PISA ANNO 1906

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gelbsucht
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PISA ANNO 1906

Beitragvon gelbsucht » 18.02.2003, 18:40

Hermann Hesse
Unterm Rad

Kann ein Buch, dass Anfang des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurde und sich mit den menschenverachtenden Erziehungsmethoden des wilhelminischen Schulsystems auseinandersetzt, heute noch irgendeine Relevanz besitzen? Es kann. Und zwar dort, wo wieder stumpfsinniges, allein auf Leistung, Erfolg und Anpassung orientiertes Lernen betrieben wird; wo Pubertierende mit möglichst abrufbereitem Wissen angereichert und mit Fähigkeiten domestiziert werden, um die Nachfrage des Marktes nach Humankapital zu decken; wo Pädagogen nicht interessiert, dass sie Menschen vor sich haben, junge Menschen, die in einer empfindlichen Entwicklungsphase stecken, die darüber entscheidet, was für Persönlichkeiten sich aus ihnen entfalten werden, eine Phase, die Feinfühligkeit verlangt, da hier jeder Einfluss von Bedeutung ist und jeder Missgriff schwere Schäden – oder besser ausgedrückt – Verletzungen hinterlassen kann, die den Heranwachsenden ein Leben lang brandmarken können. Das Buch wird heute vor allem dort gebraucht, wo Eltern und Erzieher zu viele Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen in ihre Zöglinge setzen, sie in feste, vorgestanzte Rollen zwängen, sie zu schnell den Ansprüchen, dem Leistungsdenken und dem Stress der modernen Gesellschaft aussetzen, noch ehe sie robust, selbstsicher und eigensinnig genug sind, diesen Druck zu kompensieren, noch ehe sie die Chance hatten, ihre eigenen Wünsche, ihre eigene Berufung zu entdecken und ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft zu entwickeln. Ich will das ganze nicht schwarz malen: wir besitzen heute sicherlich mehr Freiheit und Raum für Individualität denn je. Doch wir müssen uns darum nicht einbilden, die Schule von heute wäre ein Haus des unbekümmerten Lernens geworden. Besonders den Fällen, wo junge Menschen "unters Rad kommen", sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Doch leider haben selbst die extremen und erschütternden Fälle der Amokläufer von Freisingen und von Erfurt nicht dazu geführt, dass die sozialen Ursachen und Hintergründe näher ausgeleuchtet werden. Die emotionalisierten, aufgewühlten, aber inflationären und dann jäh wieder verebbenden Wellen der medialen Kritik und ihre reaktiven, politischen Nachwehen konzentrierten sich auf das Klischee der "Gewalt in den Medien" als Ursache. Ein paar Videospiele und Musikstücke gerieten in den Fokus der Weltverbesserer. Das war's!

"Unterm Rad" von Hermann Hesse erzählt die Geschichte des jungen Hans Giebenrath, der in einem kleinstädtischen Schwarzwaldnest aufwächst und dort die hiesige Lateinschule besucht. Hans ist ein stiller und magerer Junge, aber er hat seinen Altersgenossen etwas voraus: er ist klüger als sie, er hebt sich von den anderen ab. Darin sind sich auch alle einig. Sein Vater, sein Lehrer, seine Mitschüler, der Rektor und selbst der Stadtpfarrer, sie alle sind überzeugt: der Hans ist etwas Besonderes. So setzen sie ihren ganzen Ehrgeiz in ihn, fördern und fordern ihn und der Hans sitzt bis spät in die Nacht über Latein, Griechisch und Rechenaufgaben. Manchmal befällt ihn ein dumpfes Schmerzen im Kopf, aber ein zäher, verbissener Ehrgeiz hat von ihm Besitz ergriffen. Der einzige Weg der zu höherer Bildung führt, ist für Hans, dessen Vater sonst die notwendigen Mittel nicht hat, das Landexamen zu bestehen, um in das Seminar im Kloster Maulbronn einzuziehen, als Vorbereitung auf das spätere Studium der Theologie im Tübinger Stift. Nervös und ängstlich macht sich Hans mit seinem Vater auf nach Stuttgart. Am Ende der mehrtägigen Examensprüfungen und in der Überzeugung versagt zu haben, reist er in sein Heimatstädtchen zurück, ganz entmutigt und niedergeschlagen, dass alle Mühe, alle Arbeit umsonst gewesen sei. Doch dann die Nachricht aus Stuttgart: bestanden und zwar als Zweitbester. Erleichtert, glücklich und auch stolz erwacht Hans zu neuem Leben: endlich Ferien! Da gehen ihm die Augen auf, was er in den vergangenen Wochen und Monaten verpasst hat und er muss entdecken, dass es noch eine Welt jenseits der Bücher und Schulstube gibt. Er fängt wieder das Angeln an, das man ihm in der Vorbereitungszeit zum Landexamen untersagte, und er genießt es, einfach in den Tag hineinzuleben. Doch nicht lang und der Pfarrer und der Rektor kommen auf ihn zu. Unfähig "nein" zu sagen und bestrebt, niemanden zu enttäuschen, nimmt er den zusätzlichen Unterricht auf sich, der ihn auf das Seminar in Maulbronn vorbereiten soll und während die anderen Kinder in der größten Hitze des Tages im Fluss baden und sich abkühlen, sitzt Hans in einer staubigen Stube und lernt. Seine Ferien sind vorbei ehe sie angefangen haben, die Kopfschmerzen stellen sich wieder ein, matt und blass ist er, als ihn sein Vater acht Wochen später nach Maulbronn bringt. Von außen betrachtet ist bis hier für ihn alles glatt verlaufen, doch jetzt wendet sich das Blatt ...

