Von einem, der auszog, das Lachen zu lernen

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gelbsucht
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Von einem, der auszog, das Lachen zu lernen

Beitragvon gelbsucht » 30.07.2002, 20:04

"Der Steppenwolf" von Hermann Hesse

Dieses Buch wurde mir zur Offenbarung; und weil das eine seltene und kostbare, eine überwältigende Erfahrung ist, bin ich sprachlos, bin ich überfordert in Worte zu fassen, zu beschreiben, auszudrücken, was mir denn durch dieses Buch offenbar wurde. Ich habe es verschlungen und jedes Wort, jeden Satz gierig einverleibt, jeden Gedanken eingesogen, als wäre es lebensnotwendig und süß, wie die Luft zum Atmen selbst. Dabei habe ich bisher mit Hesse keine guten Erfahrungen gemacht: den "Siddhartha", seine Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre, habe ich ratlos aus der Hand gelegt. Ich hatte mich vorher bereits mit dem Thema des Buches beschäftigt und konnte mich mit Hesses Zugang und Auslegung überhaupt nicht anfreunden. Ein Serie im Stern über das Leben das Autors, hat mich dann allerdings bewogen, mich zu überwinden und es einmal mit einem anderen Titel zu probieren: "Der Steppenwolf".

Protagonist der Handlung ist ein gewisser Harry Haller und sicherlich ist es nicht zufällig, daß diese Figur die selben Initialen wie sein Erschaffer trägt. Er ist der Steppenwolf, der Einsiedler, die verlorenen Seele, der Einsame, der Hadernde und eigentlich ist er zweierlei: Mensch und Wolf, also zugleich Protagonist und Antagonist der Handlung, so daß es -zumindest um den Spannungsbogen des Buches zu erzeugen - keiner weiteren Figuren bedurft hätte und man kann tatsächlich daran zweifeln, ob es sie tatsächlich gibt, ob Hermine, Maria und Pablo tatsächlich existieren oder ob sie nur Ausgeburten von Harrys Phantasie sind, Reinkarnationen und Elemente seiner Persönlichkeit. Im bereits zum fiktionalen Teil des Buches gehörenden Vorwort des Verlegers wird ein ähnlicher Zweifel geäußert und eine Reihe von Begebenheiten, die sich darin zutragen, legen das ebenfalls nahe. Es handelt sich um eine Reise ins Unbewußte, wo Schein und Wirklichkeit verschwimmen.

Harry ist seine Suche nach Freiheit, sein Intellekt, seine Ablehnung bürgerlicher und moderner kultureller Werte zum Verhängnis geworden: er ist quasi in eine Sackgasse seiner Selbsterkenntnis geraten und das Gedankenspiel des Selbstmörders, daß eben die Tür (der Freitod) ihm jederzeit offenstehe, läßt ihn die Welt, die bürgerliche Welt, in der er sich bewegt, die ihm zugleich verhaßt und sentimental vertraut ist, noch ertragen. Am Anfang erscheint der Kampf von Mensch und Wolf wie der Kampf zwischen Über-Ich und Es, und tatsächlich geht es in diesem Buche primär um die Persönlichkeit des Menschen. Aus dem inneren Konflikt jedoch entsteht eine Dynamik, ein Aufruhr, eine wollüstige und dennoch immer wieder von Selbstzweifeln verzögerte Selbstzerstörung, in der die Persönlichkeit des Harry Haller sich immer mehr zersetzt und zersplittert. Auflösung, Überwindung, Selbstentäußerung, darum scheint es im Kern zu gehen. Andererseits handelt das Buch von einem, der am Ende seines Lebens erst einmal lernen muß, zu leben, denn bisher hatte er immer nur über das Leben, seinen Sinn und seine Bedeutung nachgedacht und über allem Ernst des Nachdenkens das Leben selbst vergessen. So muß er am Anfang erst einmal Tanzen und Lieben lernen und findet in diesen Handlungen erstmals ein selbstvergessenes Glück. Am letzten Schritt, dem Lachenlernen, scheitert er jedoch.

Wenn ich in einem Wort zusammenfassen müßte, worum es in diesem Buche geht, dann würde ich mich entschließen, zu behaupten, Hesse ging es darum das "Fegefeuer" zu beschreiben. Allerdings ein Feuer, das bereits im Diesseits den Menschen erfaßt und das von innen her brennt und die Eitelkeiten, den Hochmut, die Arroganz eines Menschen verzehrt und ihn unbeschreiblichen Qualen leiden läßt. Neben dem Thema "Persönlichkeit" geht es in dem Buch um eine ganz besondere Art von Leiden: um die schmerzhaften Seiten der Selbsterkenntnis. Des weiteren begegnen uns in Hesses "Steppenwolf" immer wieder Nietzsche und Buddhismus. Mit Nietzsche teilt er Gedanken, wie den modernen Nihilismus, die Verneinung moderner abendländischer, christlicher, aber vor allem bürgerlicher Werte, die Forderung, daß der Mensch ein Wesen ist, das überwunden werden muß und hundert andere. Nietzsche spürt man hier auf jeder Seite atmen, schimpfen, lachen, fordern oder bekennen. Allerdings scheint Hesse auch in diesem Buch eine buddhistische Lösung vorzuschweben, eine Art Nirwana. Ich weiß nicht, inwieweit sich das mit Nietzsche verträgt. Hesse will anscheinend zwischen dem Gedanken Nietzsches, daß der Mensch "untergehen" müsse, und dem buddhistischen Gedanken, daß am Ende alle Wünsche, Ziele und Gedanken ausgelöscht werden müßten, um zur höchsten Stufe der Erkenntnis, eben jenem besagten "Nirwana", zu gelangen, eine Brücke schlagen.

Was auch immer: dieses Buch steckt voller Wahrheiten und Weisheiten, die es zu entdecken gilt. Ich habe mir fest vorgenommen, es eine Weile ruhen zu lassen, meinen ersten Eindruck sich setzten zu lassen, um es dann noch ein zweites Mal zu lesen und einen weiteren Teil seiner Geheimnisse, seiner Mystik zu entdecken. Allerdings ist das eine Mystik für die sogar ein atheistischer, ein am Nihilismus, am Sinnlosen leidender Mensch empfänglich ist, ein moderner Mensch, der nicht mehr bereit ist, Werte zu akzeptieren, die mit Hinweis auf das Jenseits gerechtfertigt werden, ein Mensch, der eingesehen hat, daß jedes metaphysische Weltprinzip unhaltbar ist, ein Mensch, der hier und jetzt lebt, im Diesseits, aber dennoch tief in seinem Inneren daran glaubt, daß dieses Leben, diese Welt, dieses All (oder wie immer man es nennen mag) nicht sinnlos sein kann.
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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