Der Zauberkünstler

Was liest Du gerade? Was kannst Du empfehlen? Was war ein Reinfall? Benutze dieses Forum, um Deine eigenen Rezensionen zu publizieren.
gelbsucht
Pegasos
Beiträge: 1105
Registriert: 25.04.2002, 20:55
Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel

Der Zauberkünstler

Beitragvon gelbsucht » 08.08.2003, 18:28

Eine Geschichte von Thomas Mann will ich ansprechen, empfehlen, diskutieren, die mich gefesselt, erschüttert und beeindruckt hat. Dabei umfasst sie gerade etwas mehr als 50 Seiten – also ein Text, der sich irgendwo zwischen Kurzgeschichte und Novelle bewegt. Ich kenne mich nicht so gut aus, um zu bestimmen, zu welcher Gattung man das also zählen darf. Die Erzählung stammt aus dem Jahr 1930 und heißt:

Mario und der Zauberer
Ein tragisches Reiseerlebnis

Eine Ehepaar mit zwei Kindern fährt nach Italien in den Strandurlaub. Nach Torre di Venere. Aber von Anfang an stellen sich einige Zwischenfälle ein – anfangs noch ganz harmloser Natur – die einen angenehmen, unbeschwerten Aufenthalt und die ersehnte Erholung nicht so recht aufkommen lassen wollen.
Man verstand bald, daß Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war. Tatsächlich wimmelte es am Strande von patriotischen Kindern [...] Es gab Empfindlichkeiten, Äußerungen eines Selbstgefühls, das zu heikel und lehrhaft schien, um seinen Namen ganz zu verdienen, einen Flaggenzwist, Streitfragen des Ansehens und Vorranges; Erwachsene mischten sich weniger schlichtend als entscheidend und Grundsätze wahrend ein, Redensarten von der Größe und Würde Italiens fielen, unheiter-spielverderberische Redensarten;

Genial an dieser Erzählung ist, wie Thomas Mann es erzählt. Nicht aufdringlich, nicht belehrend, nicht moralisierend und mit erhobenem Zeigefinger. Nein, er geht sehr subtil vor, beginnt bei den Kleinigkeiten, fängt Nuancen und sehr feine Stimmungen ein, zeichnet ein Bild, das sich dann immer mehr verdichtet und Stück für Stück zusammendrängt und verschärft: nämlich in der Person des "Zauberkünstlers" Cipolla. Doch immer schwingt noch etwas ironisch-distanziertes, etwas spitzbübisches mit, auch wenn es hier um drastische Themen wie Faschismus und Nationalismus geht. Eine brisante und feinfühlige Gratwanderung, die mir sehr viel Bewunderung abverlangt hat! Die Geschichte ist sehr gleichnishaft und analysiert schon 1930 sehr zielsicher und genau, wie faschistische Bewegungen funktionieren, wie Menschen beeinflusst und mitgerissen werden und zu "Mitläufern", zu gehorsamen, willenlosen Helfershelfern werden, und wie ein einzelner es vollbringt, eine ganze Masse in einen hysterisch-hypnotischen Zustand zu versetzen. Den Hauptteil der Erzählung macht der Besuch einer Abendvorstellung eines "Zauberkünstlers" aus – eine widrige, unangenehme Gestalt und doch talentiert und fähig, eine große Gruppe von Personen in ihren Bann zu ziehen. Ich will nicht allzu sehr vorweg greifen und damit den Reiz, es selbst zu lesen, trockenlegen. Daher nur noch ein paar Stichworte: es geht im großen und ganzen um die Macht der Suggestion und um die überbewertete Freiheit des Willens. Immer merkwürdiger, düsterer und bedrohlicher gestaltet sich der Abend, von dem Thomas Mann erzählt und damit der Blick, den er in den Fortgang der europäischen Geschichte geworfen hat. Am Ende mündet die Vorstellung in einem kurzen Augenblick, "grotesk, ungeheuerlich und spannend", der sich in einer Katastrophe entlädt.

Eine winzige Passage aus der Einleitung will ich noch anführen, die vergleichsweise harmlos ist und auch nichts über den Ausgang der Geschichte verrät. Einerseits, weil sie so wunderbar zu der Wetterlage passt, der wir im Augenblick ausgesetzt sind, andererseits, weil so eine Textprobe doch am ehesten den spöttisch-feinfühligen Stil und den ironisch-nörglerischen Ton nachfühlbar macht, der dieser Erzählung ihren Charme verleiht und den ich so schwer fassen und charakterisieren kann, obwohl (oder besser: weil) ich ihn so mag:
Die Hitze war unmäßig, soll ich das anführen? Sie war afrikanisch; die Schreckensherrschaft der Sonne, sobald man sich vom Saum der indigoblauen Frische löste, von einer Unerbittlichkeit, die die wenigen Schritte vom Strande zum Mittagstisch, selbst im bloßen Pyjama, zu einem im voraus beseufzten Unternehmen machte. Mögen Sie das? Mögen Sie es wochenlang? Gewiß, es ist der Süden, es ist das klassische Wetter, das Klima erblühender Menschheitskultur, die Sonne Homers und so weiter. Aber nach einer Weile, ich kann mir nicht helfen, werde ich leicht dahin gebracht, es stumpfsinnig zu finden. Die glühende Leere des Himmels Tag für Tag fällt mir bald zur Last, die Grellheit der Farben, die ungeheure Naivität und Ungebrochenheit des Lichts erregt wohl festliche Gefühle, sie gewährt Sorglosigkeit und sichere Unabhängigkeit von Wetterlaunen und -rückschlägen; aber ohne daß man sich anfangs Rechenschaft davon gäbe, läßt sie tiefere, uneinfachere Bedürfnisse der nordischen Seele auf verödende Weise unbefriedigt und flößt auf die Dauer etwas wie Verachtung ein.


B-) gelbe grüße B-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Spiderman
Hippokrene
Beiträge: 469
Registriert: 08.09.2002, 23:56
Wohnort: München

Re: Der Zauberkünstler

Beitragvon Spiderman » 08.08.2003, 18:34

Ja, dem ist nix hinzuzufügen. Hab die Erzählung vor etwa 10 Jahren mal gelesen und war beeindruckt, wie treffend Thomas Mann darin eine Psychologie des Faschismus nachzeichnet.

Spider
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!


Zurück zu „Rezensionen“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 63 Gäste