuweinen, - so muß ich fort, muß hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 55, Brief vom 30. August 1771)

Manchmal ergreift mich’s; es ist nicht Angst, nicht Begier – es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Wehe! wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 98, Brief vom 12. Dezember 1772)

Er harrte und bat und harrte; dann riß er sich weg und rief: „Lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!“
Er kam ans Stadttor. Die Wächter, die ihn schon gewohnt waren, ließen ihn stillschweigend hinaus. Es stiebte zwischen Regen und Schnee, und erst gegen eilfe klopfte er wieder. Sein Diener bemerkte, daß seinem Herrn der Hut fehlte. Er getraute sich nicht, etwas zu sagen, entkleidete ihn, alles war naß. Man hat nachher den Hut auf einem Felsen, der an dem Abhange des Hügels ins Tal sieht, gefunden, und es ist unbegreiflich, wie er ihn in einer finstern, feuchten Nacht, ohne zu stürzen, erstiegen hat.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 115, Bericht des Herausgebers)
Ich finde, auf diese Szenen passt das Wort „herumtreiben“ bzw. „umherschweifen“ sehr gut! Ich meine aber mit dem Herumtreiben auch gerade die Szenen am Anfang: erst entdeckt er einen englischen Garten, dann den Brunnen und später den idyllischen Ort Wahlheim. Weil ihm die Stadt „unangenehm“ ist, flieht er aus dem urbanen Raum in die Natur und zieht immer weitere Kreise bei seinen Ausflügen und Wanderungen. Und gerade am Anfang scheint er sonst gar nichts zu tun.
Natürlich hat sich Werther in gewisser Weise seiner Empfindsamkeit verschrieben – aber es bleibt ihm auch nichts anderes übrig, weil dies seine Natur ist.
Auch die Natur eines Menschen lässt sich beeinflussen (Stichwort: sublimieren, kanalisieren). Auch starke Affekte lassen sich mildern. Nur: Werther gibt sich vollkommen seinem Gefühl, seinem Herz, seiner Leidenschaft hin oder wie du es ausdrücken würdest: er ist ein unbedingter Mensch. Nichts, absolut nichts anderes kann dagegen bestehen. Und das ist: fanatisch. Das ist die andere Seite der Unbedingtheit.

;-) gelbe grüsse :-)
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 25.01.2003, 15:57

Hallo gelbling!

zu 1) Für jemanden der den Begriff frevelhaft nun "endgültig außen vor" lassen will, "da er nicht auf Werther zutrifft" schreibst du trotzdem noch ziemlich viel dazu.

Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich den Begriff „frevelhaft“ gar nicht in die Diskussion gebracht habe, sondern du. Ich habe den Begriff „Hybris“ benutzt, was ins Deutsche übersetzt, sicherlich „frevelhafter Übermut“ heißt. Allein damit wird man der Absicht und der Bedeutung, mit der ich den Begriff benutzt habe, kaum gerecht.


Na, du wirst mir ja wohl kaum vorwerfen wollen das ich mich auf mein Fremdwörterbuch verlassen habe, oder? Ich konnte mich zwar vage daran erinnern, das du in der damaligen "Titanic-Diskussion" über "griechische Mythologie" gesprochen hattest, aber ich konte mich auch daran erinnern, das ich damals schon fragte "Hybris heisst doch frevelhafter Übermut, oder?", und du mir zustimmtest:"Genau, frevelhafter
Übermut!"
Auf dieser Grundlage habe ich dann diskutiert. Um jedoch die sachliche Kontroverse bezüglich des Begriffes "frevelhaft" auf einen Nenner zu bringen zitiere ich dich...

Aber insgesamt sind Werthers Handlungen nicht frevelhaft, sondern eher unglücklich


...so sehe ich das auch.

Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist die: Hätte man es Werther zumuten können nicht Selbstmord zu begehen und seine Leiden weiterhin zu ertragen, vielleicht gar ihm zumuten können den Versuch zu wagen sie zu lindern oder sich zumindest mit den Konsequenzen eines Selbstmordes für die, die ihn lieben, zu befassen?


Erst einmal hast du diese Frage verkürzt wiedergegeben, was ich nicht gut finde, da diese Frage zwei Fragen enthält, getrennt duch das "oder" (ich hoffe das blendest du durch die drei Punkte nicht aus).

Zweitens - und das ist entscheidend - habe ich geschrieben, das in dieser Frage alle deine anderen Fragen aufgehen sollen, auch zum Beispiel diese...

Aber liegt es nicht an irgendeiner Stelle in seiner Macht, dieses Ende abzuwenden?


