Zwischen Pornografie, Ekel & Daumen-hoch !

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vogel
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Zwischen Pornografie, Ekel & Daumen-hoch !

Beitragvon vogel » 20.11.2003, 17:29

Hallo ?

Wo sind die Todesmutigen, die jetzt nach dem Abschluß des Lesens uns nun mit ihren geistigen Ergüssen ergötzen und uns zu einer Diskussion anregen wollen ??????
Ich glaub ich opfere mich jetzt mal auf und zitiere mal [) i r k um nen schönen Anfang zu finden :
Kleinervogel, wie dein Profil verrät, bist du noch ziemlich jung. Bitte versteh das jetzt nicht falsch, aber ich empfinde es als meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, dass das Buch ziemlich brutal ist. Den Leser erwartet eine schonungslose Konfrontation mit den psychologischen Abgründen der menschlichen Seele, es kommen Gewalt und pornographische Passagen auf ihn zu. Das Buch steht zwar nicht auf dem Index, aber ich weiß, dass die Verfilmung des Romans erst ab 16 Jahren freigegeben ist. Nun stand "Die Klavierspielerin" auch ganz oben auf deiner Leseliste. Ich möchte dich trotzdem bitten, dir noch einmal gut zu überlegen, ob du wirklich mitlesen willst! Traust du dir das zu? Du musst das für dich selbst entscheiden! Von uns wird sich niemand beschweren, wenn du jetzt sagst: "Lieber nicht!"


Also ich habe bis zur Seite 284 fertig gelesen.
Und ich hab jetzt mir das alles mal nen bissel durch den Kopf gehen lassen, immer wieder das Buch mal aufgeschlagen und in einzelne Stellen reingelesen, aber ich weiß immer noch nicht, wo ich dieses Buch einordnen soll ....
Diese Einordnenen bezieht sich nicht auf den Inhalt, vielmehr auf das was ich davon - vom Inhalt - halten soll. Ich muss sagen, dass ich einmal die linke Augenbraue heben musste und mich gefragt habe, was das soll und ein anderes Mal ich das Buch weg legen wollte, weil ich mich wirklich geekelt habe ....
Diese Linke-Augenbraue-heben trat bei mir bei diesem, in meinen Augen unbegründete, Bedürfnis Erikas Wasserlassen zu müssen. Das empfand ich als unangenehm und für die Handlung unrelevant. Zwar ist das ein Punkt, der sonst immer untergeht, aber was interessiert mich bitte, ihr Bedürfnis auf die Toilette gehen zu müssen ? Womit wir beim eklen wären : Ums kurz und schmerzlos zu machen, warum musste Fr. Jelinek bitte Schultoiletten noch widerlicher machen als sie sowie so schon sind ? Das hat mich echt angebiedert ..... .(
Aber ihr könnt mich gern eines besseren belehren was diese Sachen angeht ...


Wie habt ihr das empfunden ? Gab es andere Szenen, die ihr als unangehem empfunden habt ? Wie ist überhaupt euer Gesamteindruck von "Die Klavierspielerin" ??
Und was mich natürlich am meisten interessieren würde : Findet ihr, als erwachse Menschen, Dirks Befürchtungen, seine Warnungen, etc., mir gegenüber als gerechtfertigt und angebracht ?
Silentium, wie empfandest du diese Szenen ?

Vielleicht noch so viel : bereut hab ich es nicht, diese Buch gelesen zu haben ... War das jetzt ein guter Anfang ... ? .0

Liebe Grüße
kleinervogel
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.

Silentium
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Re: Zwischen Pornografie, Ekel & Daumen-hoch !

Beitragvon Silentium » 22.11.2003, 11:40

Hm. Das mit dem Wasserlassen war mir noch eher wurscht, irritiert hat mich eher dieses Familientreffen(?) in den Bergen, mit Judoübungen und genauer Lokalisation der primären Geschlechtsorgane in der Badehose. Ich meine- schockiert hat's mich nicht, waren einige wesentlich unappetitlichere Sachen drin, aber ich kann's nicht einordnen. Zu welcher von Erikas Störungen gehört das jetzt? Sadochismus, Masochismus, Voyerismus?

