Fräulein Hermanns Gespür für Melancholie

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gelbsucht
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Fräulein Hermanns Gespür für Melancholie

Beitragvon gelbsucht » 06.09.2003, 17:35

Judith Hermann
Nichts als Gespenster

Erzählungen, 320 Seiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003

Auch ihr zweites Buch ist kein Roman. Es sind wieder Erzählungen, sieben wunderschöne, sehnsüchtige Erzählungen. Ich denke, wenn ich die Namen verrate, ist damit noch nicht zuviel preisgegeben, noch nicht zuviel vom Inhalt vorweggenommen:
  • Ruth (Freundinnen)
  • Kaltblau
  • Aqua Alta
  • Zuhälter
  • Nichts als Gespenster
  • Wohin des Wegs
  • Die Liebe zu Ari Oskarsson
Das meiste davon sind Liebesgeschichten, aber von einer ganz besonderen Art. Oft sind es ganz verkorkste, konfliktgeladene Beziehungen, von denen sie handeln, oder sehr flüchtige, zufällige Begegnungen. Und am Ende ist es immer nur ein kurzer, ungewisser Augenblick, in dem Liebe möglich ist, in dem es dem weiblichen Ich (das meist im Mittelpunkt der Erzählungen steht) gelingt, dem Alltag und den festgefügten Verhältnissen zu entgehen und dem nah zu sein, den sie liebt oder den sie glaubt zu lieben -- ein Augenblick des Glücks (oder der Enttäuschung), über den sich schon der Schatten der Vergänglichkeit und der Erinnerung spannt. Ansonsten scheinen sich Judith Hermanns Figuren wie in einem Vakuum zu bewegen – für diese Atmosphäre muss man natürlich empfänglich sein, um sie zu genießen. Aber man muss auch zugeben: dafür hat Judith Hermann wirklich ein Händchen. Diese Haltlosigkeit, diese unbestimmte und grundlose Traurigkeit, an der so gut wie alle ihre ProtagonistInnen zu leiden scheinen, haben mich persönlich sehr berührt und gefangengenommen. Eine ziellose Sehnsucht treibt sie durchs Leben und immer wieder zurückgeworfen auf sich selbst, genügen sie sich manchmal ganz gleichgültig gegenüber der Welt in Indifferenz, Selbstbespiegelung und einem möglichst auf nichts festgelegten Dasein, bis irgendein unvorhergesehenes Ereignis oder eine zufällige Begegnung sie aus diesem Schwebezustand herausreißt. In gewisser Hinsicht ist der Titel des Buches wohl auch Programm: Nichts als Gespenster. Eine Metapher für den Typus von Mensch, der immer ein wenig neben sich selbst steht, der ruhelos auf der Suche nach seinem Platz im Leben, nach Nähe, Liebe, Glück, sich immer wie ein Schatten seiner selbst vorkommen muss und alles um sich herum immer mit einer seltsamen Distanz und Befremdung wahrnimmt. Ich kann verstehen, wenn ein anderer Leser diese Menschen als manieriert und dekadent empfindet, als larmoyant und narzisstisch. Auch das sind sie. Wie gesagt: dafür muss man empfänglich sein. Hier entscheidet die eigene melancholische Veranlagung und Stimmung.

Ein anderes Element, das den Geschichten gemeinsam ist und sie verbindet, ist das Reisen. Die erste Erzählung führt den Leser von Berlin nach Würzburg, andere spielen in Prag, Karlsbad, Venedig, Tromsø, Reykjavik und in der Wüste von Nevada. Aber anderseits sind die Orte wiederum ganz beliebig. Es bleiben Kulissen -- Namen, die für die eigentliche Handlung und Stimmung kaum von Bedeutung sind. Ein Accessoire, eine Andeutung, eine atmosphärische Beigabe, die auf die Protagonisten kaum eine Wirkung zu haben scheint, als die Fremdheit und den Rückzug auf sich selbst zu verstärken:
Über den Coca-Cola-Gläsern hingen Wespen, still, wie an Fäden aufgehängt. Etwas zog mir das Herz zusammen und verebbte dann wieder, ein kurzes Bewusstsein für die Beliebigkeit der Orte, des Lichts und der Zustände, unser schönes Leben ...

In einer der Geschichten bleibt eine junge Frau, die gemeinsam mit einem Freund nach Tromsø zu einem Festival anreist, das dann allerdings doch nicht stattfindet, fast die ganze Zeit über in der fremden Unterkunft im Bett liegen und verträumt die Tage.