Die Zusammenfassung meiner ambivalenten Gefühlswelt bezog sich also auf den gesamten Text und nicht nur auf den Schlussakkord! Deshalb stimme ich dir zwar zu, das es nach Werthers Heimkehr in Lottens Nähe zu spät ist nach Handlungsalternativen zu fragen - aber das hatte ich nie irgendwo bestritten. Alles was ich dazu geschrieben habe bezog sich auf den gesamten Text und - und da sind wir einer Meinung - es häte durchaus eine Möglichkeit gegeben nicht Selbstmord zu begehen. (und nicht nur eine: schon viel früher, z.B. als Albert zurückkommt, kann nach Handlungsalternativen für Werther gefragt werden)

Ich stimme dir sogar zu, das der Selbstmord an Ende auch aus moralischen Gründen notwendig wird. Doch wenn du schreibst,

Ich würde dabei auch noch nicht einmal so weit gehen wie du: selbst seine Legitimierung des Selbstmordes ist aus seiner Sicht und auf Grundlage seines Charakters verständlich. Dass er später sogar einen Mörder beschützt und vor dem Todesurteil retten will, fällt schon in die Phase des fortschreitenden Realitätsverlustes, der mit seiner Krankheit einhergeht. Einen Erkrankten kann man aber nicht verantwortlich machen.


finde ich das du deine Position gewechselt hast, vergleicht man diese Aussagen mit den Aussagen aus dem Thread "Einstieg".

Dies irritiert mich ein wenig. Man kann ihn nicht verantwortlich machen aufgrund des fortschreitenden Realitätsverlustest dafür, das er den Knecht beschützen will, der zum Mörder wurde. Aber man kann ihn veratwortlich machen für sein Abschiedsbriefe - später geschrieben, der Realitätsverlust muss schon weiter vorangeschritten sein - so wie du es getan hast:



Am Ende zeigt sich am deutlichsten sein Egoismus, seine selbstsüchtige Rücksichtslosigkeit auf die, die er liebt, in den Worten, mit denen er den Empfang der Mittel, die zu seinem Tod benutzt werden sollen, quittiert.

Quote:
--------------------------------------------------

------------------------------
Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels, begünstigst meinen Entschluß, und du, Lotte, reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach! nun empfange!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 121)
--------------------------------------------------

------------------------------


Wie kann man das nur jemandem antun, den man liebt? Wie kann man denen, die man zurücklässt, nur soviel Schuld und Gewissensqual aufbürden? Wie blind muss man sein? Wie Hohn klingen daher seine Worte an Albert (in meinen Ohren):


Quote:
--------------------------------------------------

------------------------------
O daß ihr glücklich wäret durch meinen Tod!
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 121)
--------------------------------------------------

------------------------------


Wie können sie glücklich werden? Wir kann er das ernsthaft meinen, wo er alles daransetzt, sie ins Unglück zu stürzen, sie leiden, sie mitleiden zu lassen und ihnen Schuld, ihnen Mitschuld aufzuerlegen?



Wie kann denn das Eine in seine Verantwortung fallen und das Andere nicht? Ich glaube nicht, das sich das aufgrund deiner Argumentation zusammen denken lässt, jedenfalls nicht ohne unlogisch zu
werden.

zu 4) Dem stimme ich vorläufig, gefühlsmäßig zu. Ich habe mir jetzt nicht alle Stellen nochmal angeguckt, an denen Lotte eventueel tiefsinniger beschrieben wird oder ihre Handlungen das Frauenbild, welches du beschreibst, anders erscheinen lassen - aber vom Gefühl her gebe ich dir recht. Ich habe das, was du schreibst, beim Lesen genauso empfunden.

zu 5)


Dennoch sind viele der Punkte, die du einer Kritik unterzogen hast, sachlich in Ordnung. Werther betrachtet die Menschen am Hof abschätzig. Fakt! Er flieht vom Hof! Fakt! Das sind keine Bewertungen, keine Vorwürfe, sondern Beschreibungen. Natürlich unterschlage ich hier auch einiges: nämlich die Motive und die Berechtigung. Aber gerade die Motive Werthers sind am schwersten zu beurteilen: entweder man lehnt sie ab oder man hängt ihnen nach. Bezieht man sich immer nur auf seine Unbedingtheit und seine Leidenschaft, kann man, wie du ganz richtig feststellst, alles rechtfertigen.


Das Problem mit den Motiven und den Berechtigungen für Handlungen ergibt sich natürlich nicht nur hier, sondern - wie du auch schon sagtest - im ganzen Buch. Dennoch ist die Frage die, ob man die Motive, die Werther angibt und die Berechtigung die er daraus ableitet so oder anders zu handeln, unterschlagen sollte, was an dieser Stelle geschehen ist. Das Problem ist es eben, hier zu einer differenzierten Betrachtungsweise dieser Motive und Berechtigungen zu
kommen.
Ich gebe zu, das das schwer ist. Ich finde aber nach wie vor, das es an dieser Stelle nicht optimal gelöst ist, vor allem weil es so wirkt, als flüchtet er schnell hin und her und ist am Hof an seinem Aus ganz alleine schuld.

