marcel beyer: flughunde

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lilith
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marcel beyer: flughunde

Beitragvon lilith » 01.09.2003, 21:52

nun denn, dann möchte ich mal das buch vorstellen, das unser literaturkreis zuletzt gelesen hat:

eckdaten für die statistiker ;-)
1995 erschienen
suhrkamp verlag
300 seiten, also durchaus bezwingbar

zum inhalt:
die geschichte ist in der zeit des nationalsozialismus angesiedelt und spielt großteils in berlin. es gibt zwei erzählstränge mit jeweils einem ich-erzähler, das interessante dabei ist, dass es sich um historische personen handelt:
bei einem erzähler handelt es sich um hermann karnau. er war wachmann im berliner führerbunker und hat den westalliierten als erste person den tod von hitler bezeugt. im roman allerdings ist er weit mehr als das: ein begnadeter und besessener akustiker, immer auf der suche nach den letzten geheimnissen der (menschlichen) stimme. anfangs nur zuständig für optimale beschallung bei diversen reden, macht er nach und nach durch seine studien auf sich aufmerksam und bekommt schließlich die möglichkeit, unter ausnützung sämtlicher ressourcen die menschliche stimme zu erforschen.. um womöglich einen weg zu finden, die menschen der eroberten länder von grund auf, von der stimmbasis her, "deutscher" klingen zu lassen. erwähnte ressourcen beziehen sich natürlich nicht nur auf tonbänder etc. sondern auch auf versuchspersonen... KZ-insassen z.B.

in seinem verzweifelten wunsch, eine "landkarte der sprache, der stimme" zu zeichnen, wird karnau immer skrupelloser... einige sehr unschöne experimente, die beyer nur andeutet, aber das genügt vollauf.

karnau ist ein bekannter von joseph goebbels, und so wird die brücke zur zweiten erzählstimme geschlagen: helga goebbels, die älteste tochter. sie erzählt vom alltag der familie und deren umkreis. immer wieder begegnen karnau und die goebbels einander, bis sie am ende, in den letzten tagen vor der kapitulation, gemeinsam im führerbunker wohnen. die kinder werden von den eltern vergiftet, karnau flieht mit etlichen aufnahmen (unter anderem von hitler, aber auch von den kindern)
zeitsprung ins jahr 1992: karnau, der nach dem krieg untertauchen konnte, findet in seinem plattenarchiv die alten aufnahmen der kinder wieder, ihre letzten gespräche vor ihrem tod.

meine meinung zum buch:

insgesamt hat es mir sehr gut gefallen. das thema fand ich sehr interessant und ungewöhnlich... kaum jemand beschäftigt sich im roman mal mit der menschlichen stimme. und karnau ist ähnlich besessen wie der protagonist (hab seinen namen vergessen..) in süskinds "das parfüm"... wobei man natürlich sonst die beiden romane überhaupt nicht miteinander vergleichen kann :-)
auch die aufteilung in zwei erzählstränge gefiel mir. das kind erzählt natürlich nicht wie ein kind, viel zu erwachsen, aber nicht altklug.
eine der schlüsselszenen des buches war für mich sicherlich die rede goebbels´ im sportpalast, wo er die massen für den "totalen krieg" begeistert. die aufgeputschte menge auf der einen seite, und auf der anderen seite die kritische stimme helgas, die punkt für punkt die rede ihres vaters (für sich) hinterfragt.

gestört haben mich zwei dinge:
erstens waren für mich, die ich von der akustik nicht sooo viel ahnung habe, manche reflexionen karnaus langatmig und mühsam zu lesen. aber schnell drüberlesen ist auch nicht drin, weil man sonst garantiert was versäumt und überliest... beyer ist meister gerade im unterschwelligen.
zweitens, und das finde ich wirklich problematisch: beyer bedient sich historischer figuren, allerdings schreibt er im nachwort:
"obwohl einige charaktere im vorliegenden text namen realer personen tragen, sind sie doch, wie die anderen figuren, erfindungen des autors"
beyer verquickt historische fakten und fiktion, was an sich ja kein problem darstellt, aber er lastet einer person, die real existiert (hat), schwere verbrechen an (die experimente), und als leser weiß man nicht, inwieweit das wahr ist oder nicht. man findet (zumindest bei oberflächlicher suche) dazu auch keine informationen im internet. find ich nicht okay.

so, das war´s im groben!
ich kann das buch empfehlen, sofern man nicht gerade an depressionen leidet.

für fragen jederzeit offen,

lg lilith
Du siehst, ich will viel.

Vielleicht will ich Alles:

das Dunkel jedes unendlichen Falles

und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel. [...]

(Rilke)

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