Hallo Ham,
dann werden wir noch einmal ein große, tiefsinnige, selbstzerstörerische Diskussion vom Zaun brechen, was?
zu 1.) Was die Rezensenten seiner Zeit zu dem Ossian-Exkurs meinten, weiß ich leider nicht. Aber ich meine mich zu erinnern, dass mit der Euphorie und dem Kult um den Werther dann auch die Ossian-Welle bei den jungen Leuten losgebrochen ist. Was ich dazu gelesen habe, legt nahe, dass dieser Ossian, diese geschickte Fälschung traditioneller galischer Sagen (ein Mann namens Macpherson ist ihr Autor), sich gerade in der Sturm- und Drangepoche und auf dem Scheitelpunkt der Empfindsamkeit, die Europa erfasst hatte, einer großen Beliebtheit erfreute. Goethe selbst hat einige dieser Gesänge aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Goethe maß dieser Arbeit bald darauf wohl nicht mehr viel Bedeutung bei. Doch 1774 nahm er sie wieder vor, nicht um Ossians willen, sondern weil sie in Werther paßte als Element zur Charakterisierung des empfindsamen Helden. [...] Die Ossian-Vorlesung ist für ihn ein Roman-Motiv, nicht Verherrlichung eines Dichters; für ihn selbst war Homer viel bedeutender.
(In: Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Anmerkungen, S. 204/208)
Parallel dazu tritt im Roman Werther als Übersetzer auf:
"Da drin in meiner Schublade", fing sie an, "liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu hören; aber zeither hat sich's nicht finden, nicht machen wollen."
Ich finde eben nur, dass Goethe, der es durchaus verstanden hat die Moden und die Heftigkeiten dieser Epoche zu läutern und zur zeitlosen Kunst zu erheben (und ich würde ihm, anders als du, durchaus Vorsatz dabei unterstellen), sich hier zu sehr am Geschmack, am Zeitgeist orientiert hat. Aber es ist natürlich seine Leistung: er hat es übersetzt, er hat es in den Werther eingewoben und es ist, wenn man es recht betrachtet, nicht mehr herauszulösen – nur es stört
mich als modernen Leser eben. Meine Kritik ist hier also durchaus von meinem persönlichen, subjektiven Empfinden geleitet.
zu 2.)
Jedoch muss einschränkend gesagt werden, dass der Werther gar nicht in der Lage ist Lotte ein wenig differenzierter zu schildern, so sehr ist er ihr verfallen (das wird Goethe mit Lotte Buff nicht anders gegangen sein).
Das denke ich auch. Aber es zeigt auch noch einmal die krasse Subjektivität des Romans. Die zweitwichtigste Figur tritt durch die Dominanz von Werthers Gefühlsleben weit in den Hintergrund, so weit, dass sie, wenn es der Herausgeber nicht zum Schluss noch verhindern würde, beinah zum Klischeebild bzw. zu einem
flat character geraten wäre. Aber andererseits: nie wurde die sprichwörtliche rosarote Brille des Verliebten glaubwürdiger geschildert. Nur, wenn man den Roman sehr analytisch behandelt, so wie wir es jetzt tun, stößt man sich an derartigen Aspekten.
zu 3.) Zu Werther passt diese Art der Konversation – das gebe ich zu. Aber irgendwie erscheint mir diese Freundschaft doch recht ungewöhnlich. Bedenken wir vor allem, was Werther über die gemäßigten, besonnenen Bürger denkt und dann hat er – anscheinend – so einen rationalen, pragmatischen Menschen als Freund? Bedenken wir auch Werthers Probleme, die er schon mit Albert hat. Wie kann er jemandem sich anvertrauen, wie kann er ihm, hemmungslos, sein Herz ausschütten, wo es nahe liegt, dass sein Gegenüber seine Schwärmerei, seinen Überschwang und seine Leidenschaft eher mit einiger Reserviertheit und Skepsis aufnehmen wird und mit allgemeinen, gutmütigen Ratschlägen pariert? Auf der anderen Seite Wilhelm: was ist das für ein Freund, der aus den Briefen die rapide Verschlechterung von Werthers Situation nicht erkennt und sofort daraus die Konsequenzen zieht und handelt? In meinen Augen tragen nicht Albert und Lotte Mitverantwortung für Werthers Tod, sondern Wilhelm, der als es Zeit war zu handeln, untätig blieb. Er hatte mehr Einsicht als jeder andere in die fatale Verfassung von Werther und er kannte genau dessen Rechtfertigung des Selbstmordes und dessen Neigung zum Suizid als Ausweg. Ich möchte an dieser Stelle aus einer gelungenen Rezension des Romans zitieren, der ich diesen Gedanken eigentlich auch zu verdanken habe und wo er vielleicht noch deutlicher und noch kontroverser ausgedrückt wurde:
Werthers Selbstmord kündigt sich bereits früh an, geradezu aufdringlich sind die ständigen Bezugnahmen auf den Freitod: Berichte über Selbstmörder, das theoretische Gespräch mit Albert über die Rechtfertigung eines solchen Schrittes, explizite Gedankenspiele (»Ich seh all dieses Elends kein Ende als das Grab«) und scheinbar zufällige Redewendungen in anderem Zusammenhang (»Da möchte man sich ein Messer ins Herz bohren«) weisen überdeutlich auf Werthers Entschluß hin. Die eingeschaltete Paraphrase des Märchens vom Magnetenberg, der die Schiffe ins Verderben zieht, dient Werther als Vergleich für die Anziehungskraft, die Lotte auf ihn ausübt, ist aber unterschwellig eine Allegorie seiner Selbstzerstörung. [...]
