Ödipus: alles andere als öde

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gelbsucht
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Ödipus: alles andere als öde

Beitragvon gelbsucht » 09.06.2002, 18:18

"König Ödipus" von Sophokles,
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht

Er macht sich auf dreifache Art vor den Göttern schuldig: er ist demselben Mann zugleich Sohn und Mörder, derselben Frau zugleich Kind und Ehemann und vier anderen zugleich Vater und Bruder. Doch König Ödipus weiß von alledem nichts: er ist der Herrscher von Theben, der Held, der die Stadt von der Rätselsängerin, der Sphinx, befreit hat. Doch die Stadt leidet, von Unfruchtbarkeit und Pest heimgesucht, weil der Tod des vorigen Königs, Laios, Ödipus Vater, nicht aufgeklärt wurde und der Mörder immer noch unbehelligt im Land verweilt.

Die Geschlossenheit von Zeit und Raum streng beachtend (ein Tag, ein Ort, an dem sich alles abspielt), ballt Sophokles den tragischen Stoff auf ungewöhnliche Weise. Während, wie wir in der "Poetik" des Aristoteles nachlesen können, die Tragödie die Nachahmung einer Handlung ist, drängt sich bei diesem Stück häufig der Eindruck auf, es wird nicht gehandelt, sondern berichtet. So sind die schändlichen Taten, von denen in diesem Trauerspiel die Rede ist, der Verwandtenmord und der Inzest, bereits geschehen. Sie sind Vergangenheit. Die tragische Handlung besteht in ihrem Hauptteil (sieht man einmal von der Selbsttötung der Iokaste und der Selbstblendung des Ödipus am Ende des Stückes ab) in der Aufklärung, in der Bewußtwerdung der Schuld und Schande. Aber gerade das macht "König Ödipus" so faszinierend.

Die Hybris des Ödipus besteht vor allem in seiner Unwissenheit und gerade dadurch, daß er schuldlos schuldig wurde, daß ihm das Schicksal so übel mitspielt, obwohl sein edles Tun gerade darauf ausgerichtet ist, die furchtbaren Prophezeiungen nicht in Erfüllung gehen zu lassen, gerade dadurch ist ihm, trotz der abscheulichen Taten, unser ganzes Mitleid und Mitgefühl sicher. "Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrtum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist." (Friedrich Nietzsche)

Am Ende blieb in mir nur die Frage zurück, was geschehen wäre, wenn die Götter dem Laois nicht vorhergesagt hätten, daß er von seinem eigenen Sohn erschlagen wird. Denn bei alledem, was in der Folge geschieht, scheint diese Prophezeiung des Phoibus (Apollon) die Ursache für alles Unglück und alle Unwissenheit zu sein. Hätte Laios diese Prophezeiung nicht erhalten, hätte er seinen Sohn nicht ins Gebirge fortschaffen lassen, wo er gerettet wurde, um später seinen Vater, den er nicht kannte und daher nicht erkennen konnte, zu erschlagen. Statt dessen wäre er bei seinen wahrhaftigen Eltern aufgewachsen und hätte sich, der selbe edle Charakter der er ist, nicht schuldig gemacht.

Aber das sind hypothetische Fragen, unsinnige Fragen. Mythos und Erfindung sind vollkommen. Das Trauerspiel ist ergreifend und rührend, auch 2500 Jahre nach seiner Entstehung. Es lohnt sich gerade außerhalb der Schule es zu lesen, um auf diese Art für sich selbst den Genuß zu entdecken, den die antike Tragödie und speziell die Stücke des Sophokles erwecken können, den Genuß, der durch Zwang und Leistungsdruck und durch das analytische Sezieren jeder Szene unweigerlich verlorengehen muß. Literatur ist Unterhaltung, aber Unterhaltung ist vor den Altären der pädagogischen Tempel unerwünscht.
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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