Aber abgesehen davon und einer überstrapazierung des Themas "verklebte Taschentücher" fand' ich das Buch gewissermaßen faszinierend. Man beachte, in welchen Rollen die Figuren festhängen:
Die Mutter will Erika in einer Abhängigkeit festhalten, scheint aber gar nicht zu begreifen, dass sie selbst völlig durch ihr Kind lebt, daher selbst abhängig ist. Sie wird nie mit ihrem Namen angesprochen, ist auf das "Mutter" reduziert.
Erika quält (Schülerin, Glassplitter, Manteltasche) und wird terrorisiert.
Der Schüler selbst plant weniger eine Affäre als eine Ausutzung, betrachtet die Lehrerin quasi als emotionelle Spielwiese, ist angewidert, als sie ihm ihre To-do-list vorlegt und lässt sich zu genau dem hinrei?en, wo vor er zurückgeschreckt ist: Gewalt.
Das heißt, alle drei unterdrücken und werden unterdrückt. Außerdem vermeidet Jelinek alles, was nur im entferntesten Ästhetisch sein könnte, sieht man mal von der Beschreibung des Blumenkleides ab. Die Bilder, mit denen sie Arbeitet, sind irgendwie klein, gemein und ein bisschen schmuddlig, so dass man versucht ist, sich nach der Lektüre die Hände zu waschen. Und ich gebe Kleinervogel recht, was die Toilette angeht. Wäh!
Stark find ich das Schlussbild, die letzte Kameraeinstellung quasi: im Hintergrund den mit Schülern tändelnden Schüler, die verstörten Passanten und eine Frau, aus der Schultern blutend und die Passanten ignorierend, ein Küchenmesser in der Hand.
(allerdings müssen die ganz schön scharfe Küchenmesser haben, wenn sie sich ohne großes Gesäge in die Schulter schneiden kann, weil der Mensch da eingentlich recht dicke Haut hat und die Armhaltung des Arms mit dem Messer auch nicht optimalen Krafteinsatz zulässt. Warum gerade die Schulter, wo sie doch die Unterarme viel leichter verletzen könnte? Kleine Wortklauberei am Rande, das schaut ein bissl nach Effekthascherei aus.)
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

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Re: Zwischen Pornografie, Ekel & Daumen-hoch !

Beitragvon vogel » 24.11.2003, 17:21

hmmmmmm, die Schlußszene erscheint mir auch einwenig absurt, u.a. auch wegen dem was du sagst, Silentium .. Aber ich kann Erikas Verhalten schon verstehen : Mir kommt es so vor, als wäre sie endlich mal stolz auf sich selbst und auch weil sie's möchte !
Aber warum fangen wir am Schluß an ?

Das was ich in meinem ersten beitrag schon angesprochen hatte (Wasserlassen & Klo) finde ich eigentlich am schlimmsten am ganzen Buch, die Pornografischen Bilder - na gut, die bekommst du in ner leicht abgeflachten Version auch in jedem Film, ausm Öffentlich-Rechtlichen ...
Ich fand Sätze wie "Wenn man in nem Porno ganz vore sitzt, könne man doch eigentlich besser in die Frau reinschauen" gut *s*
Aber ich fand diese Szenen nicht irgenwie weiter schlimm, ich hatte mehr zu knappern, wenn sich Erika selbst schmerzen zugefügt hat ... musste jedes mal ziemlich schlucken ...

ICh habe das Gefühl, das hier läuft viel zu unkoordiniert ab, wo beleibt die HOt-De-Vole ?


Liebe Grüße
kleinervogel
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Re: Zwischen Pornografie, Ekel & Daumen-hoch !

Beitragvon gelbsucht » 25.11.2003, 18:15

Liebe Todesmutigen, liebe Aufopfernden, liebe Kamikazeleser!!!

Vielen Dank, kleinervogel, dass du hier den Anfang gemacht hast. Ja, es ist ein guter Anfang, denn aller Anfang ist schwer. Vielleicht hätten wir mit der Diskussion noch einen Tag früher beginnen müssen, denn am 19.11.2003 hat der Franzl Schubert seinen 175. Todestag gefeiert – wäre doch irgendwie nahe liegend gewesen! Nun gut, er selbst wird ihn wohl nicht gefeiert haben. Aber da sind wir auch schon bei einer der Folgen, einer der Wirkungen, die so ein Buch auf mich hat und haben kann: neuerdings höre ich jetzt auch Schubert!

