Harry Potter und Psychobilly (für Gelb)

Was liest Du gerade? Was kannst Du empfehlen? Was war ein Reinfall? Benutze dieses Forum, um Deine eigenen Rezensionen zu publizieren.
Sick Steve
Orpheus
Beiträge: 259
Registriert: 11.09.2002, 10:51
Wohnort: Leverkusen

Harry Potter und Psychobilly (für Gelb)

Beitragvon Sick Steve » 30.09.2003, 10:38

"Sick Stevo – also mich würde ja wirklich mal interessieren, was ein Psychobilly-Gitarrist-und-Sänger von einem Kinder- und Jugendbuch wie "Harry Potter und der Stein der Weisen" hält, und was ihn (abgesehen von dem Trend und Hype um die Bücher und die Autorin) dazu gebracht hat, es zu lesen. Wenn du dazu was schreiben magst, dann mach aber dafür ein neues Thread auf. Ich kann mir vorstellen, dass es zu diesem Thema eine größere Resonanz/Diskussion gibt."

Tja, lieber Gelb, da fragst Du mich was! Wenn's recht ist, würde ich meine Antwort aber gerne nicht auf den "Stein der Weisen" beschränken, sondern die ersten vier Teile insgesamt betrachten.
Also, ich hatte eigentlich nie vor, die Bücher zu lesen. Anfangs jedenfalls nicht, weil ich sie, wie viele Erwachsene, für reine Kinderbücher hielt. Natürlich sind sie das bis zu einem hohen Grad, aber sie sind es auch wieder nicht. Jedenfalls hörte ich viel Gutes über diese Bücher, und dann, eines Tages, erhielt meine Frau die ersten drei als Hörbücher, ungekürzt und Wort für Wort gelesen von Rufus Beck, den ich seit dem für den Messias halte. Göttlich! Die Hörbücher sind ein absoluter Hammer!
Sei's drum, da ich als Musiker unter notorischem Zeitmangel litt, hörte ich immer nur hier und da ein Stückchen; aber diese Stückchen zeigten Witz und Charme. Als ich dann vor einiger Zeit das Auto mit der Bahn tauschte, soweit es meinen morgendlichen Weg zur Arbeit betrifft, hatte ich auf einmal massig Zeit, zu lesen. So kam's dann, daß ich die Bücher doch gelesen habe. Eigentlich lag es ja auch nahe, da ich ohnehin einen Hang zur phantastischen Literatur habe. An dieser Stelle kommt er jetzt, der Zusammenhang mit Psychobilly; jener fragwürdigen Musik, die meinen Lebensmittelpunkt bildet (naja, zusammen mit meiner Frau und meinem Kind, die mir auch beide sympathisch sind). Eines der wesentlichen Merkmale dieser Musik ist es ja, daß sie sich mit phantastischen Themen auseinandersetzt (nicht ausschließlich, aber häufig). Ich will es mal so sagen: Wenn ich derjenige gewesen wäre, der die ersten zwei Bücher verfilmen durfte, wäre die Filmmusik anders ausgefallen....

Aber mal zu den Büchern selbst: Kinderbücher? Ja! Ohne Zweifel! Und zwar die besten, die ich kenne! Diese Bücher haben alles, was ein Kinderherz begehren kann, und noch viel mehr; nämlich einen Aufbau und eine Sprache, die einen Erwachsenen nicht unterfordert, ohne dabei ein Kind zu überfordern. Und wer als Erwachsener seine Phantasie nicht verloren hat, kann mit diesen Büchern nicht unglücklich werden - im Gegenteil. Es sind ganz einfach Bücher, bei denen sich der Vater unter Umständen mehr auf das abendliche Vorlesen freut, als die Kinder :-D
Neben der Sprache (die ich nun nur in der Übersetzung kennen gelernt habe, die mir aber sehr gefiel, weil sie schlicht war, ohne plump zu sein oder ihre Bildgewalt zu verlieren) weisen die Bücher noch eine weitere Besonderheit auf, die ich für revolutionär halte - zumindest kenne ich keine andere Kinder- oder Jugendbuchserie, die dieses Prinzip verfolgt: Harry Potter altert im Verlauf der Bücher genau synchron zu seinem Zielpublikum, und in genau derselben Weise ändern sich die Sprache der Figuren (soweit es Kinder sind), ihr zwischenmenschliches Zusammenspiel und, nun ja, sagen wir mal der "Härtegrad" der Geschichten. Während der erste Band wirklich ein Kinderbuch ist (wenn auch mit einigen gruseligen Momenten), ist Band 4 schon nahe daran, ein richtiger Schocker zu sein. Es fliesst nicht eben wenig Blut, und manch einer lässt sein Leben. Dieser Wandel der Erzählweise und der Figuren innerhalb der Erzählung ist unwahrscheinlich spannend.

