Das schmutzige Paradies

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mög
Sphinx
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Das schmutzige Paradies

Beitragvon mög » 14.07.2005, 01:42

Warum Kinder und Landstreicher wissen, was Zeit ist. Und wie Jack Kerouac zu Astrid Lindgren passt.

Mein kleiner Bruder liebt Bücher, in denen viel gesoffen, gevögelt, geraucht, gehirnwixt und allgemein auf die Gesellschaft geschissen wird, also zB Bukowski, Miller, die üblichen Verdächtigen – Jungmänner-Bücher eben. Die bekommt er alle von mir geschenkt. Wenn ich ihn nicht endlich mit dem richtigen Stoff angefixt hätte, wäre der nie über Tom Turbo hinaus gekommen. Natürlich les ich selbst das Zeug vorher auch, ich verschenke ja keinen Schrott. Aber ich wähle es doch eher in Hinblick auf seinen Geschmack, denn auf meinen, und ein bisschen wohl auch in der Absicht, die lässige, große Schwester zu markieren.

So hat es schließlich auch "Unterwegs" von Jack Kerouac auf mein Nachtkasterl geschafft. Der Klappentext versprach massenweise Musik, Mädchen und Marihuana, Aufbruch und Aufbegehren und ich dachte mir, fein, passt. Dieses Buch ist aber mehr.

Der Inhalt? Das Lebensgefühl der Beat-Generation, erzählt am Beispiel des jungen Sal Paradise, Schriftsteller und Kriegsveteran, der zu Beginn noch bei seiner Tante lebt, studiert, eigentlich die Frau seines Lebens sucht und zwischendurch tatsächlich so was wie ein geregeltes Leben führt. Aus dem wird er aber immer wieder herausgerissen von seiner Bande, allen voran von Dean Moriarty in einen Strudel aus Tempo, Jazz und Rauschmitteln.

Wer ist dieser Dean? Ein mutterloser Knabe, ein Frauenheld, Autodieb, Ex-Sträfling, Proust-Fan, ein Irrer, ein Narr, ein Heiliger – jedenfalls eine faszinierende Persönlichkeit, vital, viril, berstend vor Energie und Lebensgier. Er ist unbändig, unverbildet, der ominöse ungeschliffene Diamant, ein Savant. Menschen wie Dean werden immer die Helden aller Intellektuellen sein. Sal ist natürlich hin und weg.

Ich verschenke "Unterwegs" mit leichteren Herzen als den Bukowski, es ist weniger frauenverachtend. Klar, auch hier glauben die Kerle, die Frauen würden heimlich an ihrem Verderben stricken, weil sie merkwürdigerweise was dagegen haben von ihnen dauernd sitzen gelassen zu werden. Aber sie bekommen wenigstens gelegentlich dafür auch ordentlich den Kopf gewaschen, und es gibt da diese eine Szene, die für vieles entschädigt: Da hat Galatea Dunkel, eigentlich eine arme, kleine Randfigur, die erst schien, als wäre sie nur eingeführt worden, um von ihrem Ed abgehängt zu werden und ihm dann nachzurennen, ihren großen Auftritt. Sie hält vor der versammelten Bande Gericht über Dean, der wieder einmal seine Frau und sein Kind verlassen hat und Kerouiac lässt sie dabei nicht klingen wie eine keifende Xanthippe, sondern gibt ihr die Würde und die Größe einer Heldin aus der griechischen Tragödie (und nennt sie wohl auch nicht umsonst Galatea) – ohne dabei auch nur einen Augenblick Dean zu verraten.

Diese Szene markiert den Wendepunkt. Deans Jünger verlieren allmählich ihren Glauben an ihn, irgendwann bleiben sie doch bei ihren Frauen. Mit Sal, seinem letzten Getreuen unternimmt er noch eine Reise, die wildeste von allen, nach Mexico-City. Dort lässt er Sal mit Fieber liegen und als wir ihm das letzte Mal begegnen, wieder in New York, ist sein Feuer schon am Verglimmen, er ist wieder bei Camille, "seiner beständigsten, verbittersten und ihn am besten kennenden Frau" und wird doch ewig ein Streuner bleiben. Aber Sal, inzwischen erholt und verliebt, geht nicht mehr mit. Und doch wird Dean immer sein Held sein, einer der zerbrochenen, verlorenen Helden Amerikas.

Jetzt könnte jemand dem Buch anlasten, dass es Armut, Rausch und verantwortungslosen Sex glorifiziert, aber das tue ich nicht, denn mir scheint schon, dass durchaus nicht verhehlt wird, wie beschissen sich das alles auch anfühlen kann. Aber die Schönheit, in die alles getaucht ist, ist trotzdem wahr, weil die Welt schön sein kann und man gleichzeitig verrecken kann darin, weil das eine nichts mit dem andere zu tun hat. (Wobei "Nicht-Verrecken" tendenziell wichtiger ist als Schönheit, in meine Augen, aber gut. Übersehen darf man die Schönheit keinesfalls). Sal Paradies heißt der Erzähler, Kerouac war Franko-Kanadier, "sale" heißt schmutzig auf französisch, und genau das ist die Welt: ein schmutziges Paradies.

Wenn wir schon bei haltlosen Spekulationen über sprechende Namen sind - Dean, warum heißt der Moriarty? Mors steckt darin und Ars, Tod und Kunst. Ein Künstler ist Dean allerdings, aber vielleicht kein Lebenskünstler, bei all seiner Kraft ist er nicht eigentlich lebenstüchtig. Er ist so gierig auf diese Welt und streckt beide Hände danach und ist doch nicht geschaffen für sie. Armer, kleiner, mutterlosere Knabe.