Und auch hierin ähneln sich die Erzählungen: eigentlich passiert darin kaum etwas. Im Vordergrund geht es immer um irgendeine Beziehungsfrage, eine Freundschaft, eine Begegnung mit einem Dritten. Doch gerade darin beweist sich dann das Talent der jungen Autorin. Sie braucht keine extremen, ungewöhnlichen Schicksale und Handlungen, um den Leser in Bann zu schlagen. Ihr gelingt es die banalsten Situationen so aufzuladen, dass eine ganz eigentümliche und eindringliche Stimmung, Spannung und Bedeutungsintensität zwischen ihren Figuren entsteht. In fast bewegungslosen Bildern und Rückblenden legt sie ihre Erzählwelten frei, sorgsam und bedacht wie ein Archäologe einen kostbaren Fund. Manchmal ist es ein Foto, das den Rahmen oder den Anlass für die Erzählung liefert, aber immer tragen ihre Geschichten den sehnsüchtig-rückblickenden Charakter von Erinnerungen.
Judith Hermanns Texte sind in einem schlichten, fast lakonischen Erzählton geschrieben, sie sind sprachlich leicht zugänglich, und manchmal scheint das Beschriebene fast trivial. Aber bestechend daran ist gerade die Fähigkeit alltägliche Situationen und Stimmungen so genau zu beobachten, und indem sich die Erzählungen dicht an den eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen des Lesers bewegen, ziehen sie ihn in einen seltsamen Bann.
(Goethe-Institut, Dublin)

Ihre Sätze sind klar und biegsam und niemals zu laut. Sie kann das Schweigen in Worte fassen, das Nicht-Gesagte spürbar machen. Dieses scheinbar instinktive, bewusst "bewusstlose" Erzählen ist völlig bei sich.
So überzeugend wie keine andere deutsche Schriftstellerin beschreibt sie, mit welcher Hingabe sich ihre Generation verschwendet und zerstreut.
Sie selbst sagt über das neue Buch, dass ihr darin die Helden abhanden gekommen seien. Die Protagonisten seien weniger cool und viel verletzlicher als in ihrem ersten Buch. [...]
Vor vier Jahren hat sie noch geglaubt, dass man sich vor wichtigen Entscheidungen am besten durch Flucht retten könne. Heute würde sie einen Satz wie "Das Glück ist immer der Moment davor" nicht mehr schreiben. Was ist das Glück dann? "Vielleicht hinzunehmen, dass etwas vorübergehen wird – und es trotzdem genießen.
(Quelle: Claudia Voigt: "Im Schatten des Erfolgs". In: Der Spiegel. Nr. 5, 27.01.2003.


Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Nach einer journalistischen Ausbildung und einem Zeitungspraktikum in New York, erschien 1998 ihr erstes Buch. Enthusiastische Kritiken, über 250.000 verkaufte Exemplare und Übersetzungen in 17 Sprachen ließen ihr Debüt Sommerhaus, später zu einem unerwartet großen literarischen Erfolg werden.
Der Erfolg war so groß, dass Judith Hermann, 32, sich erdrückt fühlte. "Es war die schrecklichste Zeit meines Lebens", sagt sie. Sofort schwächt sie den Satz ab, nimmt ihn zurück, denn sie will nicht undankbar erscheinen, und dann findet sie sich selbst unerträglich für dieses Hin und Her und winkt ab. "Ich war selbstbewusster vor dem Erfolg", sagt Judith Hermann. "Heute betrete ich eine Raum mit dem Bedürfnis nach Unauffälligkeit."
Als "Sommerhaus, später" im September 1998 erschien und in einer Berliner Buchhandlung vorgestellt wurde, kamen 25 Leute. "22 Freunde von mir und 3 Freunde von der Buchhändlerin."
Dann kam das Lob im "Literarischen Quartett". Zur nächsten Lesung musste sie durch den Hintereingang gelotst werden, vor der Tür hatten sich Menschentrauben gebildet. "Sie zittern ja", flüsterte ihr der Lektor auf dem Podium zu. [...]
Bis zum Erscheinen ihres Debütbands, sagt sie, sei ihr Lebensgefühl davon bestimmt gewesen, "mich möglichst nicht festzulegen".
Aber nun sollte sie plötzlich eine fertige Schriftstellerin sein – "Ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin."
(Quelle: Claudia Voigt: "Im Schatten des Erfolgs". In: Der Spiegel. Nr. 5, 27.01.2003.

"Ich war bis Herbst 1999 auf Lesereise, und dann hab' ich damit von einem Tag auf den anderen aufgehört, weil ich völlig erledigt war. Ich bin in ein Aufenthaltsstipendium nach Süddeutschland gegangen, habe versucht, das zweites Buch anzufangen, und nach zwei Wochen festgestellt, dass ich schwanger bin. Daraufhin hab ich das Stipendium abgebrochen und bin zurückgegangen nach Berlin. Da hab ich aufgehört zu rauchen und demzufolge auch aufgehört zu schreiben. Im Sommer 2000 kam mein Kind auf die Welt, das habe ich sieben Monate gestillt und im März 2001 wieder angefangen zu schreiben. Im Oktober 2002 habe ich abgegeben."
(Interview von Judith Hermann mit der FAZ, 20. Januar 2003)

Ihrem Sohn, Franz, ist das neue Buch gewidmet.

;-) gelbe grüße :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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