Zum guten Schluss...

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Hamburger
Phantasos
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Zum guten Schluss...

Beitragvon Hamburger » 25.02.2003, 16:08

Hallo gelbsucht!

Mit den Kritischen Anmerkungen
deines Essays möchte ich mich noch befassen. Es gibt noch drei Punkte, zu denen ich etwas sagen möchte.

1)
"Zum einen hat mir die Ossian-Vorlesung am Ende des Buches doch einiges verdorben (...) Als moderner Leser empfinde ich diesen Einschub einfach nur als störend." (Seite 13, 2.Absatz von Kritische Anmerkungen


Es ging mir genauso wie dir. Auch ich empfand diesen Einschub als unangebracht. Jedoch hat Goethe das Buch ja nicht Anfang des 21.Jahrhunderts geschrieben, sondern Ende des 18.Jahrhunderts. Da frage ich mich, inwieweit die Kritik noch zutreffend ist. Goethe hat sicherlich auch seine aktuelle Leserschaft im Blick gehabt und ob die das Ganze als ganz und gar unzugänglich und pathetisch bewertet haben wage ich zu bezweifeln.
Ich will damit sagen: Unter dem Gesichtspunkt, dass ein gutes Werk seine Zeit um Längen überlebt weil es auch Lesern anderer Zeiten etwas zu sagen hat, trifft deine Kritik bezüglich der Ossian-Vorlesung zielsicher.
Aber Goethe wird nicht nur unter diesem Gesichtspunkt geschrieben haben. Es wäre interessant mal ein paar zeitgenössische Kritiken zu lesen bezüglich der Bewertung der Ossian-Vorlesung.

2) Deine Kritik am hier entworfenen Frauenbild teile ich voll und ganz. Jedoch muss einschränkend gesagt werden, dass der Werther gar nicht in der Lage ist Lotte ein wenig differenzierter zu schildern, so sehr ist er ihr verfallen (das wird Goethe mit Lotte Buff nicht anders gegangen sein).
Sicherlich ann man ihm ankreiden das er hätte schildern können, warum und wie Lotte vollkommen ist. Aber mit Grillen oder gar Schwächen seiner Angebeteten wird er sich nicht befasst haben.
Übrigens habe ich da noch einmal über deine Zukunftsspekulation nachgedacht, ob Werther ein guter Ehemann wäre: Für ihn wäre es eindeutig ein weiteres Problem, jenseits der dann entstehenden Zwänge, dass er dann auch die Schwächen seiner Angebeteten erkennen würde. Nur eitel Sonnenschein allenthalben ein Leben lang - das würde nicht gut gehen. Wie würde Werther reagieren, habe ich mich gefragt, wenn er an Lotte einer Schwäche gewahr würde?
Bezüglich der Grillen und Schwächen hätte eindeutig mehr und früher etwas vom Herausgeber kommen müssen, so meine ich. Allerdings wäre es dann notwendig gewesen den Herausgeber wesentlich früher einzuschalten.

3) Ich empfinde eigentlich auch keine Verwunderung darüber, dass der Werther seinem guten Freund Wilhelm sein Herz ergießt. Natürlich könnte man gerade aufgrund der zeitlichen Umstände stutzig werden, jedoch passt das meiner Meinung nach genau zu Werther`s Charakter. Er braucht jemandem, dem er sich anvertrauen kann, jemandem dem er sein Leid mitteilen kann, weil er es alleine nicht erträgt. Auch mit Fräulein B. redet er ja pausenlos nur über Lotte. Gerade hier halte ich es für eine geschickte Konstruktion, dass Wilhelm, wie du schrebst, "um einiges besonner und bürgerlich-pragmatischer sein muss, als er selbst" (Seite 14, 2.Absatz oben).
Man stelle sich einen Freund vor mit einem dem Werther ähnlichen Charakter. Der wäre nach drei Briefen schon zu Werther gereist oder hätte sonstwie übereilt gehandelt. Gerade das tut Wilhelm aufgrund seiner Natur, über die wir insgesamt nicht viel erfahren, nicht. Auch weil Werther das nach langer Freundschaft wissen wird und weil Wilhelm ein Freund ist und kein Verwandter ist er für Werther der ideale Ansprechpartner oder besser: der ideale Zuhörer bei seinem ewigen Monolog.

