Weites Land

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gelbsucht
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Weites Land

Beitragvon gelbsucht » 18.09.2003, 02:17

Es sind vier ganz unterschiedliche Bücher, die ich hier – quasi in einem Rutsch – vorstellen will: eine Monographie, ein historischer Roman, ein Buch mit Reportagen und der Bericht einer ungewöhnlichen Reise. Aber sie haben alle eins gemeinsam. Sie handeln von der aufregenden Geschichte Russlands und von den Menschen, denen diese Geschichte immer viel abverlangt und zugemutet hat und auch vom Leben, das noch im schlimmsten Chaos, im Hin und Her von Armut, Unterdrückung, Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Kaltem Krieg, Not, Niedergang und Neuanfang einen Weg zu finden scheint. Ich weiß nicht woran es liegt, dass mich der wilde Osten immer schon mehr fasziniert hat, als z.B. Amerika.

Vielleicht liegt es daran, dass die russische Geschichte ebenso spannend und wechselreich ist wie die deutsche und, dass es zwischen der Geschichte beider Länder viele Gemeinsamkeiten und viele Wechselbeziehungen gibt: gemeinsam ringen Preußen und Russen Napoleon nieder; erst spät wird in beiden Ländern die Monarchie von einer bürgerlichen Revolution abgelöst; doch demokratisch-liberale Republiken scheitern hier wie dort, in Russland reißen die Bolschewiken, in Deutschland die Nationalsozialisten die staatliche Macht an sich; die schlimmsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts gelangen so an die Macht: Hitler und Stalin; beide Völker bezahlen das mit einem furchtbaren Blutzoll; im Triumph über Hitlerdeutschland und den Nationalsozialismus steigt die Sowjetunion zur Weltmacht auf und Deutschland wird geteilt; erst der langsame Zerfall der UdSSR und des Warschauer Paktes macht schließlich die deutsche Wiedervereinigung möglich.
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: Weites Land

Beitragvon gelbsucht » 18.09.2003, 02:18

Leo Trotzki. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten
von Harry Wilde. Rowohlt-Taschenbuch, 191 Seiten

Die russischen Revolution wäre zweifellos anders verlaufen, hätte es diesen Mann nicht gegeben. Er wird 1879 in der Ukraine als Leo Dawidowitsch Bronstein geboren, der Sohn eines jüdischen Bauern. Er geht in Odessa zur Schule und gründet hier den "Südrussischen Arbeiterbund". Er wird verhaftet und zum ersten und nicht zum letzten Mal in seinem Leben zu Zwangsarbeit und Verbannung nach Sibirien verurteilt. Er flüchtet ins europäische Exil und benutzt als Deckname ab 1902 den Namen eines seiner Gefängniswärter: Trotzki. In London lernt er Lenin kennen. Als es 1905 in Petersburg zu Aufständen kommt, reist Trotzki sofort dorthin und wird wenig später zum Vorsitzenden des Petersburger Sowjets gewählt. Wieder wird er von der zaristischen Justiz gefangengenommen und zu lebenslanger sibirischer Verbannung verurteilt und erneut gelingt ihm die Flucht. Während des ersten Weltkrieges lebt er mit seiner Familie in Wien in ärmlichen Verhältnissen. Er verdingt sich u.a. als Kriegskorrespondent und überwirft sich mit Lenin. Während Lenin die uneingeschränkte Macht über die sozialistischen Exilparteien will, den Bruch von Bolschewiki und Menschewiki provoziert und sich damit politisch teilweise isoliert, plädiert Trotzki für vereinte Kraftanstrengungen. Nach Ausbruch der Februar-Revolution kehrt Trotzki nach St. Petersburg zurück und tritt den Bolschewiken bei. Er wird zum Vorsitzenden des Petersburger Sowjets gewählt und organisiert die Kampfverbände der Roten Garde und damit die gewaltsame Machtübernahme der Bolschewiken im November 1917 (nach damaligem russischen Kalender allerdings Oktober – darum: Oktoberrevolution). In der Folge der Revolution wird er Kriegkommissar, baut die Rote Armee auf und verteidigt die Revolution nach außen. Mit einem schweren Panzerzug fährt er durchs Land, schlägt die Kampfverbände der Weißen und den Matrosenaufstand in Kapstadt nieder. Bedingt durch die Mangelwirtschaft in dem von Feinden eingekreisten, rückständigen Land konnte unter Führung Stalins aber ein Parteikader und eine Bürokratie entstehen, die die direkte Demokratie in den Arbeitersowjets abwürgte. Nach dem Tod Lenins (1924) nutzt Stalin seine Macht und betreibt die Isolierung Trotzkis in der Partei. Er wird aus Politbüro und Partei ausgeschlossen, nach Sibirien verbracht und darauf des Landes verwiesen. Er flieht über die Türkei, Frankreich und Schweden bis nach Mexiko. Doch Stalin ruht nicht. Während in Russland den Gegnern Stalins Schauprozesse gemacht werden (Stalins Terror kostet in den Säuberungsjahren 1936 - 1938 etwa 1 Million Menschen das Leben), verfolgt der sowjetische Geheimdienst Trotzki und seine Familie. Allein von der Heimtücke zu lesen, mit der von langer Hand das Attentat vorbereitet wurde, das Trotzki im August 1940 mit dem Leben bezahlt, ist schon unheimlich spannend und erschütternd.
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Re: Weites Land

