Lermontow: Ein Held unserer Zeit

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Metägo
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Lermontow: Ein Held unserer Zeit

Beitragvon Metägo » 07.05.2004, 11:42

Ich möchte ein von der lesenden Öffentlichkeit größtenteils ignoriertes Werk vorstellen, das durchaus der Weltliteratur zuzurechnen ist; dem dieser Status jedoch versagt wurde, weil es das, soweit mir bekannt, einzige Prosa-Werk des Autors Michail Lermontow ist, der bereits mit 26 Jahren (1841 im Duell) starb. Sein Oevre umfasst Dramen, Verserzählungen und - zum größten Teil - Gedichte.
"Ein Held unserer Zeit", erstmals erschienen 1840, erzählt die Geschichte des des Lebens überdrüssigen Offiziers Petschorin.
Das Buch ist unterteilt in fünf Kapitel, von denen jedes gleichsam eine eigene Novelle anmutet.
Zunächst wird aus der Perspektive eines für die Geschichte unbedeutenden Erzählers berichtet. Dieser, in ungewissen Angelegenheiten reisend, macht Bekanntschaft mit einem ebenfalls Reisenden, der bald beginnt, die Geschichte jenes ominösen Helden, Petschorin, zu erzählen. Es stellt sich heraus, dass er die Tagebuchaufzeichnungen Petschorins mit sich führt, die dieser ihm seinerzeit überließ.
Nach einem zufälligen Zusammentreffen auf einer Poststation mit Petschorin - die zwei Reisenden sind auf der Poststation ebenso zufällig wieder zusammengetroffen -, überlässt der durch die ihm entgegengebrachte Kühle zu tiefst enttäuschte Alte dem Ich-Erzähler die Tagebuchaufzeichnungen Petschorins.
Als der Erzähler vom Tode Petschorins erfährt, sieht er sich verpflichtet, die Tagebuchaufzeichnungen zu veröffentlichen. Die Erzählung beginnt.

Petschorin - ausgestattet mit feinsten intellektuellen Anlagen und ebenso anziehendem Äußeren -, präsentiert sich als müde und gelangweilt vom Leben.
Er repräsentiert unter dem ironischen Titel "Ein HELD unserer Zeit" eben dessen Gegenteil, den nutzlosen und destruktiv wirkenden Menschen, der - Dostojewskij antizipierend -, des Menschen Affinität zum Bösen veranschaulicht.
Das gesamte Romanpersonal, mit Ausnahme eines ihm vertrauten und angenehmen Arztes, dient der Hauptfigur als Spielball seiner Leidenschaften oder weniger noch, der Abhilfe seiner Langeweile. Seine Beziehung zu Werner, dem Arzt, schildert er folgendermaßen:
Wir beide verstanden einander bald und wurden gute Kameraden, denn zur wahren Freundschaft tauge ich nicht; von zwei wahren Freunden ist immer einer der Sklave des andern, obwohl häufig keiner von beiden sich das eingestehen will; Sklave kann ich nicht sein, befehlen wäre aber in diesem Falle eine beschwerlich Mühe, denn gleichzeitig müßte man wohl auch betrügen, und außerdem - ich habe sowohl Bediente als auch Geld!

Bemerkenswerter- und höchst erstaunlicherweise ist - anders als nach einer solchen Inhaltsangabe zu erwarten - die Wirkung des Protagonisten auf den Leser, während und nach der Lektüre, keine abschreckende, sondern eine Sympathie evozierende.
Petschorin, der Frauenherzen bricht und Menschen lediglich als Mittel zum (eigenen) Zweck "gebraucht", entschuldigt gleichzeitig sein Verhalten durch die für ihn unverstanden bleibende Seelenlage, in der er gefangen ist.
Der "Held unserer Zeit" ist nicht etwa eine Ausgeburt des Bösen, sondern er zeigt in seiner zeitweise ambivalenten Charakterstruktur ebenso ehrenwerte Regungen wie tief empfundene Liebe, nachdem eine ehemalige Geliebte ihm einen Abschiedsbrief geschrieben hat, der ihm offenbart, dass jene Frau seinen Charakter erschlossen hat und ihn dennoch liebt;
sein höchst ehrenvolles Verhalten bei einem Duell, welches er selbst noch versucht abzuwenden und - sich dessen bewusst, in einer List gefangen zu sein - letztendlich durchsteht- und tötet.

Vielleicht ist dieses Sittengemälde auch so faszinierend, weil der Held die Gabe der gesellschaftlichen Ausleuchtung besitzt;
eine mephistophelisch oder Oscar Matzerath anmutende Lakonik und Analysefähigkeit, die ihn jederzeit als Aktiven, niemals als passiv Leidenden erscheinen lassen (spinnt Intrigen, durchschaut menschliche Seelenzustände, entdeckt gegen ihn geplante Listen).
Ein möglicher Grund für die Sympathie, die man Petschorin einfach nicht versagen kann, scheint hier besonders die Sprache zu sein, in der Lermontow ihn schreiben und reflektieren lässt; dichterisch und gleichsam fließend wirkt dieses gewaltige Werk auf den Leser. Es ist schwer zu beschreiben, wie Lermontow die Sprache einsetzt - es würde mich nicht verwundern, wenn sich eine Metrik auffinden ließe - das Attribut, was ihr am ehesten entspräche, wäre "ästhetisch" oder "schön", was sicherlich zur Wirkung der Hauptfigur auf den Leser beiträgt.
Dass dieser Mann einer der großen Russen geworden wäre, daran besteht kein Zweifel.
Wen Dostojewskij begeistert und wer der russischen Literatur ein wenig zugetan ist, muss den "Held unserer Zeit" lesen.


Ich würde mich sehr über Resonanz freuen; auch über Kritik, sofern das Werk bereits bekannt ist.
Wo fass ich dich, unendliche Natur? Goethe, "Faust"

nihil00
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Re: Lermontow: Ein Held unserer Zeit

Beitragvon nihil00 » 19.06.2004, 12:07

Ich habe dieses Werk auch erst vor kurzem gelesen. Anfangs war ich ein wenig enttäuscht (so die ca. ersten 100 Seiten), weil ich mir nach dem etwas hochtrabenden Vorwort doch mehr versprochen hatte - "der Held unserer Zeit ist ein Porträt, das aus den Lastern unseres ganzen Geschlechts in ihrer vollen Entfaltung zusammengestellt ist...". Nun kann ich mich leider nicht an alle Einzelheiten erinnern, aber alles in allem ist "Ein Held unserer Zeit" ein durchaus empfehlenswertes Büchlein. Hängengeblieben sind bei mir besonders die beinahe surrealistisch wirkenden Szenen in Petersburg und natürlich das Duell in seiner ganzen Dramatik.


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