Aber andersherum, bei all dieser Kritik meinerseits, sage ich dir (warum habe ich gerade jetzt das Bedürfnis danach?): Wir unterhalten uns hier über den zweiten Absatz von Seite 9 deines Essays mit dem ich nicht hundertprozentig zufrieden bin, über tendenziöse Beschreibungen und unterschwellige Bewertungen. Wenn du Kritik wie diese, zu der ich auch stehe, erhälst, heisst das dennoch, das dein Essay sehr gut ist. Denn wir reden hier nicht über einen Verriss deines Gesamtwerks, sondern über kleine Schwächen einer außerordentlich guten Arbeit. (dies sei denn auch dem Leser gesagt, der meint ich würde über Gebühr kritisieren, aber das Kontroverse lässt sich halt am Besten diskutieren)

Was das "herumtreiben" angeht gilt: Ich hatte den Satz

Immer wieder, wenn er den Stachel in seiner Brust nicht mehr ertragen kann, reißt er sich los und schweift in der Natur umher. (Essay, Seite 9, Zeile 8-9)


völlig übersehen.
Ich finde "umherschweifen" trifft es viel besser. Das ist viel poetischer und passt auf Werther besser als "herumtreiben", allerdings nicht wenn man "herumtreiben" so assoziert wie du, denn dann passt beides und wir sind uns einig.

Auch die Natur eines Menschen lässt sich beeinflussen (Stichwort: sublimieren, kanalisieren). Auch starke Affekte lassen sich mildern. Nur: Werther gibt sich vollkommen seinem Gefühl, seinem Herz, seiner Leidenschaft hin oder wie du es ausdrücken würdest: er ist ein unbedingter Mensch. Nichts, absolut nichts anderes kann dagegen bestehen. Und das ist: fanatisch. Das ist die andere Seite der Unbedingtheit.


Das stimmt. Die Haarspalterei, inwieweit Werther sein Leiden häte mindern können wollen wir vermeiden und so sage ich: In diesem Punkt hast du Recht und ich ziehe meine Kritik an dieser Stelle zurück.

Pauli-Grüße,

Hamburger
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon gelbsucht » 29.01.2003, 14:48

Salve!

Zu 1.)
Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist die: Hätte man es Werther zumuten können nicht Selbstmord zu begehen und seine Leiden weiterhin zu ertragen, vielleicht gar ihm zumuten können den Versuch zu wagen sie zu lindern oder sich zumindest mit den Konsequenzen eines Selbstmordes für die, die ihn lieben, zu befassen?
Tut mir leid, aber ich kann nicht einsehen, wie meine Frage in diesem Konstrukt „aufgehen“ soll. Untergehen wird sie darin, solltest du besser sagen. Meine Frage ist nicht nur allgemeiner, sondern auch prägnanter. Deine Frage wird zwar durch „oder“ verknüpft, doch ist in beiden Teilen von „Selbstmord“ die Rede. Indessen ist der zweite Teil, den ich in meiner Widergabe wegließ, noch spezifischer als der erste und kann sich nur auf den Schluss und nicht auf den gesamten Text beziehen. Ich meine: von Selbstmord redet Werther von Anfang an, aber handlungsrelevant wird er doch erst im zweiten Teil des Buches. Und deine Frage klingt fast so, als wäre Selbstmord von Anfang an Werthers Bestimmung, als könnten die Leidenschaft und das geistige Potential sich nicht auch anders, nicht glücklicher entfalten, als wäre sein eigenes Leben von vornherein eine „Zumutung“, etwas, dass er „um der Anderen willen“ tun muss. Ich finde die ganze Formulierung deiner Frage eher unglücklich als angemessen. Darum weiß ich auch nicht, wie sich die Antwort auf dein Konstrukt, in dem alles, was ich sagte, auf- und untergehen soll, „auf den gesamten Text und nicht nur auf den Schlussakkord“ beziehen soll:
Meine Antwort: Ja, hätte man. Und dennoch kann ich ihn verstehen, denn ich sagte ja schon in einem anderen Posting, dass ich bezweifle, dass es Sinn macht nur um der Anderen Willen zu leben, womit die Entscheidung bei ihm liegt und er war eben der Ansicht, seine Leiden nicht mehr ertragen zu können.
Aber kann Werthers Leben nicht auch einen selbstbestimmten Sinn haben? Gibt es nicht auch eine denkbare Exit-Variante, wo es nicht nur Fremdbestimmung ist, zu überleben?