Beitragvon gelbsucht » 18.09.2003, 02:19

Boris Pasternak: Doktor Schiwago
Fischer-Taschenbuch, 764 Seiten

Auch in Pasternaks berühmten Roman trifft man Trotzki wieder: hier heißt er allerdings Strelnikow und einige Details der Biographie sind etwas abgewandelt. Ein Höhepunkt des Buches ist die Begegnung zwischen Jurij Schiwago und Strelnikow in einem Abteil des Panzerzuges. Irgendwo hinter dem Ural lebt Lara, die mit Strelnikow verheiratet ist und die als Krankenschwester bereits im Krieg mit Schiwago zusammengetroffen ist. Doch davon ahnen die beiden natürlich nichts, als sie sich begegnen ... auch nicht, dass nur Schiwago sie wiedersehen wird. Allerdings ist im Film die Liebesgeschichte viel zu sehr in den Vordergrund gerückt. Wer da zu große Erwartungen in das Buch setzt, wird eine Enttäuschung erleben.

Wer sich ein lebendiges Bild von der Oktoberrevolution und den Folgen vor allem für das Leben der einfachen Menschen machen möchte, dem empfehle ich diesen Roman. Es ist ein Blick tief in die russische Seele. Die Handlung des Romans beginnt noch ein ganzes Stück vor 1917, schildert sehr eindringlich die Zustände im Zarenreich, den ersten Arbeiteraufstand um 1905, die Verschlimmerung der ohnehin bitteren Armut und Nöte durch den Ersten Weltkrieg und das vorrevolutionäre Gären. Der Kern des Buches konzentriert sich dann aber auf die Februar- und Oktoberrevolution, den Bürger- und Partisanenkrieg und die gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen. Der Abspann des Romans rafft schließlich die Ereignisse bis zum Tod Stalins (1953).

Es werden eine ganze Reihe von Schicksalen in diesem Buch beleuchtet und miteinander verwoben. Aber im Mittelpunkt steht die Person Jurij Schiwagos, der Arzt und Dichter ist. Er versucht losgelöst von der bolschewistischen Revolution und Ideologie, gegen den gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch und das Fegefeuer des Bürgerkriegs seine idealistischen und individualistischen Vorstellungen vom Leben aufrecht zu erhalten. Darin besteht die besondere innere Dialektik und Tragik des Romans, denn Schiwago scheitert auf ganzer Linie. Er verliert in den Wirren der Revolution seine Familie aus den Augen und wird auch wieder von Lara, seiner großen Liebe, getrennt. Jede noch so bescheidene Zelle eines glücklichen, bürgerlichen Lebens, jeder Anflug von Individualität und kreativem Eigenleben wird von der Lawine der Revolution, dem Krieg und dem Moloch von Staat, Parteiapparat und Bürokratie, das daraus hervorgegangen ist, überrollt und zerquetscht.
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Re: Weites Land

Beitragvon gelbsucht » 18.09.2003, 02:21

Gerd Ruge: Weites Land
Russische Erfahrungen, russische Perspektiven
Verlag Droemer Knaur, 477 Seiten

Gerd Ruge war einer der ersten westdeutschen Korrespondenten tief im Feindland während des Kalten Krieges. Er war in Moskau während der Ära von Chruschtschow und von Breschnew. Später, als die halbe Landkarte Europas politisch auf den Kopf gestellt wurde und der Ostblock zusammenbrach, war er – als hätte er es geahnt – wieder vor Ort und zwar als Leiter des ARD-Studios in Moskau von 1987 bis 1993. Er sah Präsidenten kommen und gehen. Sein Buch ist eine bestechende Dokumentation über den langsamen Niedergang einer Weltmacht und den sozialen Wandel Russlands. "Selten hat man so leicht verständlich und doch auf hohem Niveau die feinen Zusammenhänge der russischen Politik, Kultur und der Menschen beschrieben bekommen ..." (Marco Hoenig, www.amazon.de) Hinzu kommt, dass er bereits zu einer Zeit das Innere des Landes bereist und erkundet hat, als für einen Vertreter "des imperialistischen Auslands" noch gar nicht daran zu denken war. Er gewinnt russische Freunde und vergisst auch nicht die Geschichten der einfachen Menschen, denen er begegnet, zu erzählen. Ein fesselndes Buch.

