Alexa Hennig von Lange: Woher ich komme

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solneman
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Alexa Hennig von Lange: Woher ich komme

Beitragvon solneman » 02.02.2004, 02:37

Alexa Hennig von Lange: Woher ich komme

Eine junge Frau fährt mit ihrem Vater nach vielen Jahren wieder einmal ans Meer und kommt ins Grübeln über ihre Familiengeschichte. Diese ist – wie Millionen andere Familiengeschichten auch – ganz normal, mit ganz normalen Geheimnissen und Schrecklichkeiten. Die wiederum so vielen Leuten passieren, dass sie schon gar nicht mehr geheim und/oder schrecklich wirken. Die Eltern verstanden sich eigentlich nicht und beharkten sich stumm, weil die Kinder es nicht mitkriegen sollen, und aus ungeklärter Ursache kamen die Mutter und der Bruder bei einer Wattwanderung ums Leben. Nur der Vater und die Tochter kehrten ans Land zurück.

Jede Familiengeschichte hat das Zeug zum Drama, die eine mehr, die andere weniger, die ein lauter, die andere leiser. Hennig von Lange erzählt so derart leise, dass man schon sehr genau zuhören muss, um wichtige, für das weitere Verständnis unverzichtbare Informationen mitzubekommen. Die predigt nicht zweimal! Und das ist ganz wunderbar. Sie beherrscht die anspruchsvolle Technik, eine Chronologie der Ereignisse als Häppchen aus der Gegenwart und der Vergangenheit zu mischen und sozusagen kreuzweise zu erzählen, mit den interessantesten Assoziationen an den jeweiligen Berührungspunkten. Und sehr, sehr knapp. Gelegentlich anstrengend ist dabei nur das allgegenwärtige Präsens. Das beleuchtet das Erzählte oft genug greller als nötig.

Aufgewogen wird das durch ständiges Mitdenken und Dazudenken von Zusammenhängen, die sich nur aus der äußerst sparsamen Strichführung ergeben. Jede andere Autorin hätte beispielsweise aus dem Klinikaufenthalt der magersüchtigen Heldin eine rührselige Schmonzette gemacht. Hier – so kommt es mir vor – kann das Mädchen bei DER Geschichte gar nicht anders, als krank zu werden an der Seele, und die Hinweise auf die Klinik und den Alltag dort kommen dezent, kalt und deutlich.

Alexa Hennig von Langes Stärke sind die Bilder aus der Sicht eines Kindes, die mich überzeugen. Sie widersteht der Versuchung, als Erwachsene in das Kind zu schlüpfen und es erzählen zu lassen. Sie bringt es fertig, etwas von der Angst des Mädchens, das allein am Strand steht und auf Vater, Mutter, Bruder wartet, zu vermitteln. Und von dem unaussprechlichen und niemals aussprechbaren Entsetzen, als ihr der Vater eröffnet, dass Mutter und Bruder nicht zurückkehren werden.

Woher sie kommt, das weiß ich noch immer nicht. Wohin sie aber will, das scheint „ganz oben“ zu sein.

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