Du findest also, ich habe meine Position gewechselt? Ich gebe zu, es kommt vor, dass ich im Dialog Positionen wechsle oder Positionen annehme, die ich nicht vertrete, um die Meinung meines Gegenübers auszuloten. Aber das ist hier nicht der Fall. Ich denke, es lässt sich sehr wohl im Einklang denken, was ich bisher gesagt habe, man muss nur feiner unterscheiden. Ich fasse zusammen:
  • Auch ich verurteile Werthers Selbstmord prinzipiell nicht. Er ist folgerichtig und vergleichbar mit dem Tod am Ende einer schweren, rein physischen Krankheit.
  • Auch ist der Selbstmord neben den anderen möglichen Alternativen (Mord und Wahnsinn oder beides) wahrscheinlich noch die beste Wahl.
  • Werther ist krank und leidet an einem zunehmenden Realitätsverlust. Insofern kann man ihn für sein Handeln und für seine Selbsttötung nicht verantwortlich machen.
  • Das bedeutet aber nicht, dass seine Handlungen richtig sind (sie sind nur entschuldbar aufgrund seiner Krankheit). Das muss man unterscheiden!
  • Anstoß nehme ich nicht an dem Selbstmord an sich, sondern an der Inszenierung durch Werther und an dem letzten Brief an Lotte.
Das ganze ist eine Frage, welche Perspektive wir einnehmen. Entweder: wir betrachten es von außen. Demnach kann man Werther für sein Handeln nicht verantwortlich machen, weil er krank ist. Der Selbstmord ist die notwendige Folge seiner Krankheit. Trotzdem muss man im Auge behalten, dass durch ihn viel Schmerz und Schaden bei anderen angerichtet wird. Oder: wir lassen uns auf seine Perspektive ein. Geht man diesen Weg, entdeckt man die endogenen Widersprüche seines Handelns. Er kritisiert die üble Laune des Menschen, der damit andere betrübt und belastet, doch er tut genau das. Er beteuert, Lotte zu lieben und setzt doch alles daran, ihr durch seinen Tod zu schaden und weh zu tun. Das ist für mich als Leser – auch beim besten Willen – nicht entschuldbar, weil es im Widerspruch steht zu seinen ureigenen Maximen.

Zu 5.)
Ich finde aber nach wie vor, dass es an dieser Stelle nicht optimal gelöst ist, vor allem weil es so wirkt, als flüchtet er schnell hin und her und ist am Hof an seinem Aus ganz alleine schuld.
Okay! Sehe ich ein! Gebe ich zu! Ausnahmsweise! :-D
Wenn du Kritik wie diese, zu der ich auch stehe, erhältst, heißt das dennoch, das dein Essay sehr gut ist. Denn wir reden hier nicht über einen Verriss deines Gesamtwerks, sondern über kleine Schwächen einer außerordentlich guten Arbeit.
Weiß ich doch! Ich bin halt einer von diesen verkannten Deutsch-LK-Eins-Komma-Null-Streber-Kandidaten. Nicht wahr, Herr Künzel?

;-) gelbe grüsse :-)
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 03.02.2003, 23:56

Hallo gelbsucht!

Nur noch Punkt 1 ist in diesem Thread zum diskutieren übrig geblieben, aber wir sind in diesem Punkt keinen Schritt weiter gekommen. Ich bestreite nämlich so gut wie alles, was du zu diesem Punkt vorgebracht hast.

Was meine Frage betrifft, so finde ich es merkwürdig, wie spät deine Kritik ansetzt. Wir waren schon mittendrin über dieses Konstrukt zu diskutieren und du hattest die Antwort, die ich auf diese meine Frage gab, schon längst kritisiert ohne das Konstrukt als solches zu kritisieren. Ich finde es merkwürdig diese Kritik jetzt einzuführen.

Auch teile ich deine Auffassung ausdrücklich nicht, dass sich der zweite Teil meiner Frage nur auf den Schluss beziehen kann. Es ist merkwürdig, dass wir von Werther nie einen Satz hören wie:"Was würde meine Mutter denken, wenn ich stürbe?"
Warum befasst sich Werther nicht mit den Konsequenzen, die ein Selbstmord für die, die ihn lieben hätte. Warum schiesst ihm nie ein solcher Gedanke durch den Kopf? Und wäre ihm je ein solcher Gedanke durch den Kopf geschossen: Hätte er dann anders gehandelt?
Diese Fragen sollten durch diesen zweiten Frageteil mit aufgeworfen werden, denn hätte sich der Werther frühzeitig mit seinem Hang zum Suizid befasst, vielleicht - bildlich gesprochen - lebte er dann noch. Da ist es dann auch irrelevant, ob die Gedanken an den Selbstmord erst zum Schluss konkreter werden, wie du dich ausdrückst: handlungsrelevant.

Du schreibst dann:

Aber kann Werthers Leben nicht auch einen selbstbestimmten Sinn haben? Gibt es nicht auch eine denkbare Exit-Variante, wo es nicht nur Fremdbestimmung ist, zu überleben?



Dazu allerdings habe ich bereits meine gesamte ambivalente Gefühlswelt zusammengefasst, indem ich zum Beispiel darauf hinwies, dass es Konsens ist, dass es diese Exit-Variante geben kann, wenn er vom Hofe nicht zurückgekehrt wäre. Ich möchte das erweitern: Hätte er früher über die Konsequenzen eines Selbstmordes nachgedacht, über die Konsequenzen für die die ihn lieben, dann wäre er vielleicht nicht mehr vom Hofe zurückgekehrt und daher macht für mich die von mir gestellte Frage einschlisslich des zweiten Teiles Sinn - und zwar bezüglich der gesamten Handlung - noch eher für den ersten Teil, wie du an meiner gleich folgenden Argumenation sehen wirst.
Deshalb bleibe ich auch dabei, dass sich alles das, was ich äusserte, auf den gesamten Text bezog!

