Zoran Drvenkar: Du bist zu schnell

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razorback
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Zoran Drvenkar: Du bist zu schnell

Beitragvon razorback » 11.03.2004, 23:03

Psychosen sind ja hier gerade in. Ein spannendes, intelligentes, erschreckendes, gut geschriebenes also rundum gelungenes Buch über die Türen, die Psychosen öffnen und die Abgründe, in die sie führen ist "Du bist zu schnell" von Zoran Drvenkar, erschienen 2003 bei Klett-Cotta.

Drvenkar galt bisher vor allem als Jugendbuch-Autor, hat aber selbst in einem Interview gesagt, dass das eigentlich eher Zufall ist. Er hat über seine Kindheit geschrieben, und da waren die Helden nun einmal zwangsläufig Kinder. Nun hat er, 1967 geboren, 1970 nach Deutschland gekommen, in „Du bist zu schnell“ über Leute in seinem (und auch meinem) Alter geschrieben. Was dabei herauskam hat die Schubladendenker in seinem bisherigen Verlag (Carlsen) offenbar verstört, bei Klett-Cotta aber gottlob Abnehmer gefunden. Dafür verzeihe ich denen fast (aber nur fast) die Krege-Übersetzung des HDR.

Zoran Drvenkar sieht zufällig aus wie der Bruder meines besten Freundes, deshalb habe ich vermutlich die Anzeige für sein Buch, die ich zufällig gesehen habe, überhaupt gelesen. Zwei für mich sehr glücklicher Zufälle also...

Inhalt:
Nur Valerie (Val) kann „die Schnellen“ sehen – Menschen, die sich schneller bewegen als wir, so schnell, dass sie unsichtbar sind. Sie sieht sie zum ersten Mal in einem psychotischen Zustand, der durch einen Drogencocktail verursacht wurde und bricht daraufhin zusammen. Sie wacht in der geschlossenen Abteilung einer Anstalt auf und öffnet von da an immer, wenn sie nicht unter Medikamenten steht unwillkürlich die Tür zur Psychose – und in die Welt der Schnellen. Die Schnellen jedoch wollen das nicht. Sie drohen Val einmal – und bringen dann jedesmal, wenn sie die Tür öffnet jemanden um, der ihr nahe steht, alles weist darauf hin, dass sie nicht nur in Vals Kopf existieren. Gemeinsam mit ihrem Freund Marek und Theo, dem Freund ihrer besten Freundin Jenni, versucht sie, dem Geheimnis der Schnellen auf den Grund zu gehen. Die Suche führt jeden der Drei letztlich – wie es im Klappentext heißt – "zu sich selbst", zum Ende des Vertrauens und in den Abgrund hinter der Tür.

Stil:
Drvenkar macht etwas, dass ich eigentlich nicht mag – er schreibt den Großteil der Geschichte im Präsens. Ich verzeihe es ihm gerne, denn er macht es sehr gut und durch die vielen Rückblenden, die er einstreut macht es Sinn. Wie oben erwähnt ist er ein Altersgenosse von mir, nur wenige Jahre älter, und ich finde er trifft den Stil und den Rhythmus unserer Generation sehr gut, viel besser als Generationenklischees Marke „Generation Golf“. Das Buch ist aus der Sicht dreier wechselnder Ich-Erzähler geschrieben, Val, Marek und Theo. Wie meisterhaft der Autor dieses Stilmittel beherrscht wird richtig klar zum Schluß. Dass er mindestens wirklich gut ist, wird aber schon sehr früh, während der gekonnten Wechsel und Überblendungen, klar. Es wäre zu einfach zu sagen, jede Figur erkläre sich selbst. Durch die drei Sichtweisen auf die jeweiligen Mitcharaktere und die Handlung setzt sich ein Mosaik zusammen, dass wunderbar stimmig komponiert ist. Die Geschichte ist auf diese Weise geradezu perfekt erzählt.