Und noch ein letztes Wort über Humor: Häufig ist es so, daß auf Kinder gezielter Humor so simpel aufgezogen ist, daß er Erwachsene langweilt; und Humor "für Erwachsene" sich ausschließlich auf irgendwelche Zoten beschränkt. Grausige Fälle. Manchmal gelingt aber die Gratwanderung, und Humor packt beide Lager. Das gelingt in den Harry-Potter-Bänden ungewöhnlich häufig.

Nee, war doch nicht das letzte Wort, mir fällt noch was ein: Die Figuren (vor allem auch die oft vernachlässigten Randfiguren) sind äußerst plastisch - man kann sie auch als Erwachsener wirklich hassen oder schätzen; man fühlt Wut, wenn Harry zum tausendsten Mal von Prof. Snape drangsaliert wird, und auch wenn man weiß oder vermutet, daß sich letztlich alles zum Guten wendet, ändert das doch nichts daran, daß man Snape spontan Eselsohren anhexen möchte.

Fazit: Man muß sich nicht schämen, wenn man um kurz vor sieben in der Früh' mit partiell geschorenem Kopf und Schnürstiefeln in der Bahn steht und Harry Potter liest. Eigentlich fand ich die Blicke der Mitreisenden ganz lustig...
Royal with cheese.

gelbsucht
Pegasos
Beiträge: 1105
Registriert: 25.04.2002, 20:55
Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel

Re: Harry Potter und Psychobilly (für Gelb)

Beitragvon gelbsucht » 12.10.2003, 15:29

Warum lieben alle Harry Potter? Was macht diesen kleinen "Zauberlehrling" so attraktiv bei Jung und Alt? Ich finde das ist immer noch ein Phänomen – auch in Bezug auf die sehr allgemeine Frage: Was muss ein Buch haben, damit es Erfolg hat? Jetzt ist es schon so weit, dass die englische Ausgabe des neuesten Bandes die deutsche Bestsellerliste erklettert, weil die eingefleischten Potter-Fans nicht so lange ausharren können, bis die Übersetzung erscheint. Ich hab seit jeher zu den Leuten gehört, die den Kult und die Euphorie um die Potter-Reihe oder den Mittelerdenmythos eher belächelt haben. Wenn ich mich mit diesen populären, erfolgreich vermarkteten Fantasy-Geschichten beschäftigt habe, dann oft nicht in der Absicht, unterhalten zu werden, sondern mit dem Anspruch, den Hype zu verstehen – zu verstehen, welche Ursachen er hat, zu verstehen, was an der ganzen Sache dran ist.

Okay, Sick Steve, nach dieser Einleitung könnte man meinen, dass jetzt die große Abrechnung folgt. Aber Fehlanzeige. Meine Erfahrungen mit HP sind durchaus nicht so schlecht, wie ich im vorhinein befürchtet habe. Ich habe eine sehr nette Arbeitskollegin, die ein begeisterter HP-Fan ist und, wenn es im Nachtdienst bei uns ein bisschen ruhiger zugeht, so zwischen 3 Uhr und 6 Uhr morgens, hören wir uns schon mal die Lesung von Rufus Beck an. Okay, wir sind noch nicht so super weit gekommen: den "Stein der Weisen" haben wir ganz durch und bei der "Kammer des Schreckens" sind wir gerade über das erste Drittel hinaus. Ich denke, ein paar Sachen kann ich trotzdem schon dazu sagen.
Jedenfalls hörte ich viel Gutes über diese Bücher, und dann, eines Tages, erhielt meine Frau die ersten drei als Hörbücher, ungekürzt und Wort für Wort gelesen von Rufus Beck, den ich seit dem für den Messias halte. Göttlich! Die Hörbücher sind ein absoluter Hammer!