Ich bleibe ferner dabei: Du hast ganz eindeutig deine Position gewechselt!
Oder sagen wir besser: Auch deine 5 zitierten Punkte lassen sich meiner Ansicht nach so zusammen nicht denken!

Auch ich verurteile Werthers Selbstmord prinzipiell nicht. Er ist folgerichtig und vergleichbar mit dem Tod am Ende einer schweren, rein physischen Krankheit.

Auch ist der Selbstmord neben den anderen möglichen Alternativen (Mord und Wahnsinn oder beides) wahrscheinlich noch die beste Wahl.

Werther ist krank und leidet an einem zunehmenden Realitätsverlust. Insofern kann man ihn für sein Handeln und für seine Selbsttötung nicht verantwortlich machen.

Das bedeutet aber nicht, dass seine Handlungen richtig sind (sie sind nur entschuldbar aufgrund seiner Krankheit). Das muss man unterscheiden!

Anstoß nehme ich nicht an dem Selbstmord an sich, sondern an der Inszenierung durch Werther und an dem letzten Brief an Lotte.


Wie kannst du denn an der Inszenierung des Selbstmordes durch den Werther Anstoss nehmen, wenn sein Realitätsverlust hier schon so weit fortgeschritten ist?
Du schreibst, du kannst ihn nicht verantwortlich machen, aber es ist falsch was er tut. So weit sind wir uns einig. Aber wenn das so ist, wie erklärt sich dann die Vehemenz mit der du Anstoss an seiner Inszenierung genommen hast? (Thread: Einstieg)
Das ist für mich völlig unverständlich.
Meiner Meinung nach kann man einem Erkrankten, den man für seine Taten nicht verantwortlich machen kann, keine Vorwürfe in dieser Vehemenz machen. Sein Handeln ist schlimm, aber leider entschuldbar aufgrund seiner Krankheit. Solchen Menschen kann man höchstens versuchen zu helfen, aber einerseits mit dem Realitätsverlust zu argumentieren und Verständnis aufbringen und andererseits scharf die Widersprüchlichkeiten ihrer Handlungen zu kritisieren sowie den Schmerz, den sie bei anderen hinterlassen -das bleibt für mich auch nach deinen letzten Äusserungen unvereinbar.

Ich finde: Wenn schon die Argumentation kommt das Werther die Realität mehr und mehr nicht mehr erkennt muss auch gelten: Keine Vorwürfe in dieser Schärfe an diesen Leidenden!

Ich befürchte hier sind unsere Positionen unvereinbar, denn ich glaube das spätestens nach dem Vorfall mit dem Knecht der Werther nicht mehr angegriffen werden sollte für den Schaden, den er anrichtet, denn ab diesem Punkt ist es um ihn geschehen und es gibt keine Chance mehr auf einen Ausgang mit der Überschrift "Exit".

g-g-grüße,

Hamburger
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon gelbsucht » 06.02.2003, 21:46

Grande finale

Einen Punkt gebe ich dir zu: wir sind keinen Schritt weitergekommen. Ich möchte aber ernsthaft bezweifeln, dass dein letzter Beitrag hilfreich war, die Missverständnisse, die zwischen uns bestehen, aufzuklären. Ich habe das Gefühl, dass wir schleichend vom Argumentieren zum Insistieren übergegangen sind. Von dem ehrenwerten Wunsch abgesehen, auch in diesem Punkte mehr Klarheit zu schaffen: es ist unnötig, dass wir am Ende jeder Argumentationskette zwanghaft Übereinstimmung herstellen. Ich zitiere aus unseren Statuten:
Ziel der Diskussion, die wir führen wollen, ist es nicht, unbedingt einen Konsens zu erlangen oder eine Durchschnittsmeinung zu ermitteln.
Wir sollten uns gerade jetzt, mitten in der Diskussion, dieses Grundsatzes erinnern.

Genug der Vorrede, gehen wir in medias res!
Was meine Frage betrifft, so finde ich es merkwürdig, wie spät deine Kritik ansetzt. Wir waren schon mittendrin über dieses Konstrukt zu diskutieren und du hattest die Antwort, die ich auf diese meine Frage gab, schon längst kritisiert ohne das Konstrukt als solches zu kritisieren. Ich finde es merkwürdig diese Kritik jetzt einzuführen.
Das ist doch lächerlich, mein Freund. Ich habe deine Formulierung „Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist ... usw.“ wiedergegeben und direkt und ohne Umschweife geantwortet: „Nein!“ Habe dann meine Gründe sowohl gegen die Frage, als auch gegen die Antwort dargelegt, und anschließend deine Frage durch eine Alternative ersetzt. Ich dächte bisher, so ein „Nein!“ wäre eine ganz unmissverständliche und unzweideutige Sache! Wie deutlich soll meine Kritik denn noch ausfallen? Und: was meinst du mit spät? Nur dein Beharren hat mich dazu gebracht, meine Kritik weiter auszuführen und zu erläutern.