Wie viel Einfluss die Geschichte Russlands auf die Geschichte Europas hat, hat die Vergangenheit gezeigt. Deswegen kann die politische und wirtschaftliche Entwicklung des "weiten Landes" dem Rest des Kontinents nicht egal sein. Auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen wagt Ruge eine Analyse und eine vorsichtige Prognose, ob sich in Russland eine stabile Demokratie nach westlichem Vorbild etablieren kann ...
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Re: Weites Land

Beitragvon gelbsucht » 18.09.2003, 02:24

Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß
Rowohlt Verlag, 224 Seiten

Er packt seinen Rucksack, verlässt seine Wohnung, verlässt Berlin, überquert im Sommer die Oder, marschiert durch Polen, durch Weißrussland, durch die russischen Wälder und Weiten bis nach Moskau. Und das zu Fuß und ganz auf sich gestellt. Knapp drei Monate braucht er dafür und überall wohin er kommt, scheinen die Geschichten nur auf ihn gewartet zu haben. "Und natürlich trifft Büscher auf die Gespenster der Vergangenheit: Er ist teils Napoleons Weg gegangen und ziemlich exakt den der Heeresgruppe Mitte." (Umschlagstext)
Ich erreichte Nowogrudok an einem heißen Mittag, und ein Mann mit Nike-Kappe und US-Army-Hemd sprach mich an. Jeder, der mich bisher angesprochen hatte, hatte nach dem Woher gefragt. Dieser fragte, wohin ich ginge, und als ich es ihm hersagte, Minsk, Borissow, Orscha, Smolensk, Mojaisk und irgendwann Moskau, schlug er mir auf die Schulter: "Den Weg nehmen die Deutschen immer."

Ein Gespenst begleitet ihn auf dem Weg, das ihn über Schlachtfelder wie die Seelower Höhen führt. Es ist sein Großvater und niemand weiß, wo er gefallen, wo er begraben ist. Das hat mich persönlich sehr berührt, da auch mein Großvater – ich glaube, irgendwo in der Ukraine – in einem Angriff von Partisanen ums Leben gekommen ist. Er besucht Katyn, wo Stalin mehrere tausend polnische Offiziere hat hinrichten und verscharren lassen. Aber er erzählt auch die Geschichte des deutschen Offiziers, der sich in ein jüdische Mädchen verliebt und, um sie zu retten, zu den Partisanen überläuft. Es gab viele Fronten in diesem Krieg:
Die Wahrheit. In Ostpolen hatte mich ein Mann über den Friedhof einer Kleinstadt geführt, und ich hatte geglaubt, es sei der komplizierteste Friedhof der Welt. Partisanen, polnisch-stalinistische Geheimdienstleute, Rotarmisten, Nationalisten, Kommunisten, Katholiken und Orthodoxe – alle hatten sich im Leben gegenseitig bekämpft und getötet, und alle lagen nun auf demselben Friedhof, er hatte für jeden Irrsinn, für jedes Ideal eine kleine oder große Abteilung. Weißrussland war genauso, nur noch komplizierter. [...] Es hatte hier polnische Weißrussen gegeben, die so schwer unter Stalin gelitten hatten, dass sie am Beginn des Krieges lieber mit den Deutschen gegen die Sowjets kämpfen wollten als umgekehrt. Und die Sowjets hatten erst mit den Deutschen die Aufteilung Polens gefeiert und später die polnische Elite in Katyn erschossen. [...]

Boradyns Geschichten gingen mir nach. Sie antworteten auf das, was ich gehört hatte, bevor ich aufgebrochen war, auf die Erzählung des Filmproduzenten vom müden Land. Es war das Drama einer noch kaum erwachten und schon doppelt geschlagenen Nation – aus der sowjetischen Barbarei in die Hölle der SS. Die Weißrussen wären – nur weg von Stalin – unter Pilsudskis Regime gegangen, aber der polonisierte allzu rabiat. Sie hätten sich unter die Herrschaft der Deutschen begeben, aber deren Krieg rottete fast ein Viertel von ihnen aus. Sie kamen wieder unter die Sowjets, und sie bekamen Tschernobyl. Sie bekamen immer das Schlimmste ab und das meiste, im Krieg wie im Frieden, sie kannten Geschichte nur als den grausamen Croupier, der ihnen in einem bösen Spiel das Unglück hinüberschob. Jedes Mal.

Aber das Buch ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit. In Tschernobyl fährt er in die Zone, in das radiologisch-ökologische Reservat, wo die Natur in kürzester Zeit jedes Haus, jedes Feld, jeden Raum, den Menschen ihr einst mühevoll abgerungen haben, wieder überwuchert und eingenommen hat. Und dann ist da – schon in Russland – ein merkwürdiger Ort, den er aufsucht, die Einsiedelei eines Popen und zwei Kirchen mitten im Niemandsland, mitten im Wald, wo es rot von den Bäumen tropft und Ikonen und andere Gegenstände sich von selbst, von innen heraus auf wundersame Weise zu erneuern scheinen ...
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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