Routinierte Beklemmung

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Hamburger
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Routinierte Beklemmung

Beitragvon Hamburger » 20.07.2004, 00:26

Rezensiertes Buch: Schöne neue Welt

Autor: Aldous Huxley

verfasst: 1932


Im Jahre 632 nach Ford leben die Menschen ein einheitliches und beständiges Leben. Das Leiden wurde abgeschafft, jegliche Leidenschaft die über genormtes Glück hinausgeht gleich mit, und wird ein Gesellschaftsmitglied doch einmal nachdenklich oder von irgendwelchen trüben Gedanken heimgesucht, so hilft das Rauschmittel Soma.
Kinder werden nicht mehr geboren, sondern staatlicherseits gezüchtet. Ihnen wird sogleich nach ihrer Entkorkung aus der Flasche ihr Platz in der Gesellschaft (Alpha, Beta, Delta, Epsilon, Gamma usw.) zugewiesen. Durch verschiedene Konditionierungsmaßnahmen kommen sie nicht auf die Idee sich zu widersetzen und erfüllen ihre Aufgabe als Rädchen im großen Weltsystem.
Die Globalisierung ist, wie wir es aus heutiger Sicht sagen würden, zur Perfektion getrieben: Es gibt eine Weltkultur, eine Weltregierung und somit letztlich eine Weltgesellschaft.

Nun braucht es eigentlich nur noch ein -Mitglied eines kleinen "gallischen Dorfes", der diese Welt aus seiner Perspektive in Frage stellt und zur Identifikation taugt, sowie gut besetzte Nebenrollen. Schon sollten (mindestens) ein paar Stunden Beklemmung garantiert sein.

Als die eigentliche Handlung beginnt sieht es aus, als sei Sigmund Marx dieser Typ. Ein Alpha-Plus, Psychologe von Beruf, systemkritisch eingestellt, Außenseiter unter den Kollegen und Zielscheibe von Gerüchten und Spott wegen seines kleinen Wuchses. (Alphas zeichnen sich u.a. durch eine bestimmte Körpergröße gegenüber den kleineren niederen Schichten aus)
Sigmund Marx begehrt Lenina, die an der Herstellung der Kinder mitwirkt und ihnen bestimmte Flüssigkeiten spritzt. Lenina fühlt sich zu ihm hingezogen, allerdings ist es in dieser Gesellschaft üblich dass jeder seines "Nächsten Eigentum" ist. Sie will ihn nur für ein paar Wochen und dann wieder den Nächsten, was sie aufgrund ihrer Normung für völlig natürlich
hält.
Dennoch unternehmen die Beiden einiges zusammen, wenngleich Sigmunds Versuche sie auf die Unmenschlichkeit dieser steril-mittelmäßigen Welt hinzuweisen nicht fruchten. Lenina entpuppt sich mehr und mehr als genormtes Püppchen.
Sigmunds Charakter jedoch entwickelt sich und wird mehrfach gebrochen. Dies ist einer der interessantesten Aspekte des Buches. So kämpft er mit Selbstzweifeln, wünscht sich eine Heimsuchung um dagegen angehen zu können und als diese dann kommt und ihm die Versetzung auf eine Außenstelle (Island) droht klammert er sich doch an seine Existenz, da er letztlich nicht den Mut hat sich allein aufzulehnen.
Ein ungewöhnlicher Zufall gibt ihm jedoch die Möglichkeit einen Wilden (eigentliche Hauptfigur) samt Mutter aus der Reservation (ein abgegrenzter Bereich in den USA, in dem noch Indianer nach ihren herkömmlichen Riten und Traditionen leben) in seine Heimat- Gesellschaft einzuführen, was ihn für kurze Zeit zum Star macht. Nun hat er an der gesellschaftlichen Ordnung nichts mehr auszusetzen,nun, da sie ihn aufs Podest hievt.
Doch der Wilde lässt nicht lang ein Exempel an sich statuieren und verweigert sich den Gaffern um ihn herum, die nur über Sigmund an ihn herankommen, immer mehr...

Ich hab wahrscheinlich schon zuviel verraten, aber das Spannendste an diesem Buch sind tatsächlich nur die ersten zwei Kapitel. Die späte Einführung der eigentlichen Hauptfigur mag man als Kunstgriff gelten lassen, allein kann man sich mit diesem ebensowenig identifizieren wie mit Sigmund. Ist bei Sigmund der Charakter jedoch noch durchaus ambivalent und interessant gebrochen, so ist der Wilde einfach zu pathetisch und zu religiös um wirklich fesseln zu können. Mit seiner Einführung geht dem Buch der letzte Rest Feinfühligkeit verloren. Alles, was der Leser selbst hätte erfühlen können, wird in den Dialogen samt und sonders ausgesprochen. Seitenweise wird Shakespeare, den der Wilde im Reservat las, zitiert und die Worte des großen Meisters kommen ihm wie Hohn vor, vor allem die Stelle "Schöne neue Welt, die diese Bürger trägt...".
Aber nicht einmal, sondern mindestens viermal! Da wo Huxley gefragt gewesen wäre zu schweigen, auf Pathos und Gesten zu verzichten um dem Leser sein eigenes Kopfkino zu gestatten, da drückt er hemmungslos auf den Alarmknopf, damit der Leser wieder und wieder erfährt, wie schrecklich die Vorstellung einer solchen Welt wäre. Besonders übel sind hier die ganz und gar lachhaft wirkenden Selbstgeißelungsszenen des Wilden.

Letztlich bleibt also nur - aufgrund einzelner guter Szenen - routinierte Beklemmung für den Leser übrig. Zu wenig, wenn man die hervorragende Grundidee des Buches bedenkt.

Liebe Grüße,

Hamburger
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