Tja, was halte ich von dem Buch? Wie ist es mir bei der Lektüre ergangen? Ich muss sagen, dass ich vor allem sprachlich von dem Buch begeistert bin, von den "Metaphernkaskaden", wie Silentium sie bereits treffend bezeichnet hat. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, dass gegen Ende gerade diese Sprach- und Bildergewalt etwas an Kraft verliert – entweder durch Abnützung oder weil sie tatsächlich nachlässt. Das Buch zerfällt ja auch quasi in zwei Teile: im ersten Teil des Buches passiert ja handlungstechnisch eigentlich nicht viel ... es sind eher Szenen und Rückblenden, die Erikas Charakterisierung dienen, die das Unterordnungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Mutter zeigen und den eng abgesteckten Rahmen aus Vorschriften, Gewohnheiten und Zwängen, in dem sie sich bewegt und die unglücklichen und absonderlichen Versuche, dem für ein paar Stunden zu entkommen. Der zweite Teil des Buches widmet sich dann der Beziehung zu Walter Klemmer und all den Problemen, die damit zusammenhängen, hier entsteht erst eigentlich das, was man als Handlung bezeichnen würde, das andere ist ja eher eine Zustands-, eine Stillstandsbeschreibung. Ich muss gestehen, dass mir der zweite Teil des Buches nicht ganz so gut gefallen hat wie der erste und es gibt einige Passagen auf den letzten 80 Seiten, mit denen ich mich schwer tue, sie zu verstehen. Am Ende erschien mir das Buch sehr wirr und anstrengend zu lesen. Zudem fand ich es etwas nervig, wenn im zweiten Teil dann zum x-ten Mal das tyrannisch-parasitäre Wesen der Mutter aufgegriffen und durchgekaut wird etc. Aber von diesen Kritikpunkten abgesehen, liebe ich das Buch.

Diese Linke-Augenbraue-heben trat bei mir bei diesem, in meinen Augen unbegründete, Bedürfnis Erikas Wasserlassen zu müssen. Das empfand ich als unangenehm und für die Handlung unrelevant. Zwar ist das ein Punkt, der sonst immer untergeht, aber was interessiert mich bitte, ihr Bedürfnis auf die Toilette gehen zu müssen?

Also, ich studiere zwar keine Psychologie, aber das kann ich vielleicht noch erklären. Dieses "unbegründete" Wasserlassen tritt bei Erika in Situationen auf, in denen sich bei ihr eine sexuelle Erregung, Eifersucht oder sonstige emotionale Anspannung löst und eventuell in Angst (z.B. die Angst, im Versteck entdeckt zu werden) übergeht. Das Wasserlassen aber ist eine typisch körperliche/psychosomatische Reaktion auf Angst.
Besonders belastet werden Nieren und Blase durch Angst und Unruhe. (...) Seelischer Druck, hervorgerufen durch andauernde Erwartungs- und Versagensängste, geht mit der Zeit in einen körperlichen Druck über und findet insbesondere in einem konstitutionell an sich geschwächten Nieren-Blasen-Bereich seinen Niederschlag. Die spontane körperliche Reaktion auf den inneren Druck bei ängstlicher Erregung zeigt sich im Drang zum Wasserlassen z.B. vor Prüfungen. Die Entleerung der Blase ist ein Entspannungsersatz für das Unvermögen, loslassen zu können. Bei Kindern erfolgt die Entladung der Seelenspannung nicht selten durch nächtliches Bettnässen. Werden Ängstlichkeit und ständige sorgenvolle Achtsamkeit zu einem Dauerzustand, so kann dies zu chronischer Trägheit der Nieren und bleibender Überempfindlichkeit der Blase führen. (Strath-Labor)

Soziale Phobien sind in der Regel mit einem niedrigem Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik verbunden. Sie können sich in Beschwerden wie Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen äußern. (Psychologie online)