MFG,

Ham
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gelbsucht
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Re: Zum guten Schluss...

Beitragvon gelbsucht » 25.02.2003, 23:18

Hallo Ham,

dann werden wir noch einmal ein große, tiefsinnige, selbstzerstörerische Diskussion vom Zaun brechen, was? :-D

zu 1.) Was die Rezensenten seiner Zeit zu dem Ossian-Exkurs meinten, weiß ich leider nicht. Aber ich meine mich zu erinnern, dass mit der Euphorie und dem Kult um den Werther dann auch die Ossian-Welle bei den jungen Leuten losgebrochen ist. Was ich dazu gelesen habe, legt nahe, dass dieser Ossian, diese geschickte Fälschung traditioneller galischer Sagen (ein Mann namens Macpherson ist ihr Autor), sich gerade in der Sturm- und Drangepoche und auf dem Scheitelpunkt der Empfindsamkeit, die Europa erfasst hatte, einer großen Beliebtheit erfreute. Goethe selbst hat einige dieser Gesänge aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Goethe maß dieser Arbeit bald darauf wohl nicht mehr viel Bedeutung bei. Doch 1774 nahm er sie wieder vor, nicht um Ossians willen, sondern weil sie in Werther paßte als Element zur Charakterisierung des empfindsamen Helden. [...] Die Ossian-Vorlesung ist für ihn ein Roman-Motiv, nicht Verherrlichung eines Dichters; für ihn selbst war Homer viel bedeutender.
(In: Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Anmerkungen, S. 204/208)
Parallel dazu tritt im Roman Werther als Übersetzer auf:
"Da drin in meiner Schublade", fing sie an, "liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu hören; aber zeither hat sich's nicht finden, nicht machen wollen."
Ich finde eben nur, dass Goethe, der es durchaus verstanden hat die Moden und die Heftigkeiten dieser Epoche zu läutern und zur zeitlosen Kunst zu erheben (und ich würde ihm, anders als du, durchaus Vorsatz dabei unterstellen), sich hier zu sehr am Geschmack, am Zeitgeist orientiert hat. Aber es ist natürlich seine Leistung: er hat es übersetzt, er hat es in den Werther eingewoben und es ist, wenn man es recht betrachtet, nicht mehr herauszulösen – nur es stört mich als modernen Leser eben. Meine Kritik ist hier also durchaus von meinem persönlichen, subjektiven Empfinden geleitet.

zu 2.)
Jedoch muss einschränkend gesagt werden, dass der Werther gar nicht in der Lage ist Lotte ein wenig differenzierter zu schildern, so sehr ist er ihr verfallen (das wird Goethe mit Lotte Buff nicht anders gegangen sein).
Das denke ich auch. Aber es zeigt auch noch einmal die krasse Subjektivität des Romans. Die zweitwichtigste Figur tritt durch die Dominanz von Werthers Gefühlsleben weit in den Hintergrund, so weit, dass sie, wenn es der Herausgeber nicht zum Schluss noch verhindern würde, beinah zum Klischeebild bzw. zu einem flat character geraten wäre. Aber andererseits: nie wurde die sprichwörtliche rosarote Brille des Verliebten glaubwürdiger geschildert. Nur, wenn man den Roman sehr analytisch behandelt, so wie wir es jetzt tun, stößt man sich an derartigen Aspekten.

