in diesem neuen Thema will ich noch ein paar Anmerkungen zu den Teilen „Urteil und Begründung“ und zu „Ein typischer Goethe“ deiner Rezension machen.
Hauptpunkt:
Diesem Urteil, dieser Konklusion deiner Rezension schließe ich mich 100prozentig an – nur damit keine Missverständnisse aufkommen!Es handelt sich um einen außerordentlich lesenswerten Roman, ...
Kritikpunkt:
Ich denke zwar, dass die Identifikation des Lesers mit dem Schicksal von Werther durch die besondere Form des Romans begünstigt wird. Ich verweise hier auch noch einmal auf die Worte in meinem eigenen Essay, wo ich ähnliches äußere (vielleicht sollten wir unseren Verein umtaufen in: O livro – Club der Telepathen):Schon die Form des Romans weiß zu gefallen, da sie eine hohe Identifikation mit der Hauptfigur schafft. [...] Auf diese Weise ermöglicht es Goethe seinem Werther direkt von sich zu sprechen. Gerade deshalb geht die Geschichte des Werther dem Leser nahe. Es fehlt – und das ist ein Vorteil – weitgehend die distanzierte Sichtweise eines Erzählers, der, alleine dadurch, dass er nicht denselben außergewöhnlich extremen Charakter wie Werther haben kann, sein Leiden relativiert hätte. [...] Da Werther sich selbst einem sehr guten Freund anvertraut, gibt er sich preis, kehrt sein Innerstes nach Außen und der Leser wird mitgerissen [...]. So erscheint das, was den Werther bewegt, viel anschaulicher und verständlicher, als wenn es durch einen Erzähler gefiltert worden wäre.
Aber! Allgemein denke ich, dass die Identifikation mit einem Protagonisten primär nicht von der Erzählperspektive abhängt, sondern von den Inhalten der Erzählung, von den beschriebenen Handlungen, von der Charakterisierung! Ob wir uns mit jemanden identifizieren, hängt davon ab, ob wir uns vorstellen können, an seiner statt ebenso zu handeln – oder uns zu wünschen, so handeln zu können. Im Konflikt, in schwierigen, widrigen oder aussichtslosen Situationen beweist sich der Charakter des Protagonisten durch sein Handeln: er wird für uns selbst zum Vorbild oder nicht. Dieser psychologische Mechanismus, den Aristoteles in seiner „Poetik“ schon ziemlich treffend geschildert hat, ist unabhängig von den verschiedenen Erzählperspektiven (Ich-Erzähler, personaler Erzähler, auktorialer Erzähler) und auch von verschiedenen literarischen Gattungen (sowohl im Drama, als auch in der Prosa hat er sich bewährt). Es lassen sich auch leicht Gegenbeispiele anbringen: denkbar ist auch ein Protagonist, über den erzählt wird und mit dem man sich trotzdem im Höchstmaß identifizieren kann, denkbar ist aber auch ein Ich-Erzähler, den man verabscheut. Mit den Schilderungen eines Soziopathen muss man sich noch lange nicht identifizieren, nur weil er als Ich-Erzähler daherkommt und einem Freund, der dazu dumm genug ist, sein selbstsüchtiges, asoziales Ego anvertraut! Einem Satz wie ...Man muss wiederum das Genie und den Witz des Autors hinter dieser Methode entdecken: Er vereinigt hier die Vorteile von zwei unterschiedlichen Gattungen. Der Roman hat die Intimität und Unmittelbarkeit eines Tagesbuches und doch ist nichts Indiskretes dabei, ihn zu lesen, da es dem Leser durch die persönliche, suggestive Art der Anrede leicht gemacht wird, in die Rolle von Wilhelm zu schlüpfen und sich selbst als Freund und Vertrauten Werthers zu empfinden.
... halte ich daher für problematisch. Und die Anschaulichkeit und Verständlichkeit einer Erzählung hängt nach meinem Dafürhalten auch nicht von der Perspektive, sondern von den Fähigkeiten des Autors ab.Gerade deshalb geht die Geschichte des Werther dem Leser nahe.