Dieser Zwang, Wasser zu lassen, hat mich nicht so gestört. Was mich dann doch eher gestört hat, ist diese Tendenz des Buches menschliche Beziehung zu psychologisieren. Ich weiß jetzt gar nicht richtig, wie ich das beschreiben soll. Aber zum Beispiel Erikas Wunsch, wieder in den Körper der Mutter zurück zu kriechen, dieser Ödipus-Komplex bei ihr, diese ständigen Fruchtwassermetaphern, diese inzestuöse Szene mit der Mutter. Das war mir dann doch irgendwie zuviel. Nicht nur, dass es mich anwidert, es war auch nicht besonders überzeugend, nicht authentisch genug erzählt. Ich musste dann immer denken: Ach, Gott, jetzt holt sie wieder den Freud raus, jetzt theatralisiert sie.
Hm. Das mit dem Wasserlassen war mir noch eher wurscht, irritiert hat mich eher dieses Familientreffen(?) in den Bergen, mit Judoübungen und genauer Lokalisation der primären Geschlechtsorgane in der Badehose. Ich meine- schockiert hat's mich nicht, waren einige wesentlich unappetitlichere Sachen drin, aber ich kann's nicht einordnen. Zu welcher von Erikas Störungen gehört das jetzt? Sadismus, Masochismus, Voyeurismus?

Zuerst ist es eine Rückblende: Erika ist mit ihrer Mutter in den Ferien. Aber nicht Erholung ist es, was sie in diesem Urlaub findet, sondern sie muss stundenlang üben, während draußen sich der Burschi (ihr Cousin) damit ergeht, seine neuesten Judo- und Ringerübungen zu vollführen und die jungen, kichernden Mädchen "flachzulegen" bzw. in eine Position zu bringen, wo ihr Gesicht seinen Eiern näher ist, als sonst. So zum Spaß. Als Erika an der Reihe ist, schaut sie halt einfach mal genauer hin und berührt das lässig nachlässig in die Badehose verpackte Hodenpacket mit ihrem Gesicht. Vielleicht ist hier ihr Voyeurismus angedeutet, vielleicht ist es auch einfach nur jugendliche Neugier ... wo sie sonst kaum Kontakt, vor allem keinen erotischen Kontakt mit gleichaltrigen hat. Da sie von allem abgesondert wird, entwickeln sich bei ihr halt extremere, unübliche Verhaltensweise ... aber diese hier ist ja noch relativ harmlos. Es ist nur eine kleine Grenzüberschreitung.
Das heißt, alle drei unterdrücken und werden unterdrückt. Außerdem vermeidet Jelinek alles, was nur im entferntesten ästhetisch sein könnte, sieht man mal von der Beschreibung des Blumenkleides ab. Die Bilder, mit denen sie arbeitet, sind irgendwie klein, gemein und ein bisschen schmuddlig, so dass man versucht ist, sich nach der Lektüre die Hände zu waschen.

Das ist auch etwas, dass mir aufgefallen ist. In dem Erzähluniversum von Jelinek gibt es keinen Funken romantische Liebe oder sie ist immer eine Täuschung, eine Hülse hinter der sich ganz andere Affekte, Gelüste und Machtbedürfnisse verstecken. Alles, was nur andeutungsweise gut am Menschen ist, wird im nächsten Satz sofort wieder ironisiert oder durch Sarkasmus relativiert. Da ist Jelinek unerbittlich. Keine Verklärung, keine Gefühlsduseleien. Das fällt auch bei ihrer Sprache auf. Ihre Sätze sind ein Stakkato, ein Presslufthämmern. Ach, aber auch das wird manchmal etwas monoton und man sehnt sich nach den ausufernden, selbstverliebten Satzgefügen eines Theodor Fontane, eines Marcel Proust oder eines Thomas Mann. Es steckt sehr viel Hass und Gehässigkeit in diesen Seiten, aber auch sehr viel Verbitterung und Schmerz. Das berührt mich, aber vor allem ängstigt es mich. Wenn ich mir dann vorstelle, dass der Roman autobiographische Züge trägt, schnürt sich mir etwas im Bauch zusammen. Ich musste das Buch häufiger beim Lesen weglegen, weil es mir zuviel wurde, weil es mir zu nah ging.

Soweit meine erste Meinung,

Euer Gelbdirk

p.s.: Wenn euch bestimmte Aspekte des Buches besonders interessieren, dann schreibt doch einen kleinen Artikel dazu und macht einen eigenen Thread dafür auf. Dann kommt vielleicht auch etwas mehr Struktur in die Diskussion. ;-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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