War Werther zu retten? [...]
[...] Trotz der Fähigkeit zur Selbstironie und zur objektiven Analyse seiner Lage findet Werther keinen Ausweg aus der Krise. Sein persönliches Leid kann ihm keiner nehmen – aber Hilfe könnte ihm sehr wohl gegeben werden, und die wird beharrlich verweigert. Nicht von Lotte, die ja nur kurzfristig seine Sehnsucht erfüllen, aber an seiner seelischen Misere nichts ändern könnte, dafür um so mehr vom einzigen Menschen, dem Werther alle seine Regungen, Gefühle und Absichten rückhaltlos offenbart: von Wilhelm, dem Adressaten seiner Briefe.
Explizit erfahren wir sehr wenig über ihn, scheint er doch nur eine Figur zu sein, die die Form des Briefromans innertextlich rechtfertigen soll. Doch dieses Wenige, das aus den Reaktionen Werthers auf Wilhelms – im Text nicht enthaltenen – Antwortbriefe hervorgeht, genügt. Was schreibt dieser als »Bruder«, »Lieber«, »mein Schatz« angeredete Freund? Nichts. Nichts, das der Seelennot des Titelhelden irgendwie eine Möglichkeit böte, sich aus der ihn umklammernden Falle zu befreien, obwohl er der einzige ist, der – außer den Mitbeteiligten Lotte und Albert – Einblick in das volle Ausmaß des Dramas hat. Anfangs fragt er nach, warum Werther lange nicht geschrieben hätte, und bringt ihn so zum Bericht über die erste Begegnung mit Lotte. Das Nächste, das wir von ihm erfahren, ist, daß er, offenbar im Auftrag von Werthers Mutter, ihm die Stelle bei einer Gesandtschaft nahelegt und ihn ermahnt, das Zeichnen nicht zu vernachlässigen (Briefe vom 20. und 24. Juli 1771).
Damit sind die weiteren 'Beiträge' Wilhelms bereits charakterisiert: das einzige, wozu er fähig ist, sind allgemeine Ratschläge, die in keiner Weise auf die seelische Lage Werthers eingehen, sondern sich auf 'praktische Tips für Verzweifelnde' beschränken: abreisen, die Stelle am Hof nicht aufgeben, den Urlaub auf dem Jagdschloß eines Fürsten auskosten und, peinlich, den Trost der christlichen Religion zu suchen ... – »Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Anteil, für Deinen wohlmeinenden Rat« – das meint Werther nicht ironisch, und doch spürt er, wie wenig ihm sein Freund geben kann.
Selbstverständlich ist Wilhelm kein Therapeut, und es wäre sinnlos, einer fiktiven Person die Schuld am vielleicht nicht vermeidbaren Selbstmord einer anderen fiktiven Person in die Schuhe zu schieben. Aber hier, in der Figur des Wilhelm, versagt die bürgerliche Gesellschaft aufs Erbärmlichste. Schlimmer als die Ablehnung, die Werther durch den adligen Stand erfährt, ist die aus der freiwilligen Bindung an herrschende Konventionen hervorgehende Hilflosigkeit seines Freundes und Standesgenossen, wobei es letztendlich gleich ist, ob Wilhelm die Leiden des jungen Werther versteht oder nicht: ernstgenommen kann dieser sich nicht fühlen.
Quelle: Axel Sanjosé: "Die Leiden des jungen Werther"
http://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GZumWerk/Goewert5.htmhttp://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GZumWerk/Goewert6.htm
gelbe grüsse
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)