zu 3.) Zu Werther passt diese Art der Konversation – das gebe ich zu. Aber irgendwie erscheint mir diese Freundschaft doch recht ungewöhnlich. Bedenken wir vor allem, was Werther über die gemäßigten, besonnenen Bürger denkt und dann hat er – anscheinend – so einen rationalen, pragmatischen Menschen als Freund? Bedenken wir auch Werthers Probleme, die er schon mit Albert hat. Wie kann er jemandem sich anvertrauen, wie kann er ihm, hemmungslos, sein Herz ausschütten, wo es nahe liegt, dass sein Gegenüber seine Schwärmerei, seinen Überschwang und seine Leidenschaft eher mit einiger Reserviertheit und Skepsis aufnehmen wird und mit allgemeinen, gutmütigen Ratschlägen pariert? Auf der anderen Seite Wilhelm: was ist das für ein Freund, der aus den Briefen die rapide Verschlechterung von Werthers Situation nicht erkennt und sofort daraus die Konsequenzen zieht und handelt? In meinen Augen tragen nicht Albert und Lotte Mitverantwortung für Werthers Tod, sondern Wilhelm, der als es Zeit war zu handeln, untätig blieb. Er hatte mehr Einsicht als jeder andere in die fatale Verfassung von Werther und er kannte genau dessen Rechtfertigung des Selbstmordes und dessen Neigung zum Suizid als Ausweg. Ich möchte an dieser Stelle aus einer gelungenen Rezension des Romans zitieren, der ich diesen Gedanken eigentlich auch zu verdanken habe und wo er vielleicht noch deutlicher und noch kontroverser ausgedrückt wurde:

Werthers Selbstmord kündigt sich bereits früh an, geradezu aufdringlich sind die ständigen Bezugnahmen auf den Freitod: Berichte über Selbstmörder, das theoretische Gespräch mit Albert über die Rechtfertigung eines solchen Schrittes, explizite Gedankenspiele (»Ich seh all dieses Elends kein Ende als das Grab«) und scheinbar zufällige Redewendungen in anderem Zusammenhang (»Da möchte man sich ein Messer ins Herz bohren«) weisen überdeutlich auf Werthers Entschluß hin. Die eingeschaltete Paraphrase des Märchens vom Magnetenberg, der die Schiffe ins Verderben zieht, dient Werther als Vergleich für die Anziehungskraft, die Lotte auf ihn ausübt, ist aber unterschwellig eine Allegorie seiner Selbstzerstörung. [...]

War Werther zu retten? [...]

[...] Trotz der Fähigkeit zur Selbstironie und zur objektiven Analyse seiner Lage findet Werther keinen Ausweg aus der Krise. Sein persönliches Leid kann ihm keiner nehmen – aber Hilfe könnte ihm sehr wohl gegeben werden, und die wird beharrlich verweigert. Nicht von Lotte, die ja nur kurzfristig seine Sehnsucht erfüllen, aber an seiner seelischen Misere nichts ändern könnte, dafür um so mehr vom einzigen Menschen, dem Werther alle seine Regungen, Gefühle und Absichten rückhaltlos offenbart: von Wilhelm, dem Adressaten seiner Briefe.

Explizit erfahren wir sehr wenig über ihn, scheint er doch nur eine Figur zu sein, die die Form des Briefromans innertextlich rechtfertigen soll. Doch dieses Wenige, das aus den Reaktionen Werthers auf Wilhelms – im Text nicht enthaltenen – Antwortbriefe hervorgeht, genügt. Was schreibt dieser als »Bruder«, »Lieber«, »mein Schatz« angeredete Freund? Nichts. Nichts, das der Seelennot des Titelhelden irgendwie eine Möglichkeit böte, sich aus der ihn umklammernden Falle zu befreien, obwohl er der einzige ist, der – außer den Mitbeteiligten Lotte und Albert – Einblick in das volle Ausmaß des Dramas hat. Anfangs fragt er nach, warum Werther lange nicht geschrieben hätte, und bringt ihn so zum Bericht über die erste Begegnung mit Lotte. Das Nächste, das wir von ihm erfahren, ist, daß er, offenbar im Auftrag von Werthers Mutter, ihm die Stelle bei einer Gesandtschaft nahelegt und ihn ermahnt, das Zeichnen nicht zu vernachlässigen (Briefe vom 20. und 24. Juli 1771).

Damit sind die weiteren 'Beiträge' Wilhelms bereits charakterisiert: das einzige, wozu er fähig ist, sind allgemeine Ratschläge, die in keiner Weise auf die seelische Lage Werthers eingehen, sondern sich auf 'praktische Tips für Verzweifelnde' beschränken: abreisen, die Stelle am Hof nicht aufgeben, den Urlaub auf dem Jagdschloß eines Fürsten auskosten und, peinlich, den Trost der christlichen Religion zu suchen ... – »Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Anteil, für Deinen wohlmeinenden Rat« – das meint Werther nicht ironisch, und doch spürt er, wie wenig ihm sein Freund geben kann.