Hesse verarbeitet in diesem Buch die Erfahrungen seiner eigenen Kindheit. Allerdings ist es schlichtweg falsch, wenn man in zahlreichen im Internet kursierenden Schülerrezensionen zu lesen bekommt: Hermann Hesse ist Hans Giebenrath. Das ist Blödsinn! Ich glaube: vielmehr hat er mit diesem Buch seinem Bruder Hans, der Selbstmord beging, ein Denk- und Mahnmal gesetzt und dabei seinen eigenen Leidensweg aufgearbeitet. Vom Charakter aber scheint er dem stillen Streber Hans Giebenrath eher unähnlich. Den jungen, rebellischen Hesse, der selbst das Landexamen absolviert hat, aber nach nur 7 Monaten aus Maulbronn geflüchtet ist, schutzlos auf einem Feld übernachtend, erkennt man wohl eher in der Figur des Hermann Heilner wieder. Wenn es da nicht schon beim Namen klingelt: Hermann Heilner (so wie später beim "Steppenwolf": Harry Haller)? Zudem wird uns der frühreife Bursche auch noch als Dichter und Schöngeist, als Außenseiter und Rebell vorgestellt. Also ich kann jedem nur empfehlen sich eine Biographie von Hermann Hesse zu verschaffen: dessen Kindheit und Jugend ist mindestens ebenso spannend wie eins seiner Bücher!

Es gibt einen Film, an den mich die Erzählung "Unterm Rad" erinnert hat: Der Club der toten Dichter. Es zeigen sich hier eine ganze Menge thematische Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten – angefangen bei der Kritik an pädagogischen Methoden bis hin zum Suizid bei Jugendlichen. Ich denke, gerade auch dieser Film ist ein Beweis dafür, wie aktuell das Thema des Buches noch immer ist. Ich fühle mich aber auch an ein Lied von Reinhard Mey erinnert, das "Faust in der Hand" heißt (und sich auf dem Album "Rüm Hart" findet). Ich zitiere daraus die zweite Strophe:
Es gab nur Liebe und Versteh'n, gab nur Freiheit bislang
Und nun droh'n Misserfolge und Versagen
Der Wissensdurst versiegt unter Bevormundung und Zwang
Die Gängelei erstickt die Lust am Fragen
Die Schule macht sich kleine graue Kinder, blass und brav
Die funktionieren und nicht infragestellen
Wer aufmuckt, wer da querdenkt, der ist schnell das schwarze Schaf
Sie wollen Mitläufer, keine Rebellen
Ja-Sager wollen sie, die sich stromlinienförmig ducken
Die ihren Trott nicht stör'n durch unplanmäßige Phantasie
Und keine Freigeister, die ihnen in die Karten gucken
Und die vielleicht schon ein Kapitel weiter sind als sie.
Bei Hesse geht das dann so:
Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres vom anderen leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist, und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden.
Neben der bisweilen sehr ängstlichen und beklemmenden Stimmung und Spannung, die in "Unterm Rad" heraufbeschoren wird, begegnet uns dort auch ein sehr bildverliebter, sprachgewandter und spätromantischer Hermann Hesse. Ich habe jetzt noch die Bilder der Kleinstadt vor Augen, die schmuddelige Gasse zum Falken oder den großstädtischen Trubel in Stuttgart, aber vor allem den Fluss und die Flora, die ihn und die Wälder umgibt. Gerade in Kontrast zu dem taumelnden Giebenrath und zu seinem traurig fortschreitenden Schicksal entfesseln diese romantischen und malerischen Beschreibungen viel Charme und Kraft.

Noch eins: ich habe mit "Unterm Rad" erstmals einen Roman als Hörbuch konsumiert und ich kann das wirklich weiterempfehlen. Gerade abends vor dem Einschlafen, im Bett und mit Kopfhörern ist diese Art Literatur zu genießen unvergleichlich. Man kann einfach die Augen schließen und sich den Worten und seiner eigenen Phantasie überlassen. Für mich war diese Erfahrung wirklich neu, da ich zu einer seltsamen TV-Junk-Generation gehöre, die Hörspielkassetten a la "TKKG" oder "Die drei Fragezeichen" einfach ausgelassen hat. Aber man kann sagen: ich bin auf den Geschmack gekommen. Es ist doch erstaunlich, was Sprache für eine Wirkung zu entfalten vermag, wenn sie nicht nur hastig und still gelesen, sondern gesprochen wird. Einen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle an Samuel Weiss aussprechen, der mir mit seiner Lesung einen nachhaltigen Eindruck des Romans "Unterm Rad" verschafft hat.

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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