Denn dass sein Weg nicht gangbar ist für uns, auf die Dauer, das kommt schon irgendwie heraus. Aber gehen muss doch einer diesen Weg, um uns zu zeigen, dass er da ist. Stellvertretend für uns, auch wenn er selbst dabei verkommt. Denn wer sich nach allem streckt und alles einsteckt, was er in die Finger kriegt, steckt auch die Schläge ein, die Schläge gehören dazu. Das ist der Beat, nicht nur der Puls, der treibt, die Musik – das ist auch beat und beatific, geschlagen und glückselig. Und das hat fast etwas Märtyrerhaftes, und deshalb bekommt Dean auch so oft das Attribut "heiligenmäßig" verpasst.

Pathetisch? Klar. So ein Buch kommt nicht aus ohne Pathos. Aber es ist der gute Pathos, nicht der klebrige, aufgeblähte, verlogene und auch nicht der ironisch verbrämte, kokette, sondern der kindliche, ernste, herzzerreißende. Kindlich, ja. Denn Kinder tappen nicht wie wir in die Ironie-Falle, weil wir nicht übersehen können, das alles ein Spiel ist, ein grausames, ein blödes mitunter. Kinder schaffen das mühelos, alles als Spiel sehen und alles wichtig nehmen, weil es für sie noch kein Widerspruch ist, weil sie noch wissen, dass es nichts Wichtigeres gibt als das Spiel.

Man kann also sagen, Dean ist heiligenmäßig. Man kann auch sagen, Dean ist eine Pippi Langstrumpf. Eine schmutzige, verschwitze, Autos klauende Pippi Langstrumpf für Erwachsene. Und das ist bitte, keine Blasphemie, das ist die höchste Anerkennung aus meinem Mund, denn Pippi ist Punk, verdammt! Wenn Dean auf der Fähre ruft "Los, alle aussteigen, jetzt müssen wir den Fluss und die Menschen erleben und den Geruch der Welt atmen.", dann ist das nicht anders, als wenn Pippi aufruft, mit ihr den Spunk zu suchen oder den Weihnachtsbaum zu plündern. Dean nimmt dich mit auf seine Reise ins Abenteuer, im Grunde immer auch auf der Suche nach seinem Vater, dem legendären Landstreicher, wie auch Pipi loszieht, ihren Vater zu suchen, den Piratenkapitän, Mutter haben beide keine, schwindeln können sie beide und Amerika ist das Taka-Tuka-Land. Dean befreit Sal aus all seinen zaghaften Ansätzen zur bürgerlichen Beschaulichkeit, genauso wie Pippi Thomas und Annika aus ihrer wohlbehüteten Bravheit.

Schon als ich den Satz las "Und wie war ich glücklich!", da dachte ich, das ist ein Satz wie aus einem Astrid Lindgren Buch. Vielleicht auch, weil Astrid Lindgren die erste war, bei der ich so eine Hymne auf die Freiheit der Straße gelesen habe. "Rasmus und der Landstreicher" hieß das Buch. Kinder und Landstreicher haben etwas gemeinsam. Weil die Augen noch offen sind. Weil alles neu ist für ein Kind und auf Reisen.

Dieses Buch ist so voller Begeisterung, dass ich nicht anders konnte, als begeistert zu sein.

Normalerweise kann mir das alles auch ungemein auf den Wecker gehen, dieser Rausch, das Fieber, der Wahn. Ich finde das dann aufgekratzt, überdreht, hysterisch und anstrengend und interpretiere es als erbärmlichen Versuch, sich von der Banalität des Alltags abzulenken, aus dem Leben zu flüchten, das durch all die Exzesse um nichts weniger durchschnittlich ist. Aber so müde ich dieses Fieber begähne, wenn ich es für aufgesetzt halte, so ehrfürchtig sinke ich davor in die Knie, wenn ich den Eindruck habe, es ist echt, wenn ich spüre, dieser Rausch nährt sich nicht von den Drogen, sondern vom Leben selbst.

Und bei diesem Buch ist das an machen Stellen der Fall. An diesen Stellen ist es mehr als wild und verwegen, an diesen Stellen ist poetisch, romantisch und rein. Rein ist überhaupt so ein Wort, das oft fällt. Und "Wissen, was Zeit ist", das sagt Dean auch oft, darum geht es. Und ich denke mir, scheiße, ja – diese Leute wissen was Zeit ist. Kinder und Landstreicher wissen es. Sie wissen, wie man damit umgehen muss, dass man jede einzelne Sekunde verschwenden muss, weil sich die Zeit nicht horten lässt.

Also: Los, alle aussteigen, jetzt müssen wir den Fluss und die Menschen erleben und den Geruch der Welt atmen.

- Und dieses Buch lesen, füge ich hinzu.
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Re: Das schmutzige Paradies

Beitragvon Lunch » 17.08.2005, 14:40

Da kann ich nur zustimmen, ein absolut wunderbar verrücktes Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte, vor allem in der Reisezeit. Was mir an Herrn Kerouac vor allem immer gefallen hat war die Aufrichtigkeit, die man auf jeder Seite findet, aus einer Zeit, in der Literatur noch nicht sarkastisch und arrogant sein musste. Ich kann meinem Vorgänger nicht viel hinzufügen, muss aber noch auf den Godfather der Landstreicherei hinweisen, nämlich Jack London und seinen Roman "Abenteuer eines Tramps". Das Buch spielt im Amerika des 19. Jahrhunderts und ebschreibt Auszüge aus dem Leben des jungen Tramps "Matrosen Jack". Ein freies, wildes Leben mit all seinen Gafahren und Grenzen. Wohl eher was für Fans des Genres, aber die werden sicherlich nicht enttäuscht sein.
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