Selbstverständlich ist Wilhelm kein Therapeut, und es wäre sinnlos, einer fiktiven Person die Schuld am vielleicht nicht vermeidbaren Selbstmord einer anderen fiktiven Person in die Schuhe zu schieben. Aber hier, in der Figur des Wilhelm, versagt die bürgerliche Gesellschaft aufs Erbärmlichste. Schlimmer als die Ablehnung, die Werther durch den adligen Stand erfährt, ist die aus der freiwilligen Bindung an herrschende Konventionen hervorgehende Hilflosigkeit seines Freundes und Standesgenossen, wobei es letztendlich gleich ist, ob Wilhelm die Leiden des jungen Werther versteht oder nicht: ernstgenommen kann dieser sich nicht fühlen.

Quelle: Axel Sanjosé: "Die Leiden des jungen Werther"
http://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GZumWerk/Goewert5.htm
http://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GZumWerk/Goewert6.htm
;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Hamburger
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Re: Zum guten Schluss...

Beitragvon Hamburger » 26.02.2003, 13:32

Hallo gelbsucht!

Tja, viel Kontroverse is nich mehr. Hier trotzem meine Antwort.

1)
Ich finde eben nur, dass Goethe, der es durchaus verstanden hat die Moden und die Heftigkeiten dieser Epoche zu läutern und zur zeitlosen Kunst zu erheben (und ich würde ihm, anders als du, durchaus Vorsatz dabei unterstellen), sich hier zu sehr am Geschmack, am Zeitgeist orientiert hat.


Wir moderne Leser sind uns einig in unserer Kritik an der Herreinnahme der Ossian-Vorlesung in das Buch.
Aber ich habe nirgendwo geschrieben dass Goethe ohne Vorsatz die Moden und Heftigkeiten dieser Epoche zur zeitlosen Kunst erheben wollte. Ich habe geschrieben dass er auch seine aktuelle Leserschaft im Blick hatte - nicht mehr.
Könntest du ausserdem ein Beispiel anbrigen für den Vorsatz den du Goethe unterstellst?

2) Stimmt 100%. Das wirft allerdings die Frage auf inwieweit man dem Roman mit einer analytischen Behandlung gerecht wird?
Gerade wenn, wie bei mir, die emotionale Seite so sehr angesprochen wurde.

3)
Bedenken wir vor allem, was Werther über die gemäßigten, besonnenen Bürger denkt und dann hat er – anscheinend – so einen rationalen, pragmatischen Menschen als Freund?


Stimmt, das ist merkwürdig. Wie haben die Zwei sich bloß schätzen gelernt?
Und auch wenn alles was du zitierst erst einmal meine Zustimmung findet und auch ich Wilhelm eine Mitverantwortung am Tode Werthers zuteile, so frage ich mich dennoch: Was wäre gewesen, wenn Wilhelm gehandelt hätte? Vor allem: Wie hätte er handeln sollen?
Gut, er häte hinfahren können, gerade daran erkennt man einen wahren Freund. Aber hätte er den Werther wirklich überzeugen können?

Und ganz so untätig erscheint mir Wilhelm auch nicht.

Ich dachte wahrlich nicht daran, dass du von ähnlicher Meinung sein köntest. Und im Gunde hast Du Recht. Nur eins, mein Bester, in der Welt ist es sehr selten mit dem Entweder-Oder getan; die Empfindungen und Handlungsweisen schattieren sich so mannigfaltig, als Abfälle zwischen einer Habichts- und Stumpfnase sind.
Du wirst mir also nicht übel nehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einräume, und mich doch zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
(Reclam-Heft, Brief von Werter an Wilhelm, Seite 50, Zeile 12-20)


Jedes Argument Wilhelms, von dem wir zu hören bekommen, prallt ab. Werther räumt sogar ein, dass Wilhelm recht hat - um dann doch anders zu handeln als er es tun müsste, wäre das bessere Argument ausschlaggebend. Denn sein Herz ist ausschlaggebend.
Daher die Frage: Wie hätte Wilhelm handeln sollen?

MFG,

Hamburger
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