Irina Denezkina: Komm

Was liest Du gerade? Was kannst Du empfehlen? Was war ein Reinfall? Benutze dieses Forum, um Deine eigenen Rezensionen zu publizieren.
solneman
Erinye
Beiträge: 21
Registriert: 15.11.2003, 20:33

Irina Denezkina: Komm

Beitragvon solneman » 02.02.2004, 02:35

Irina Denezkina: Komm

Was für eine Welt!
Hat man sich so die russische Jugend vorzustellen: so brutal, so lieb-, herz- und trostlos? Und wenn: Warum davon erzählen, und warum davon lesen? Nach diesen 10 Geschichten geht’s einem nicht unbedingt gut. Verwirrende, blutige Bilder voller Brutalität haben sich eingestellt, Szenen ohne Perspektive sind stehen geblieben, Angst und Hass rumoren nach. Und all das verflüchtigt sich schnell wieder. Dafür gibt es gute Gründe.

Irina Denezkina erscheint in meinen Augen als Dichterin der sozusagen proletarischen Dekadenz. Ihre Geschichten kommen aus ohne dramaturgische Konflikte, ohne Spannung, ohne „Story“. Ihre Erzählhaltung bedarf keinerlei Distanz, es genügt völlig, lediglich eine trübe Umwelt mit den banalen Handlungen der in ihnen waltenden Personen zu schildern. Lauter oberflächliche Szene-Jugendliche bzw. junge Erwachsene, die ihren Körper nur haben, um ihn mit Wodka vollaufen zu lassen und die Sexualität nur empfinden als eine Art Juckreiz, dem man mit eigentlich egal wem abhelfen kann.

In manchen Geschichten regiert der blanke Horror - in „Ljoscha-Rottweiler“ zum Beispiel. Dieser Text könnte so auch in einem Underground-Magazin stehen, wo er sicher gestanden hat und wo er besser geblieben wäre.

Nur selten gelingen der jungen Autorin Bilder eigener Prägung, etwa wenn „Ignats Ohren“ durchscheinend sind und aussehen, „als hätte er Kinderhände am Kopf.“ (S. 69). Das ist schön. Nicht schön ist, dass die „durchscheinenden Ohren“ in den anderen Geschichten auch öfters vorkommen.

Oder hier, in der längsten Geschichte („Song for Lovers, S.141): Da „riecht es plötzlich nach nassen Faulbeerbäumen und Fensterblechen“, wenig später gar „begrüßte (sie) der Regen mit Blasen auf den Pfützen.“ Da blitzt kurz Können auf, von dem ich wissen möchte, wie es sich entwickeln wird.

Lieber und öfter aber greift die Autorin ins Regal der gängigen Wendungen, etwa wenn in der Titelgeschichte „Komm“ jemand zur – na was wohl – „Salzsäule erstarrt“ (S.7).

Einsamer Höhepunkt des Buches aber ist die letzte Geschichte, die mit ihrer Direktheit wirklich berührt und die eine Sehnsucht zu Wort werden lässt, die die ganzen Geschichten unausgesprochen begleitet hat: Diese Sehnsucht, diese unstillbar brennende im Inneren der Gestalten und die von außen kommende, alles löschende, alles verätzende Illusions- und Gottlosigkeit – um es mal so zu sagen. Mit nichts sind diese jungen Leute zu beeindrucken – was daran liegt, dass sie durch die Bank noch nie beeindruckt worden sind.

Als Orientierungshilfe für suchende Jugendliche eignen sich die Geschichten sicher nicht. Wer in diesem Land in einem vergleichbaren Umfeld lebt, warum sollte der davon lesen, dass es in St.Petersburg nicht anders abgeht als in Hamburg?

Wir waren ja auch mal jung.
Aber doch nicht so!

Zurück zu „Rezensionen“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 42 Gäste