Reiner Kunze – Wo wir zuhause das Salz haben

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solneman
Erinye
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Reiner Kunze – Wo wir zuhause das Salz haben

Beitragvon solneman » 02.02.2004, 02:33

Reiner Kunze – Wo wir zuhause das Salz haben Nachdichtungen

Reiner Kunze, einer der sorgfältigsten Lyrik-Übersetzer aus dem Tschechischen, Slowakischen, Polnischen, versteht es, die Grenze zwischen dem Gedicht der Originalsprache und seiner Interpretation verschwinden zu lassen. Was er im Laufe der Jahrzehnte geschaffen hat, vereinigt dieser im Format kleine, innen jedoch zu tröstender Größe sich aufbauende graue Band mit der kleinen Bauchbinde:

„Darf ich bei euch bleiben
einen tag eine nacht
ich bin ein mensch“ (S.25)

Hier gilt es, in jedem Gedicht die Kostbarkeit des Wortes zu schätzen zu lernen und das Glück, eines gefunden zu haben, das passen mag.

Wie großartig Kunzes Übersetzerleistung zu bewerten ist, erkennt man nur, indem man eine mittelmäßige Übersetzung seinen Meisterstücken gegenüberstellt. Ein einziges Beispiel:

„Herbst“ (Podzim) von Ivan Blatný:

In einer Übersetzung von Radim Klekner lesen wir in dem Band „Landschaft der neuen Wiederholungen“, Verlag C. Weihermüller, 1992:

Blätter in den Parks zusammenfegen welch ruhige Arbeit.
Auf und ab gehen und wieder zurückkehren,
wie die Zeit zurückkehrt, wie die Weite,
nostalgisch wie die Briefmarke auf dem Umschlag.

In fand einen Brief, nur mit dem Bleistift geschrieben,
vom Regen verwischt, halb zerrissen.

Oh Zeit der Briefe, wo bist du?
Wie Rilke schrieb ich lange,
jetzt schweige ich, adieu November kam.
Die Fuchsstuten fahren aus dem Tor.


Bei Reiner Kunze klingt dasselbe Gedicht so:
(Man beachte die Reime, die das Original aufweist, und die wortgetreue Anspielung aus Rilkes berühmten Herbst-Gedicht („Herr, es ist Zeit ...“), die dem obigen Übersetzer entgangen ist.)

Laub zusammenkehren in den parks, was für ein stilles tun.
Hin- und hergehn, selbst im tun ist schon ein ruhn,
so kehrt die zeit zurück, die ferne, die einst rief
nostalgisch wie die marke auf dem brief.

Einen fand ich, bleistiftschrift, zerknittert,
regenausgewischt, schon halb verwittert.

O zeit der briefe, sag, wo deine blätter treiben!
Ich konnte, wie einst Rilke, lange briefe schreiben;
Ade, ich schweige, der november krächzt im ohr.
Rote rösser traben aus dem Tor.

Man darf darauf vertrauen, dass mit dieser Sorgfalt auch die anderen über 200 Gedichte übersetzt worden sind!

„Anstelle eines Nachwortes“ gibt der Essay „Dasselbe, das ein anderes ist Über das Nachdichten“ umfassend und präzise Auskunft über Kunzes Vorgehensweise beim Übersetzen. Selbst wenn sich – wegen der teilweise etwa fremden Bilderwelt der Originalautoren – manches Gedicht nicht sofort erschließt: in diesem Nachwort wird die atemlose Spannung spürbar, die notwendig ist, um für einen Kollegen (mit vielen der Autoren war und ist der Übersetzer befreundet) ebenjenes Andere, das Dasselbe ist, zu schaffen. Allein für dieses Nachwort lohnt sich Anschaffung und erst recht Lektüre dieses großen Büchleins.

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