Kritik:
Ihr kennt mich – es geht nicht ohne. Der Schluss ist großartig, das letzte Kapitel in seiner Symbolik, seinem Grauen und seiner Traurigkeit mit das Beste, was ich seit langem gelesen habe. Der Weg zum Showdown, sofern man das so nennen kann, und der Showdown selbst wirken allerdings, verglichen mit dem Rest des Buches etwas zu künstlich, konstruiert und zu hastig. Ich will nicht falsch verstanden werden – ich messe diesen Teil an dem Rest des Buches. Für sich ist er gut und ein absolut gelungenes Stück Literatur. Aber in diesem beeindruckenden Buch der schwächste Part.
Ansonsten stört mich nur eine Marotte, vermutlich nicht des Autors, sondern des Verlages: Wörtliche Rede wird nicht durch Anführungszeichen, sondern Spiegelstriche kenntlich gemacht. Weiss der Geier wieso, es macht den Übergang zwischen wörtlicher Rede und Erzähltem oft schwer bemerkbar. Besonders in Dialogen stört das völlig unnötigerweise


+++ SPOILER +++ ACHTUNG SPOILER +++ SPOILER +++ ACHTUNG SPOILER

DIESEN TEIL ÜBERSPRINGEN, WENN IHR DAS BUCH LESEN WOLLT !!!









Bis kurz vor Schluss wird nicht klar, ob dies ein phantastischer Roman ist, oder nicht, ob es die Schnellen „wirklich“ gibt. Man könnte argumentieren, dass es auch zuletzt nicht ganz klar ist. Ich habe mich allerdings entschieden – dieses Buch ist einer der Beweise, dass die Realität viel schrecklicher sein kann, als übernatürlicher Horror, ja dass das Übernatürliche geradezu ein Trost wäre, wenn die Realität so grausig ist. Und ich bin, wie Ihr wisst, niemand, der phantastische Literatur, Horror, Gothic etc. verachtet, im Gegenteil. Ich war lange überzeugt, dass das hier ein sehr gut geschriebener Horror-Roman ist, ich habe an Vals Schnelle geglaubt – ebenso wie sie selbst und vor allem wie Theo, der an sie glauben möchte und daran zu Grunde geht. Nur Marek schafft es, klar zu bleiben, und muß dafür am Ende ebenfalls einen schlimmen Preis bezahlen. Es ist frappierend, wie es Drvenkar gelungen ist, mich (und sicher auch viele andere Leser) so in Vals Wahnsinn zu ziehen, dass ich trotz allen Zweifels und obwohl mir ihre Krankheit bis ins Detail erklärt wird, folge. Wie Theo wurde ich von der Psychose eingefangen und getäuscht. Ich weiss nicht, ob ich in Bezug auf Marek, den Val und Theo irgendwann für einen der Schnellen halten, auch so überzeugt gewesen wäre. Aber ich hätte sicherlich das selbe Ende genommen wie Theo, weil auch ich den Bezug zur Realität verloren hätte. Wie Drvenkar es schafft, die Psychose erst zur alternativen und dann zur gültigen Realität zu machen ist absolut meisterhaft.












++++++++ SPOILER ZU ENDE +++++++


Großartig, traurig, entsetzlich, fesselnd, ungewöhnlich, absolut lesenswert!
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Consider Phlebas, who was once handsome and tall as You

Silentium
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Re: Zoran Drvenkar: Du bist zu schnell

Beitragvon Silentium » 12.03.2004, 15:23

Hm, denke, ich werd mir das Buch zulegen, danke für den Tip!

Eines habe ich gerade gelesen, nicht genug für eine eigene Rezension, zumal es ein Sachbuch ist, aber doch interessant ,wo wir grad bei der Thematik sind:
"Ich denke, also bin ich tot" von Paul Broks. Der Mann ist Neurologe und beschreibt- durchaus kurzweilig- Fälle von Patienten, die nach einem Schlaganfall, einer Krankheit oder einem Unfall einen Gehirnschaden hatten und teilweise recht sonderbare Störungen aufwiesen: eine Frau, die zwanzig Jahre einfach vergessen hat und mit erinnerungen an die Siebziger in den Meunzigern aufgewacht ist, ein Mann, der fixen überzeugung, dass in seinem Kopf eine Forelle wohnt, einer, der bei gar keine Emotionen mehr kennt und als Gegenstück einer, der vom kleinsten Erlebniss restlos begeistert sein kann, einen wahren Taumel der Gefühle durchlebt und eine Fünfminutenbekanntschaft am liebsten küssen würde.
Beschreibt auch recht interessant Methoden von Gehirnscans und Operationsmethoden.
Als Hintergrundlektüre recht gut geeignet, wenn auch mit ein paar philosophieschen Einschüben über die Seele, die der Author sich hätte sparen können.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon


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