Ich glaube, wir drehen uns im Kreis. Ich mache trotzdem noch einmal den Versuch, zusammenzufassen, was mich an deiner Frage stört. Ich bekräftige noch einmal: ich finde die Formulierung deiner Frage unglücklich. Das betrifft vor allem das Verb „zumuten“, das du darin gleich zweifach gebrauchst. Hieran und an dem „leben um der Anderen willen“ in der Antwort habe ich mich vor allem gestört und gekontert:
Und deine Frage klingt fast so, als wäre Selbstmord von Anfang an Werthers Bestimmung, als könnten die Leidenschaft und das geistige Potential sich nicht auch anders, nicht glücklicher entfalten, als wäre sein eigenes Leben von vornherein eine „Zumutung“, etwas, dass er „um der Anderen willen“ tun muss.[...] Aber kann Werthers Leben nicht auch einen selbstbestimmten Sinn haben? Gibt es nicht auch eine denkbare Exit-Variante, wo es nicht nur Fremdbestimmung ist, zu überleben?
Außerdem habe ich mich daran gestört, dass in beiden Teilen deiner Frage von Selbstmord die Rede ist, wodurch für mich die Frage einen sehr spezifischen Charakter erlangt: einen Fokus. Auf der einen Seite der Selbstmord, auf der anderen Seite das „zumuten“ und „um der Anderen willen leben“, das klingt für mich nicht, als könne man es auf den ersten Teil des Buches übertragen, sprich: für das ganze Buch verallgemeinern. Wenn du dich erinnerst: dieser Diskussionsstrang nahm seinen Ausgang in der Frage, inwiefern Werther mitschuldig sei an seinem Schicksal. Was ist Schicksal bzw. Unglück und was ist seine Verantwortlichkeit? Aber mir scheint es so, dass in der rhetorischen Formulierung deiner Frage tendenziös und unterschwellig die Entschuldigung schon mitgeliefert wird: wir können diesen Freigeist, diese wahre Leidenschaft doch nicht zwingen, ihm/ihr nicht „zumuten“, zu leben, wenn er/sie nicht leben will. Das ist voreilig und führt uns fort von den ursprünglichen Fragen, die ich dir vorgelegt habe:
Aber liegt es nicht an irgendeiner Stelle in seiner Macht, dieses Ende abzuwenden? Ist er wirklich ganz unschuldig an seinem Schicksal? Ist seine Handeln ganz erhaben gegen jeden moralischen Zweifel?
Ich schließe hiermit. Es ist nicht schlimm, wenn wir an diesem Punkt nicht weiterkommen. Schade vielleicht, aber nicht schlimm.

