Dem Essayisten ist zu gratulieren. Der Essay ist äussert umfangreich ohne sich der Schwafelei hinzugeben, beschäftigt sich tiefsinnig mit dem Buch. Ganz besonders gefällt mir die Tatsache der Existenz einer Würdigung an sich zu Beginn und das von einem Manne, der dem grossen Goethe sehr kritisch gegenübersteht. Insbesondere das Kapitel (Werthers ambivalente Persönlichkeit) hat mich, wenngleich ich inhaltlich manches anders sehe, überzeugt, ja sogar überrascht! So viel aus dem Charakter des Werther herauszuholen ist gewiss eine Leistung, vor der der Hut gezogen werden muss. Was den Umfang und das Kriterium der Tiefsinnigkeit angeht ist meine Rezension diesem Essay nicht ebenbürtig. Ausserdem ist dieser Essay sprachlich wesentlich besser.
Was das Inhaltliche angeht, so befinden sich der Essayist und ich aber längst nicht überall auf einer Wellenlänge, insbesondere was Kapitel 3 (Werthers ambivalente Persönlichkeit angeht. Seinem Anspruch das zu diskutieren was interessant und/oder kontrovers erscheint kann ich mich nur anschliessen. Zum Einstieg stürze ich mich daher auf
Kapitel 3:
1. Mir will die Rede von der Hybris (Seite 5, 2.Absatz) nicht so ganz einleuchten. Ich habe das Wort zum ersten Mal in Bezug auf die Titanic-Katastrophe gehört. Da erschien es mir auch ganz angemessen, das Verhalten der Besatzung, der Passagiere und der Journalisten als Hybris zu bezeichnen, nämlich als frevelhaften Übermut. Und bei Werther? Sicherlich passt Übermut zu diesem idealistischen Träumer, aber frevelhaft? Was ist daran frevelhaft das Unbedingte, Vollkommene und Unendliche zu suchen und überall in der Welt nur das Bedingte, Unvollkommene und Endliche zu erkennen. Schon Faust, eine der berühmtesten literarischen Figuren überhaupt, strebte danach zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich kann in diesem Verhalten keine Frevelhaftigkeit erkennen. Aber der Essayist definiert ja hier Hybris auch anders, spricht von der Ursache für das Verhängnis, das ihm (Werther) zuteil wird. Diese Ursache ist aber nicht Werthers Hybris. Es müsste ein anderer Begriff gefunden werden, kein so negativ besetzter.
2.
Vernunft, Bildung und Mäßigung beurteilt er mit Geringschätzung, für ihn ist das Maß aller Dinge sein eigenes Herz. Es ist für ihn auch die ausschlaggebende Instanz bei allen Entscheidungen, die er zu treffen hat. (Seite 5, 3.Absatz)
Was den zweiten Satz angeht, so finde ich es erstaunlich, das Werther es dennoch schafft sich von seiner Lotte für eine lange quälende Zeit loszusagen, als er die Stelle bei Hofe antritt und dann den Frühling bei einem Fürsten auf dem Jagdschloss verbringt. Bis wir das erste Mal wieder von einer Begegnung seinerseits mit Lotte aus seinen Briefen hören vergeht insgesamt über ein Jahr. (10.September 1771 - 12.September 1772)
Dies sollte immer bedacht werden, wenn davon die Rede ist, das der Werther nur seinem eigenem Herzen folgt.
3. Frage: Was ist (Seite 6,Absatz 2) mit Speculation gemeint. Es gelingt mir nicht dieses dort verwendete Wort in einen ordentlichen Sinnzusammenhang zu stellen.
4. Es ist korrekt Werther seinen Realitätsverlust vorzuwerfen (besonders Seite , jedoch bin ich der Meinung das die in der Tat als unschuldig geschilderte Lotte hier nicht mit einer rhetorischen Frage
War sie es nicht gewohnt, im Hause ihres Vaters umschwärmt und von allen geliebt zu werden?
in Schutz genommen werden sollte. Werther gehört a) nicht zu ihrer Familie und dürfte deswegen b) nicht ständig bei ihr zu Hause sein um sie zu umschwärmen aber c) er ist ständig bei ihr um sie zu umschwärmen. Also selbst die unschuldigste Seele sollte sich da nach einiger Zeit einen Reim darauf machen können, ansonsten sollte das Wort unschuldig richtigerweise durch einfältig ersetzt werden. Alleine die Tatsache wie er mit ihren Geschwistern spielt (Brief vom 29.Junius) müsste ihr doch klar gemacht haben welch heftige Gemütsbewegungen diesen Charakter auszeichnen.
5. Auch finde ich es merkwürdig, wie negativ der Essayist Werthers Verhalten rund um die Stellung, die er bei Hofe antritt, bewertet. Er wirft Werther die Flucht vor Lotte und die vom Hofe zu Lotte vor. Beides halte ich für ungerechtfertigt. Ersteres, weil er seinen Entschluss die Stellung bei Hofe anzutreten nach reiflicher Überlegung fasst
Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu
verlassen - Brief vom 3.September 1771
und sich teilweise sogar von der Vernunft geleitet mit der Thematik beschäftigt
Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? betriegst du dich nicht selbt? Was soll diese tobende endlose Leidenschaft? - Brief vom 30.August 1771
, Letzteres weil seine Flucht vom Hofe absolut nachvollziehbar ist. Auch ein weniger leidenschaftlicher Mensch hätte sich in dieser Gesellschaft höchst unwohl gefühlt und seine Schwierigkeiten gehabt. Wie soll Werther mit Menschen, wie mit seinem Gesandten, zusammenarbeiten, die über seine Vorgesetzten lästern, die ihn permanent für jede Kleinigkeit schlecht machen, die ein ganzes Dorf aufbringen können gegen ihn? Der Essayist wird mir vorwerfen, ich habe mich zu sehr in den Bann des Subjektivismus des Werther schlagen lassen was diese Thematik angeht. Dem widerspreche ich jetzt schon ganz entschieden. Lässt man die Arbeitsbedingungen objektiv revue passieren so war es das Beste den Hof zu verlassen. Dass der Werther selten kreativ, was ihm mehr liegen müsste, seine Emotionen und Affekte kontrolliert und sublimiert (zum Beispiel durch das Zeichnen) und wieder zu Lotte zurück kehrt ist sicher kritisierenswert, aber nicht das er die Stellung bei Hofe verließ.
