in diesem Thema werde ich mich mit dem zweiten Teil deiner Rezension, mit dem Teil „Der Charakter des Werther“ beschäftigen. Ich greife wiederum einzelne Punkte heraus, die mir kontrovers genug erscheinen.
Aspekt 1
Ich denke, hier könnte man dir deine eigenen Worte entgegenhalten:Werther ist ein sehr empfindsamer Mensch. Dies wirkt sich umso mehr auf sein Denken und Handeln aus, da er nicht in der Lage ist seinem Verstand das Primat vor seinem Herzen einzuräumen.
Wahrscheinlich haben wir beide in unseren Charakterisierungen von Werther seinen Verstand, seine Fähigkeit zur Selbstironie und zur distanzierten und treffenden Analyse seiner eigenen Lage unterschätzt oder nicht deutlich genug gewürdigt! Dafür ein paar Belege:Was den zweiten Satz angeht, so finde ich es erstaunlich, das Werther es dennoch schafft sich von seiner Lotte für eine lange quälende Zeit loszusagen, als er die Stelle bei Hofe antritt und dann den Frühling bei einem Fürsten auf dem Jagdschloss verbringt.
Hier zeigt sich also, dass Werther sein „Leiden“ durchaus durchschauen kann. Trotzdem wirkt er wie gelähmt: er vermag die Erkenntnis nicht oder nur schwer in Konsequenzen umzusetzen. Das zeigt seinen Kampf und die Stärke seiner Leidenschaften.[...] ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles, Schritt für Schritt, hineingeraten bin! Wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen und doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe, und es noch keinen Anschein zur Besserung hat.
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 44, Brief vom 8. August 1771, Abends.)
Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft?
(Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 55, Brief vom 30. August 1771)
Aspekt 2
Ich habe in meinem Essay gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Seine Mitgefühl richtet sich überdurchschnittlich auf die unteren Stände und deren Probleme.Er nimmt tiefen Anteil am Schicksal seiner Mitmenschen, ... ohne dabei auf gesellschaftliche Unterschiede zu achten.
Aspekt 3
Werthers Ende ist nicht selbstlos – ganz im Gegenteil. Seine Liebe und die Ursache seines Leidens sind selbstsüchtig. Seine Zwecke sind eindeutig: er will Lotte besitzen, weil ihm das im Diesseits verwehrt wird, verlagert er seine Wünsche auf die jenseitige Welt. Und noch etwas sollte man unterscheiden: Werther sehnt sich nach einer unbedingten, vollkommenen Liebe. Aber er ist kein unbedingter Mensch. Wäre er unbedingt, wäre er auch ungefährdet. Aber wie sehr Werther durch seine Empfindsamkeit, seine Leidenschaft, sein Liebesbedürfnis bedingt, eingeschränkt und schicksalhaft bestimmt ist, zeigt sich sehr deutlich im Verlauf des Buches.Werther ist ein unbedingter Mensch. Er liebt und leidet bis zur Selbstaufgabe.
Aspekt 4
Ich denke, das sollte man unterscheiden. Es gibt ein Unterschied zwischen Glück und Manie, zwischen Melancholie und Depression. Das eine bewegt sich im Bereich der normalen Schwankungen, denen menschliche Empfindungen unterliegen, das andere ist pathologisch. Bei Werther können wir einen Wandel von einer manisch-euphorischen Phase (Natur, Lotte, Kinder) zu einer depressiv-suizidalen Phase am Ende erleben. Diese Entwicklung ist aber kontinuierlich. Es findet kein ständiger Wechsel zwischen beiden Polen statt, wie du behauptest und wie sie für den Manisch-Depressiven eher typisch sind.Werther ist ein glücklich-melancholischer, psychologisch ausgedrückt ein manisch-depressiver Mensch.
Auch wenn du hier die berühmten Goetheworte benutzt - es trifft auf Werther nicht zu. Sein Leiden beginnt mit der Rückkehr von Albert. Dann nehmen die glücklichen und euphorischen Momente immer mehr ab und die schwermütigen, tobsüchtigen immer mehr zu. Mit deinen Worten: „Je länger er Lotte kennt, desto melancholischer wird er und desto mehr leidet er ...“ Wie unpassend ist daher auch die berühmte Zeile, die in dem Egmont-Zitat folgt:der aufgrund seiner starken Empfindsamkeit und seiner Unbedingtheit fast durchgehend zwischen den Polen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt hin- und herwechselt.
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.
Aspekt 5
Zur ersten Fußnote: das hast du gut herausgearbeitet und treffend formuliert! Ich glaube, im ersten Teil meines Essays streife ich denselben Gedankengang. Es rührt mich, dass wir hier (vor allem unabhängig voneinander) den gleichen bzw. einen äußerst ähnlichen Gedanken entwickeln. Zufall? Telepathie? Seelenverwandtschaft?
Aspekt 6
Zur dritte Fußnote: eigentlich lautet das Sprichwort: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“ Und stammt von Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834). Aber deine reduzierte Variante ist auch nicht schlecht und trifft vollkommen auf Werther zu!
gelbe grüsse