Ich bleibe ferner dabei: Du hast ganz eindeutig deine Position gewechselt!
Oder sagen wir besser: Auch deine 5 zitierten Punkte lassen sich meiner Ansicht nach so zusammen nicht denken!
[...]einerseits mit dem Realitätsverlust zu argumentieren und Verständnis aufbringen und andererseits scharf die Widersprüchlichkeiten ihrer Handlungen zu kritisieren sowie den Schmerz, den sie bei anderen hinterlassen - das bleibt für mich auch nach deinen letzten Äusserungen unvereinbar.
[...]Ich befürchte hier sind unsere Positionen unvereinbar ...
Und ich befürchte, unsere Positionen sind sich ähnlicher, als du glaubst! Für mich hat sich dieser vermeintliche Widerspruch schon längst aufgeklärt, nur du nagst noch die ganze Zeit daran herum, als wäre es ein zäher Knochen. Das würde sich auch für dich sehr schnell aufklären, wenn du endlich, endlich, endlich die Unterscheidungen annehmen würdest, die ich getroffen habe, anstatt wie besessen immer auf der einen Stelle herumzuhüpfen und zu krähen: Positionswechsel, Unlogisch, Widerspruch! Hast du dir einmal klar gemacht, dass die selbe Inkonsistenz, auf der du mich festnageln willst, auch dich betrifft?
Deiner Anklage gegen den Werther bezüglich des Selbstmordes stimme ich zu und wieder nicht. Bei mir bleibt das Verhältnis dazu ambivalent. [...] Seinen Selbstmord verurteile ich prinzipiell nicht. Es ist immer noch er, der über sein Leben zu entscheiden hat und nur um Andererwillen leben, erscheint mir nicht sinnvoll. Ich verurteile aber seinen schlussendlichen Pathos, seine religiösen Narreteien und seinen Abschiedsbrief. Er hätte die Konsequenzen seines Handelns mit Würde für sich tragen müssen – dann wäre er in meinen Augen ein wahrer Held gewesen.
(Thema: Einstieg)
Sag mir, wie verträgt sich das? Mag sein, dass graduelle Unterschiede zwischen unseren Positionen bestehen, dennoch sind sie alles andere als „unvereinbar“. Man kann es sich natürlich einfach machen und die eigenen Unlogik unter einer Decke „ambivalenter Gefühle“ verstecken. Aber dann sollte man nicht noch so dreist sein, dem anderen den gleichen oder ähnlichen Widerspruch unter die Nase zu reiben. Ob wir es jetzt „Positionswechsel“ oder „unterschiedene Perspektiven“ nennen, ob wir jetzt davon sprechen, dass es sich „nicht zusammendenken lässt“, oder von „ambivalenten Gefühlen“ reden, das ist Erbenszählerei. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal wiederholen, was ich in meinem letzten Beitrag ausgeführt habe und was ich für den Schlüssel zur Auflösung unserer Differenzen halte:
Das ganze ist eine Frage, welche Perspektive wir einnehmen. Entweder: wir betrachten es von außen. Demnach kann man Werther für sein Handeln nicht verantwortlich machen, weil er krank ist. Der Selbstmord ist die notwendige Folge seiner Krankheit. Trotzdem muss man im Auge behalten, dass durch ihn viel Schmerz und Schaden bei anderen angerichtet wird. Oder: wir lassen uns auf seine Perspektive ein. Geht man diesen Weg, entdeckt man die endogenen Widersprüche seines Handelns. Er kritisiert die üble Laune des Menschen, der damit andere betrübt und belastet, doch er tut genau das. Er beteuert, Lotte zu lieben und setzt doch alles daran, ihr durch seinen Tod zu schaden und weh zu tun. Das ist für mich als Leser – auch beim besten Willen – nicht entschuldbar, weil es im Widerspruch steht zu seinen ureigenen Maximen.
Einerseits können wir Werthers Unglück einer exogenen, ethischen Betrachtung unterziehen: aufgrund seiner Krankheit ist er dann entschuldbar, weil unzurechnungsfähig. Andererseits sind wir Leser und fühlen als Lesende mit ihm, nehmen eine endogene Perspektive ein und fangen an, uns mit ihm zu identifizieren: hier muss ich aber klipp und klar feststellen, dass gerade am Ende des Buches meine Identifikation mit Werther erheblich gelitten hat, was weniger am Erscheinen des Erzählers lag, sondern an Werthers Handlungen und inneren Widersprüchen. Was die Inszenierung seines Selbstmordes angeht, kann ich mir nicht vorstellen, an seiner Stelle genauso gehandelt zu haben. Im Gegenteil. Das ist der entscheidende Punkt: es gibt gute Gründe sein Handeln zu entschuldigen, dennoch (oder gerade deswegen) verliert er am Ende seine Funktion als Vorbild, als Identifikationsfigur, als Idol oder – wie du es ausgedrückt hast – als wahrer Held. Am Ende ist Werther kein Held mehr, sondern ein Opfer und abschreckendes Beispiel. Es gibt eben einen Unterschied zwischen entschuldbaren und vorbildhaften Handlungen. Das ist der Kern meiner Unterscheidung und der Ansatzpunkt für meine Kritik an Werther. Aber man muss die kritisierenswürdigen Umstände seines Todes erst einmal auf den Tisch bringen, ehe man sie relativieren und entschuldigen kann. Nichts anderes habe ich getan. Ich bin auch der Überzeugung, dass Goethe das Problematische durchaus in den Werther-Roman integriert hat und nicht den jungen Menschen seiner Zeit mit diesem Buch nahe legen wollte, wie Werther den Selbstmord als Ausweg aus argem Liebeskummer zu sehen und zu benützen. Hierüber gab es vor allem in der frühen Rezeptionsgeschichte des Romans die meisten Missverständnisse. Kirchenväter und Intellektuelle wie Lessing nahmen Anstoß an dem Buch, weil sie es für eine Verherrlichung des Selbstmordes hielten, und einige junge Leute nahmen sich Werther zum Vorbild und schossen sich am Ende, so wie er, eine Kugel vor den Kopf. All diese Leute, sowohl die kritischen als auch die schwärmerischen Stimmen hätten das Buch genauer lesen müssen: die Kritik steht zwischen den Zeilen.

;-) gelbe grüsse :-)
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Re: Kritisches meinerseits

Beitragvon Hamburger » 07.02.2003, 01:31

Hallo gelbsucht!

Ich glaube wir kommen hier einfach nicht weiter. Ich sage aber noch was aus meiner Sicht zu deinem letzten Beitrag. Ich war übrigens nie darauf aus, das wir unbedingt einen Konsens erzielen. Ich war allerdings immer darauf aus zu sagen was ich denke. Und daran hat sich nicht viel geändert.

Quote:
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Was meine Frage betrifft, so finde ich es merkwürdig, wie spät deine Kritik ansetzt. Wir waren schon mittendrin über dieses Konstrukt zu diskutieren und du hattest die Antwort, die ich auf diese meine Frage gab, schon längst kritisiert ohne das Konstrukt als solches zu kritisieren. Ich finde es merkwürdig diese Kritik jetzt einzuführen.
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Das ist doch lächerlich, mein Freund. Ich habe deine Formulierung „Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist ... usw.“ wiedergegeben und direkt und ohne Umschweife geantwortet: „Nein!“ Habe dann meine Gründe sowohl gegen die Frage, als auch gegen die Antwort dargelegt, und anschließend deine Frage durch eine Alternative ersetzt. Ich dächte bisher, so ein „Nein!“ wäre eine ganz unmissverständliche und unzweideutige Sache! Wie deutlich soll meine Kritik denn noch ausfallen? Und: was meinst du mit spät? Nur dein Beharren hat mich dazu gebracht, meine Kritik weiter auszuführen und zu erläutern.