6. Okay, Werthers Meinung über diee Ständegesellschaft ist zynisch und die Beispiele belegen korrekt, das es ihm bei dieser Thematik hauptsächlich um seinen eigenen Vorteil geht.
Aber: Ich könnte auch nicht mit einem geistlosen Pedanten zusammenarbeiten. Ich sehe das Problem hier eindeutig beim Gesandten. Auch der Graf erregt sich über ihn (und das zu Recht) und wie soll man mit einem Mann zusammenarbeiten...aber das hatten wir schon.
Weiter heisst es im Essay:
Mit Hochmut und Geringschätzung begegnet er schliesslich auch dem Rest der adligen Gesellschaft. Auf die, die gesellschaftlich über ihm stehen, schaut er herab. (Seite 10, 2.Absatz).
Meiner Meinung nach tut er das völlig zurecht. Sein Zynismus gegenüber ihrer Rangsucht und ihres geistlosen Wettbewerbs der Eitelkeiten ist eine völlig berechtigte Schutzreaktion seinerseits. Was soll er tun? Solche Menschen auch noch ehren, sich ihnen unterordnen und als Schleimbuckel enden? Ich verstehe hier die Kritik an Werther nicht. Korrekterweise ist sein Stolz gekränkt, als nach dem skandalösen Vorfall sich alle das Maul über ihn zerreißen - was bitte schön würde der Essayist tun der sich in einer solchen Gesellschaft befindlich unwohl fühlt und dann noch zum Tratschgegenstand jeder Kaschemme und des Hofes wird? Hier sind wir fundamental anderer Meinung.
7. Werther`s Zitat zur Arbeit (Seite 11) sollte noch in einem anderen Kontext betrachtet werden, als der Essayist es tut. Die moderne Frage lautet: Was fängt der Mensch mit seiner Freiheit an, wenn er sie denn nach Dienstschluss erhält? (wenn wir hier einmal Freiheit so definieren, das er dann im Rahmen seiner Möglichkeiten tun und lassen kann was er will und nicht mehr weisungsgebunden ist). Und ich glaube: Da hat der Werther den Nagel auf den Kopf getroffen. Es ist nur private Erfahrung, aber mir fallen spontan 5 Menschen ein, deren Leben mehr oder weniger aus Arbeit besteht und die mit freier Zeit, ohne geleitet zu werden, nichts anfangen können, denen Eigenmotivation ein Fremdwort ist. Dieser Kontext ist deshalb so interessant, weil Werther`s Kritik an der bürgerlichen Lebensform durchaus berechtigt ist und glaubwürdiger wäre, wenn er etwas zustande brächte. Doch der Essayist hat korrekt erkannt: Werther ist kein Genie!
Hier stimme ich voll und ganz zu. Und gerade deswegen wirkt seine Kritik an Anderen und deren Zeitverschwendung und Freiheitsangst höchst unglaubwürdig. Nicht nur Müßiggang ist aller Laster Anfang hat hier als Sprichwort zu gelten sondern auch Kehre erst einmal vor deiner eigenen Türe, lieber Werther.
8. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen das der Werther es nicht geschafft hätte, Lotte ein guter Mann zu sein. Er hätte eine ganz andere Motivation gehabt und die Fesseln der Einschränkung einer bürgerlichen Existenz wesentlich leichter ertragen können - behaupte ich. Aber das ist Spekulation. Schwierig geworden wäre es auf jeden Fall.
Das bestimmte So ist das mit Werther! ist schön provokativ aber wie wir gesehen haben kann man vieles dagegen setzen. Etwas schade ist es, das manche Betrachtungen des Essays, die ich richtig gut fand, unter den Tisch gefallen sind, aber zu denen hatte ich nichts mehr hinzuzufügen und keinen Diskussionsaspekt mehr gefunden. Dennoch wirken die 8 Punkte (fast alles kritische Punkte) jetzt so, als wenn hier nur eine negative Generalkritik vorgenommen wurde. Doch ich versichere, das mir dieses Essay eine durchaus differenzierte Sichtweise auf den Werther gerbacht hat und viele Gedanken beinhaltete, die ich nicht so extrem weiterverfolgt habe. Werthers Pathos, sein zunehmender Realitätsverlust, seine Idealisierung des unteren Standes und der Kinder, die Herausarbetung all dieser und vieler weiterer Aspekte gilt es hier eigentlich noch zu würdigen, aber eine Lobrede auf all diese Aspekte erscheint mir langweilig. So bleibt eine generelle Würdigung, die ich auf die anderen Kapitel mitbeziehe, die nun aber erstmal außen vor bleiben, um die Diskussion nicht ausufern zu lassen (und noch was in der Hinterhand zu haben...)
orangene grüße,
Hamburger