Gemischtes Gesamturteil

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Hamburger
Phantasos
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Gemischtes Gesamturteil

Beitragvon Hamburger » 09.12.2003, 14:32

Hallo zusammen!

Wie gestern schon angekündigt nun mein Gesamturteil über das Buch, welches gemischt ausfällt. Es gibt ein grosses Einerseits, aber auch ein nicht viel minder grosses Andererseits.
Einerseits gefällt mir diese Geschichte, denn wenn auch die Ausgangsstellung nicht besonders phantasievoll ist (was sie meist nicht ist), so zeichnet sich Jelinek vor allem darin aus das Letzte daraus hervorzuholen. Auch bleibt das Buch nicht einseitig und schildert sehr schön, wozu die Verformungen der Mutter bei Erika führen. Die kleinen Auflehnungsversuche gegen ihre Mutter, die kleinen nächtlichen Ausflüge ohne deren Wissen, das herrische Verhalten gegenüber ihren Schülern. All das wird sehr schön ausgeleuchtet und von der Erzählerin mit Wonne berichtet. Ebenso wie die "Herrschaftsformen", z.B. die bräsige Gemütlichkeit im Fernsehsessel, wobei der Autorin ganz nebenbei immer wieder Schläge gelingen, die nicht nur primär was mit der Handlung zu tun haben.
So heisst auf Seite 51, Mitte...


Nur die Fernsehgeräusche sind real, sie sind das eigentliche Geschehen.


Das Buch ist voll von diesen Seitenhieben und das liebe ich an ihm. Mich hat das Zitat übrigens erinnert an eine klasse Stelle im Walser-Roman "Tod eines Kritikers, dort zu inden auf Seite 178, oben...


Manchmal beherrscht einen das Gfühl, ganz und gar i diesem Mediengewerbe aufzugehen. Du bist nichts als ein Teil dieses Mitteilungszusammenhangs. Und es gibt außer diesem Zusammenhang nichts. Du wirst beatmet. Das heißt informiert. Du selber mußt nicht mehr leben.



Ferner gefalen mir an "Der Klavierspielerin" ganz besonders der Anfang und der Schluss. Das Buch startet so schwungvoll und energisch, dass es einen regelrecht aus der Bahn wirft und sofort in seinen Bann zieht.
Und es endet mit einem offenen, aber meiner Meinung nach eher negativen Ende, was ich sehr gut finde. Nichts wäre unglaubwürdiger gewesen als ein Walter Klemmer, der Erika dann zum Schluss all seine Wünsche erfüllt - oder gar eine grosse Versöhnungsszene wie in Hollywood, widerlich nein, das war so schon stark. Vor allem diese Entschlossenheit Erikas, die dann im Rückzug endet.
Wenn ich auch gestern über einen Teilbereich des Stils (Stichwort "Metapherkaskaden") gelästert habe, so muss ich doch im Allgemeinen zugestehen, dass diese Autorin ihren ganz eigenen Stil hat. Ihre bittere, lakonische, teils kalte Sprache ist unverwechselbar. Was grundsätzlich sehr positiv ist.
Und das Buch versteht es, und das ist vielleicht sein grösstes Verdienst, das Thema Sadomasochismus nicht auf die zwei Arten zu behandeln, wie es klischeehaft immer wieder gerne getan wird, sei es in Film oder Literatur.

1) In einem alten verlassenen erlies hängen viele Masochistn in grausamen Ketten und ein oder mehrere Sadisten schlagen 24 Stunden auf sie ein, 7 Tage lang. Hart, härter, immer härter, alles von Leuten die nichts anderes im Kopf haben als SM. Psychische Hintergründe werden nicht beleuchtet, ein Verstehen der Personen wird nicht benötigt. Wer zuschaut oder liest fühlt sich angewidert.

2) Das Ganze im anderen Extem als Komödie. Alles ist lustig, witzig bis albern und sowieso nicht ernst zu nehmen. Wer zuschaut oder mitliest findet das nett und vergisst es bald wieder.

Ich stehe sonst nicht so auf Buchdeckeltexte, aber ich kann es kaum besser ausdrücken als Norbert Schachtsiek-Freitag von der "Frankfurter Rundschau"...


Wichtig ist das Buch nicht, weil es die (auch pornographischen) Phantasien des lesenden Voyeurs stimuliert, sondern weil der Roman ein besseres Verstehen über perverse Formen abweichenden Verhaltens bewirkt


Das stelle ich jetzt hier mal als Diskussionsgrundlage in den Raum, was das Einerseits angeht.

Nun zum Andererseits

Es sind nicht nur der anstrengende Stil und die Wiederholung von vielen (teils ekligen) Bildern, die die Bewertung des Buches meinerseits schmälern.
Es ist auch schlicht und einfach so (ich sprach das gestern schon mal an), dass ich als Folge dessen einiges nicht genauer erforscht habe. Es gab einige Stellen (Walter Klemmer geht in den Park, um ein Tier zu töten), die ich albern bis grotesk fand, bei denen ich dachte "Da muss doch irgendwas dahinterstecken", aber ich hatte nicht mehr die Kraft, ich war zu erschöpft das zu untersuchen. Ich weiß schon jetzt: Dieses Buch werde ich irgendwann noch einmal in Häppchen lesen (jetzt weiß ich ja, wie es ausgeht) um das nacholen zu können.
Gestört hat mich dann noch an der eigenen Sprache von Frau Jelinek die teilweise Missachtung oder Verdrehung grammatikalicher Grundregeln. Sätze wie "Hineinzwängt sich Erika" in das
und das fand ich eher krude denn wirklich anregend. Klar, daduch erzeugt sie Abwechslung. Nicht immer kommt erst das Subjekt, dann das Prädikat, aber ich finde sie hat übertrieben.
Inhatliche Kritik: Ich fand es merkwürdig, dass, zumindestens soweit ich mich erinnere, das Thema "Freundschaft" im ganzen Buch nicht einmal thematisiert wird. (und sei es um zu betonen, wie unmöglich "Freundschaften" für Erika sind) Ich habe eigentlich darauf gewartet, dass sie auch mal jemanden trifft, mit dem sie einfach nur befreundet sein kann oder zumindest in den Rückblenden ehemalige Freundschaften gezeigt werden. Ein Mensch, der niemals echte Freunde hatte - irgendwie erscheint mir das sehr unrealistisch. Obwohl ich um die starke Sellung der Mutter weiß. Es erscheint mir trotzdem so, "ist so ein Gefühl" würde kleinervogel sagen.

So, auch diese Kritik soll als Diskussionsgrundlage dienen.

Hoffe ich.

MFG,

Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

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