Ehrlich gesagt: Das finde ich lächerlich von dir. Ich zitiere nun wie du zunächst auf mein Konstrukt reagiert hast...

Die Frage, in der man alle deine Fragen aufgehen lassen könnte, ist die: Hätte man es Werther zumuten können, nicht Selbstmord zu begehen und seine Leiden weiterhin zu ertragen ... Meine Antwort: Ja, hätte man.
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Nein! Er macht sich zwar durch die Art seines Selbstmordes schuldig, indem er die anderen (Lotte, Albert, die Kinder, Wilhelm) mit ins Unglück reißt. Aber ich glaube, der Selbstmord ist am Ende notwendig und zwar auch aus moralischen Gründen. Werther sieht ja mal vage mal deutlich die Alternativen: entweder er wird selbst zum Mörder (wie jener Knecht) oder er muss wahnsinnig werden und im Tollhaus enden (wie jener Schreiber bei Lottes Vater). Wir reden doch hier von einer „Krankheit zum Tode“ und davon, dass einer das Maß des Leids, des Ertragens ausgeschöpft hat. Er muss auf die eine oder andere Art und Weise zugrunde gehen. An dieser Stelle ist es zu spät, um nach Werthers Verantwortung und nach möglichen Handlungsalternativen zu fragen. Ja, hier wirkt der Freitod im Vergleich zu den anderen denkbaren Optionen (Mord und Wahnsinn) noch als die beste Wahl. Er sagt selbst, dass er schon daran gedacht hat:


Du hast nicht, wie du geschrieben hast, meine Frage wiedergegeben und darauf geantwortet, sondern meine Frage UND meine Antwort wiedergegeben. Ich dachte nun, dein NEIN wäre eine Antwort auf meine Frage und ein Contra zu der Antwort die ich gab. Ich habe an keiner Stelle, auch im weiteren Verlauf nach dem hier zitierten Zitat erkennen können, dass du Kritik an meiner Konstruktion übst oder das du gar Gründe gegen meine Frage darlegst und das erkenne ich auch jetzt noch nicht. Was ich dir zugestehe ist dass du eine Alternative angeboten hast.

Ich habe ehrlich gesagt keine grosse Lust hier noch weiter zu diskutieren, auch wenn du noch einmal zusammengefasst hast, was du eigentlich sagen wolltest. Ich finde es auch nicht schlimm, wenn wir an diesem Punkt nicht weiterkommen. Aber ich hätte hier wieder so viel dagegen zu sagen und ich glaube wir verheddern uns dann immer weiter in Missverständnisse und das ergibt letztlich Korinthenkackerei, also sei mir nich böse wenn auch ich bei diesem Punkt hier schließe.

Der Inkonsistenz hast du mich zurecht überführt, wenngleich ich mein "verurteilen" nicht so hart finde wie deine Vorwürfe beim Thread Einstieg. Vor allem hast du mit dem Realitätsverlust argumentiert und nicht ich. Ich gebe dir recht, auch das hier ist Erbsenzählerei, aber auch hier kommen wir nicht weiter. Ich bin nach wie vor der Ansicht dich eines eindeutigen Widerspruchs überführt zu haben und deine feineren Unterscheidungen haben mir ehrlich gesagt nicht die Bohne geholfen. Ich nehme sie nicht an weil die Inkonsistenz bleibt, auf die ich mehrmals hinwies, was ich jetzt nicht wieder tun werde, da ich dann des Herumhüpfens und Krähens bezichtigt werde.
Übrigens waren meine Gefühle und sind noch wirklich ambivalent, also weise ich sowohl das angedeutete "Versteckspiel meiner Unlogik" als auch meine angebliche Dreistigkeit zurück.

Ich konnte mich am Schluss auch nicht mehr besonders gut mit Werther identifizieren, aber bei mir ist er von Heldenstatus "nur" auf den Status eines "Ideols" gesackt, was du geflissentlich unterschlägst.

Es gibt eben einen Unterschied zwischen entschuldbaren und vorbildhaften Handlungen. Das ist der Kern meiner Unterscheidung und der Ansatzpunkt für meine Kritik an Werther. Aber man muss die kritisierenswürdigen Umstände seines Todes erst einmal auf den Tisch bringen, ehe man sie relativieren und entschuldigen kann. Nichts anderes habe ich getan.


Hier stimme ich dir weitgehend zu, auch wenn ich dein Handeln anders gesehen habe.
Ich bleibe dabei: Ist seine Handlung entschuldbar, kann sie nicht in dieser Schärfe verurteilt werden.

MFG,

Hamburger
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