Christa Wolf – Ein Tag im Jahr

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solneman
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Christa Wolf – Ein Tag im Jahr

Beitragvon solneman » 02.02.2004, 02:36

Christa Wolf – Ein Tag im Jahr

Zu manchen guten Ideen muss ein Autor von außen gestoßen werden. Im Jahre 1960 erging von einer sowjetischen Zeitschrift der Aufruf an Schriftsteller des Ostblocks, an einem genau bezeichneten Tag, dem 27. September, möglichst umfassend die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle dieses Tages aufzuschreiben.

Christa Wolf, die damals mit ihrem Roman „Der geteilte Himmel“ einigen Erfolg verbuchen konnte, wurde ebenfalls aufgefordert, sich an dem – heute würde man sagen: Projekt – zu beteiligen. Sie ist dieser Aufforderung nachgekommen. Darüber hinaus hat sie diese Übung beibehalten – über 40 Jahre lang hat sie jeden 27.September zum Anlass genommen, innezuhalten und den Tag und ihr Leben zu reflektieren. Sie hatte nicht vor, dieses Konvolut zu veröffentlichen. Gut, dass sie es getan hat.

Es ist nämlich mehr dabei herausgekommen als bei Tagebüchern sonst üblich. Man erhält tiefe Einblicke in die Seele einer der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart, weiß am Ende einige über die Familie Wolf und ahnt etwas von der Arbeitsweise der Wolfschen Schreib-Werkstatt. Obwohl doch vieles, was sie (bis 1989) berichtet, nun wirklich nichts weiter ist als Schilderung eines „ganz normalen“ DDR-Alltages – ist kein Satz banal oder etwa peinlich im Sinne von: da besieht sich eine den eigenen Bauchnabel.

Spürbar, greifbar wird ein permanentes Ringen um das Wort in einem schwierigen Umfeld. Christa Wolf, zu DDR-Zeiten beiderseits der Mauer gleichermaßen anerkannt und gefragt, hat sie die bewusste Entscheidung, im Honecker-Staat zu bleiben, nicht leicht gemacht.

Bewundernswert, wie sie mit den Folgen der Wende klargekommen ist, wie sie es weggesteckt hat, nicht mehr als so bedeutend betrachtet zu werden wie vorher. Der Grund: Sie hat sich selbst offenbar nie so hoch eingeschätzt wie ihre Kritiker. Das mag in der Bescheidenheit liegen, mit der diese Autorin durch die Welt geht, mit wachen Augen, mit dem Blick für das Kleine und Schwache, mit ihrer Kunst, im Kleinen und Beiläufigen das Große, den Zusammenhang zu sehen und diesen nie aus den Augen zu verliegen.

Stets bliebt ihr Ton auf einer anspruchsvollen, angenehmen Höhe. Man hört durch das ganze Buch hindurch immer ihre Stimme, hat permanent diesen Klang im Ohr: immer etwas zögernd, fast ein bisschen spröde – aber immer sehr sicher und selbstbewusst. Zahlreiche sogar heitere Kabinettstückchen in Prosa gelingen ihr, etwa wenn sie mit ihrer Enkelin einkaufen geht oder wenn sie die näheren Umstände der Trauerfeierlichkeiten für Heinrich Böll schildert.

1 Tag im Jahr beschreiben – das langt, um ein ganzes langes Schriftstellerinnenleben vor sich zu sehen. Man hört Christa Wolf, dieser klugen und aufrichtigen Frau sehr gern zu, und ohne es recht zu merken, weiß man nach dem Ende der Lektüre der knapp 700 Seiten, warum: Sie hat etwas zu sagen. Und man bekommt Lust, sich wieder mit ihrem Werk zu beschäftigen.

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