Ingo Schulze: Simple Storys

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Joachim Stiller
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Ingo Schulze: Simple Storys

Beitragvon Joachim Stiller » 01.10.2013, 21:47

„Simple Storys“ von Ingo Schulze
Ingo Schulze hat das Unmögliche möglich gemacht, er schrieb den deutschen Roman zur Wiedervereinigung, ein echter Glücksfall für die Literatur.

Erzählt werden genau 29 kleine Geschichten, Episoden ganz unterschiedlicher Personen. Diese Geschichten spielen zumeist in der ostdeutschen Provinz, irgendwo zwischen Dresden und Plauen. Dabei wechselt Schulze immer wieder die Erzählperspektive; mal lässt er die Hauptdarsteller sprechen, und ein andermal erzählt Schulze aus seiner eigenen Perspektive, wie ein scheinbar unbeteiligter.

Die einzelnen Geschichten scheinen zunächst vollkommen beziehungslos und unverbunden neben einander zu stehen. Dies könnte als eine Parabel auf die auseinanderfallenden Beziehungen brüchiger Biographien der ehemaligen DDR-Bewohner verstanden werden. Dich im Laufe der Lektüre zeigt sich, dass Schulze die einzelnen Handlungsstränge wie Seidenfäden wieder aufnimmt, zusammenführt und miteinander verbindet, so dass es durchaus gerechtfertigt ist, hier nicht nur von einem Erzählwerk zu sprechen, sondern tatsächlich von einem Roman.

Ingo Schulze zeichnet seine Hauptdarsteller sehr präzise, die Geschichten sind voller Humor und Gefühl und glücklicher Weise ganz ohne jedes Pathos. Ja, der stellenweise beinahe kafkaestk-absurde Witz ist sogar außergewöhnlich fein und zurückhaltend, etwas, dass ich in ähnlicher Form nur noch bei Siegfried Lenz kennengelernt habe. Schulzes Humor rekrutiert sich einfach aus der fast erschreckenden Bescheidenheit und er notorischen Unerfahrenheit der Ehemaligen DDR-Bewohner. Ein kurzes Beispiel aus dem ersten Kapitel, dem vielleicht besten, möge dies belegen:

„Mich ärgerte, wie Ernst mit mir umging, sein Gezerre, ich wollte ein paar Schritte von ihm weg, als er mich am Arm packt: „Dem passiert nichts!“ zischt er. „Das ist Zeus. Komm!“ „Nein!“ entfuhr es mir. Diesen Namen hatte ich vor zehn, fünfzehn Jahren zum letzten Ma gehört. „Der Zeus?“ Gabriele drehte sich um. „Heißt er so, Zeus?“ Auf einmal sahen uns alle an. „Heißt er Zeus?“ „Der fällt da nicht runter“ sagt Ernst. „Zeus?“ fragte jemand laut. Und schon riefen alle: „Zeus, Zeus“, als sei endlich das Stichwort gefallen, ...“

Die einzelnen Kapitel des Romans sind mit kurzen Inhaltsangaben versehen. Diese Tatsache lässt uns an die alten Novellensammlungen denken. Auch andere Dadurch wird ebenfalls deutlich gemacht, dass die einzelnen Episoden in einen höheren und übergeordneten Handlungszusammenhang eingebettet sind. Dieser Zusammenhang ist in Schulzes Roman die Folie der deutschen Wiedervereinigung.

Ingo Schulze war für mich eine wirkliche Entdeckung, hatte ich mir die Lektüre doch jahrelang nur vorgenommen, nachdem Schulze die Feuerprobe im Literarischen Quartett bestanden hatte. Die Lektüre wirkt auch heute noch so frisch, wie am ersten Tag und man kann sich ge-wisser nostalgischer Gefühle kaum erwehren.

Gruß Joachim Stiller Münster

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