Unterpunkt:
Ist das nun ein Kritikpunkt oder ist es keiner? Das ist doch ziemlich wahllos und schwammig, was du hier sagst. Warum musst du den einzigen ernsthaften Kritikpunkt, den du gegen „Die Leiden des jungen Werther“ vorzubringen hast, im gleichen Atemzug wieder fast vollständig zurücknehmen und relativieren? Doch irgendwie sehe ich das ähnlich zwiespältig: Der Einsatz des Erzählers, des fiktiven Herausgebers wirkt am Anfang irgendwie stümperhaft: die ganze Art der Erzählung wird dadurch unterbrochen und auf den Kopf gestellt. Er stört und entschuldigt sich für sein Erscheinen und alle Perspektiven verändern sich plötzlich: Werther wird, wo er vorher das Zentrum der Erzählung war, zu einer Figur, der Erzähler wird zum Gegenstand der Erzählung eines anderen. Die Fiktion gerät ins Trudeln, und dennoch ist der Erzähler am Ende des Buches wichtig. Einen Grund hast du schon genannt, aber es scheint mir nicht der entscheidende zu sein. Ich zitiere aus dem Nachwort meiner Ausgabe:An dieser Stelle ist die Kritik anzubringen, dass gegen Ende des Romans stellenweise doch ein Erzähler auftaucht. Jedoch muss die Kritik insoweit entschärft werden, als dass es Goethe gegen Ende des Romans auch darauf ankommt, Abläufe zu zeigen, in die Werther keinen Einblick haben kann ...
Am Schluss erzeugt die Distanz und die Sachlichkeit des Herausgeber-Berichtes einen wunderbaren Kontrapunkt zu dem diffusen, aufgewühlten, manisch-depressiven Innenleben von Werther. Erst dadurch wird die ganze Intensität der Tragödie verdichtet und spürbar. Erst in diesen letzten lakonisch prägnanten, beinahe kühlen Sätzen liegt die Macht des Schauers, der uns durchs Mark gegangen ist:Werthers Weltlos-Werden äußert sich in dem Verschwinden aller Gegenständlichkeit in seinen Briefen. Da setzt nun der Bericht des Herausgebers ein. Anfangs waren in Werthers Briefen Ich und Welt verbunden. Diese beiden Bereiche entfernen sich mit der wachsenden Katastrophe immer mehr voneinander; am Ende ist die Beziehung zerrissen; [...]. Seine Briefe sind am Ende nur noch Ich. Die Welt aber geht weiter, und da, wo sie in Werthers Briefen aufhört, wird sie nun gegeben durch den Herausgeber-Bericht.
(Erich Trunz: Nachwort. In: Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 165)
Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Unterpünktchen:
Ein Wort stört mich an diesem Satz: endgültig. Sollte es nicht besser heißen: überhaupt? Endgültig relativieren heißt aufgeben bzw. verwerfen. Überhaupt relativieren heißt Kompromisse machen bzw. etwas nachgeben. Interessant finde ich den Aspekt der Einsamkeit, den du hier streifst. Kannst du das noch etwas ausführen?Werther ist letztendlich ein einsamer Mensch, da er seine Standpunkte, Wünsche und Ziele niemals endgültig relativiert.
Schlusspunkt:
Ich habe zu der Frage, „inwieweit dieser Roman typisch für Goethe ist“, eigentlich auch nichts neues, nichts erhellendes beizutragen. Wir sollten bedenken, dass dieser Roman in die relativ kurze Epoche des „Sturm und Drang“ fällt. Eine kurze, intensive Periode, eine Übergangszeit. Die meisten Goethewerke fallen dagegen unter den Rahmen „Klassik“. Es ist also naheliegend, wo solche Grenzen gezogen werden, anzunehmen, dass dieser Roman verglichen mit Goethes Gesamtwerk irgendwie „aus der Reihe tanzt“.
Das letztere denke ich nicht. Goethe hatte Bammel vor diesem Buch, weil es wahrscheinlich eines seiner intensivsten und persönlichsten Werke war. „Brandraketen“ meint nicht: moralisch oder ethisch fragwürdig, sondern: er hat es selbst durchlitten, war selbst an so einem jungen Tod vorbeigeschrammt und es lauerte für ihn ein Leben lang die Gefahr darin, dass die alten Wunden wieder aufgehen und sich neu entzünden. Orginalton Goethe:"Es sind lauter Brandraketen", sagte er noch im Alter zu Eckermann."
Gerade dieses Zitat weist doch sehr darauf hin, dass Goethe bei diesem Roman, um es etwas despektierlich auszudrücken, die Pferde durchgegangen sind und er einiges vom Geschriebenen später so nicht mehr vertreten hat (z.B. die schon angesprochene Verteidigung des Selbstmordes als nicht an sich lasterhafte Handlung).
Ich ehre auch solche Tat und bejammere die Menschheit und laß alle Scheißkerle von Philistern Tobakrauchbetrachtungen darüber machen . . . Ich hoffe nie meinen Freunden mit einer solchen Nachricht beschwerlich zu werden.
(An Kestner, 10, Oktober 1772)
Ich korrigiere am „Werther“ und finde immer, daß der Verfasser übel getan hat, sich nicht nach geendigter Schrift zu erschießen.
(An Charlotte v. Stein, 25. Juni 1786)
Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt „Werther” wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen.
(An Zelter, 3. Dezember 1812)
Doppelpunkt, Klammer, Bindestrich, fertig ist das Smiliegesicht:
gelbe grüsse