Yepp. Die Qualität dieser "Hörbücher" ist, auch unabhängig vom Inhalt, wirklich erstaunlich. Allein wie Rufus Beck mit seiner Stimme verschiedene Personen "darstellt" und sprechen lässt, ist der Wahnsinn. Da gehen einem die Ohren über. Seine Art, diese Geschichten zu erzählen, ist so amüsant und witzig und einfach unnachahmbar. Er verleiht dem Text wirklich Leben. Und auch der dezente, sehr klug eingesetzte Gebrauch einiger Toneffekte (Hall, Dopplung, Verzerrung etc.) verstärkt die Anschaulichkeit und Wirksamkeit der Erzählung in den entscheidenden Szenen noch einmal um ein vielfaches. Wirklich großartig.
Sei's drum, da ich als Musiker unter notorischem Zeitmangel litt, hörte ich immer nur hier und da ein Stückchen; aber diese Stückchen zeigten Witz und Charme.

Ja, Witz und Charme, das war auch mein erster Eindruck. Ich war verblüfft, wie lustig diese Erzählung ist und, wenn mich ein Buch so zum Lachen und Schmunzeln bringt, kann ich nicht wirklich mehr darauf bestehen, es würde mir nicht gefallen und das ganze sei nur ein großer Hokuspokus.
Man muß sich nicht schämen, wenn man um kurz vor sieben in der Früh' mit partiell geschorenem Kopf und Schnürstiefeln in der Bahn steht und Harry Potter liest. Eigentlich fand ich die Blicke der Mitreisenden ganz lustig...

Das hätte ich ja zu gerne gesehen! Aber anders als bei dir, werde ich es wahrscheinlich nicht auch noch lesen. Aus Gründen des Zeitmanagements. Ich glaub, die Hörbücher reichen mir und befriedigen meine Neugier in Sachen Harry Potter vollauf. Ich bin ja auch nicht so der große Fantasy- und Zeitgeistliteraturleser. Ich habe nach Gründen gesucht, es schlecht zu finden, und habe Gründe aufgetan, es gut zu finden. Darauf will ich es beruhen lassen. Ich brauch hier nicht zu erwähnen, dass meine Ansprüche an Literatur etwas größer sind, um von diesem Genre befriedigt zu werden. Aber in jedem Fall ist es eine schöne Abwechslung, und gerade so anstrengend und anspruchsvoll, wie man es zwischen 3 Uhr und 6 Uhr morgens als Pause in einer 12-Stundenschicht noch verträgt! ;-)

Ansonsten kann ich mich deinen Ausführungen nur anschließen.

;-) gelbe grüße :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

razorback
Phantasos
Beiträge: 1983
Registriert: 10.09.2002, 20:36
Wohnort: Leverkusen
Kontaktdaten:

Re: Harry Potter und Psychobilly (für Gelb)

Beitragvon razorback » 12.10.2003, 23:38

Ich habe mich, glaube ich, schon hier und da als Harry Potter Freund geoutet und kann mich Stevos Urteil nur anschliessen - auch, was die besonderen Stärken der Bücher angeht. Freut mich gelb, dass Du auch Spass dran hast.

Aber anders als bei dir, werde ich es wahrscheinlich nicht auch noch lesen. Aus Gründen des Zeitmanagements. Ich glaub, die Hörbücher reichen mir und befriedigen meine Neugier in Sachen Harry Potter vollauf.


Eine gute Wahl, denke ich, wenn Du sowieso nicht vorhast, Fan zu werden. Es sind ja ungekürzte Lesungen - und recht gute Übersetzungen.

Aber eigentlich melde ich mich nur, um eine Erfahrung beizusteuern, die Euch vielleicht erheitert: Ich hatte Freitag insgesamt 10 Stunden im Auto zu sitzen, weswegen ich mir das CD Magazin bis zum Anschlag mit Hörbüchern geladen habe, neben Paul Austers "Buch der Illusionen" und einem Comedy-Sampler zum Thema Sex auch "Das Buch Namen" in der Buber-Rosenzweig Übersetzung der Bibel. Zwei der vier CDs dieser Lesung spricht der grosse Rufus Beck. Könnt Ihr Euch in Etwa vorstellen, wie das kommt, wenn man hört, wie ER mit Becks Stimme Moses laaaaaang und breit erklärt, wie ein Tempel zu bauen ist und was für Klamotten die Priester zu tragen haben, wenn man im Hinterkopf hat, wie er als Peeves "Ach Potter, Du Schwein..." singt? :-D :-D :-D
O You who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You


Zurück zu „Rezensionen“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 42 Gäste