Das Staunen wieder lernen

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gelbsucht
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Das Staunen wieder lernen

Beitragvon gelbsucht » 17.01.2003, 00:15

Hans-Jürgen Hilbig
Es gibt keine Zeit mehr
Gedichte.
Detert Verlag 1999
ISBN 3-934142-98-2

Es war nicht leicht, an das Buch zu kommen. Amazon kannte weder Buch, noch Autor; und auch der Computer in einer der größten Buchhandlungen Düsseldorfs wollte es erst nicht finden. Schließlich blieb nichts anderes übrig und man musste es direkt beim Verlag bestellen. Wahrscheinlich nennt man, was sich so hartnäckig dem Konsum entzieht, einen Geheimtipp!

Nach zwei Wochen hielt ich dann ein kleines Buch in der Hand, vielmehr: ein Büchlein mit seinen etwa hundert Seiten und doch ist es jeden einzelnen Cent wert, den es mich gekostet hat. „Es gibt keine Zeit mehr“, nennt sich der Band im Hosentaschenformat und enthält 91 Gedichte. Es ist eine vergnügliche und verwirrende Lyrik, die man hier zu lesen bekommt.

Annelie liegt da so rum

Annelie liegt auf der Wiese.
Liegt da einfach nur so rum.
Der Tag ist hell und stolz darauf.
Strahlt er sie an, lächelt,
denkt: „Gut so, du!“
(denn er kennt ihren Namen nicht)
„Gut, daß wenigstens du da liegst.“
Doch da taucht auch schon
die Gesellschaft auf.
Blitzartig kommen sie um die Ecke.
Starren sie an, gucken auf die Uhr.
Haben gerade noch Zeit,
die Köpfe zu schütteln.
Verstehen nicht, daß man da
einfach so rumliegen kann.
Gehen weiter.
Ihnen platzt der Terminkalender.
Alles voll.
Aber irgendetwas muß man doch tun ...

Wenig später kommen Einsatztrupps vorbei.
Sozialarbeiter reden auf sie ein:
„Komm doch mal zu uns!“
„Wir hören dir zu.“
„Du kannst über alles reden.“

Annelie möchte weder
reden noch denken.
Sie liegt einfach da.
Ihr Schweigen ist eine
Zumutung für diese Welt.

(Hans-Jürgen Hilbig: Es gibt keine Zeit mehr. S. 54f.)


Mit viel Wortwitz und Ironie, aber auch mit einer ebenso großen Portion an Feinfühligkeit wagt es der Autor, gerade die alltäglichen Dinge neu zu entdecken. Er wendet sie um: man blinzelt, man reibt sich die Augen, man wundert sich, was plötzlich hinter dem Alltäglichen, dem Banalen, dem Gewöhnlichen, dem oftmals Übersehenen zum Vorschein kommt. Hilbig lesen, heißt: das Staunen wieder lernen! Mit der beinah vorurteilslosen Logik eines Kindes, die bis in den Unsinn driften kann, und einer ebenso verspielten Sprache (die Sprichwörter verdreht und entfremdet oder über einzelne Worte stolpert), gelingt es ihm, sehr seltsame, berührende und lebendige Gedichte zu schreiben. Ich nenne es: die Märchen vom Alltag. Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der nicht verlernt hat, zu spielen. Ich halte das für eine große Tugend. Und auch eine andere Eigenschaft, die im Zeitalter des Fernsehens, der multimedialen Reizüberflutung und der geradezu hygienischen Hochglanzästhetik seltener geworden ist, habe ich an ihm entdeckt: Phantasie. Ich möchte sagen: sie ist bei ihm geradezu organisch. Unübersehbar ist auch ein bisweilen ziemlich kritischer und zynischer Unterton, mit dem er, ohne ins Moralische abzuschweifen und uns irgendeine Meinung aufzudrängen, treffend menschliche Schwächen oder gesellschaftliche Probleme aufs Korn nimmt.

Ach was

Gegen die allgemeine Sprachlosigkeit
findet heute Abend um neun
ein Schweigemarsch statt.
Bitte bringen sie ihre Fußabtreter mit!

(Hans-Jürgen Hilbig: Es gibt keine Zeit mehr. S. 10)


Mit Tragik und Komik sind seine Gedichte gewürzt, am besten sind jedoch diejenigen, in denen das Tragische und das Komische zusammenkommen. Diese haben mich beim Lesen am meisten berührt. Gerade denjenigen, die bei Gedichten zuerst an Goethe und Schiller denken, während sich in ihrem Bauch zugleich ein mulmiges Gefühl einstellt, möchte ich diesen kleinen Gedichtband empfehlen. Er ist nicht zu dick, die Gedichte sind eher kurz, die Sprache ist leicht verständlich. Das sind Gedichte, die Spaß machen, Gedichte, von denen es mehr geben sollte.

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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