Das Problem mit der Induktion

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
gelbsucht
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Das Problem mit der Induktion

Beitragvon gelbsucht » 02.10.2002, 02:09

Das Problem mit der Induktion
oder: Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war

1.

Heute ist ein Tag wie jeder andere.

Mein Büro, mein Schreibtisch, meine Akten:
hier bin ich sicher.

Ich werde nicht aus dem Fenster springen.

Dieses Gebäude wird nicht innerhalb
der nächsten drei Stunden einstürzen.

(Es schwankt nur ein wenig im Wind,
das ist normal.)

Niemand ist so verrückt und macht
eine Ausbildung zum Piloten
und lernt nicht wie man landet.


2.

"Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war."

"Wir werden das Böse
in den kommenden Jahren
in der ganzen Welt bekämpfen,
und wir werden siegen." (1)

Hiroshima war notwendig.
Aus Vietnam haben wir gelernt.

"Wir vollstrecken den Willen der freien Welt." (2)
Der Preis für ein Barrel Öl bleibt stabil.

Der CIA wird zukünftig keine
exogenen Gruppen mehr ausbilden,
finanziell unterstützen oder mit
Waffen und Virenstämmen beliefern.

"Das ist der Kampf der Welt.
Das ist der Kampf der Zivilisation." (3)

"Und wir wissen, daß Gott nicht neutral ist." (4)

______________________
(1) US-Präsident Bush am 21.11.2001 vor Soldaten und ihren Angehörigen in Fort Campbell, Kentucky
(2) Aus der Fernseh-Ansprache von US-Präsident George W. Bush, Washington, Sonntag, 07.10.2001
(3) Aus der Rede von US-Präsident George W. Bush, vor dem US-Kongress, Washington, 20.09.2001
(4) Rede von US-Präsident George W. Bush, vor dem US-Kongress, Washington D.C., Capitol, 20.09.2001
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Spiderman
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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon Spiderman » 11.10.2002, 15:06

Hi gelbsucht,

zu Teil 1 Deines Gedichtes sage ich Ja, zu Teil 2 Nein.

Zu Teil 1: Du stellst trotzig fest, dass sich seit dem 11.9.01 nichts geändert hat. Dabei wird eine Ambivalenz deutlich: einerseits verläuft das Leben wirklich so wie immer, andererseits - allein weil Du mögliche Bedrohungen in der Verneinung erwähnst - hat es etwas von Autosuggestion, einer eingeredeten Sicherheit. Durch die selbstsicheren Zeilen scheint Verunsicherung durch. Deshalb gefällt es mir.

Zu Teil 2: da finde ich, machst Du es Dir zu einfach. Inhaltlich sind wir, was George W. angeht, einer Meinung. Aber mit der Aneinanderreihung der Zitate entsteht für mich kein poetischer Mehrwert. Du wiederholst damit die gängige Kritik an der amerikanischen Regierung, ohne dem eine eigene Perspektive hinzuzufügen. Für ein gutes politisches Gedicht müßtest Du es schon schaffen, dass ich die Dinge von einer neuen Perspektive aus betrachten kann. Problematisch ist auch, dass die nicht zitierten Zeilen in etwas denen von Bush entsprechen. Es sind weder echte Überspitzungen, noch Kontrapunkte, sondern - tja - ich weiß irgendwie nicht so recht was.

Gruß

Spider
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon SteffiWagener » 11.10.2002, 23:22

Aber hat sich wirklich nichts geändert?

Nein, Poetisch kann ich es nicht nennen, aber als Untertitel für einen kleinen Film.
Und schon sind die Zitate Poesie.
Wenn ich mir das so vorstelle: Einstellungen bzw. Szenen und Untertitel, natürlich in gelb, wie es sich für "arte" gehört.
Die Kameraeinstellungen dürfen natürlich nichts mit dem Text zu tun haben, entgegengesetzte Bilder zu den Zitaten.
Und, um es noch grausamer zu machen, in den Einstellungen für ein oder zwei Bilder, gerade so, das es das Unterbewußtsein aufnehmen kann, ein netter Atompilz über dem Land der Western Shoschone.

(Sorry, ich bin etwas sarkastisch)

Viele Grüße

Steffi
HoHoHo

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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon razorback » 13.10.2002, 03:22

Hmmm... 11.Septemberlyrik...

Ich gehe mit Spider konform in der Bewertung der beiden Teile. Teil 1 gefällt mir gut, eben weil er so undramatisch und realistisch ist. Natürlich ist er auch ein wenig zynisch, aber gerade deshalb umso realistischer und angemessener.

Teil 2 gefällt mir nicht, aber aus anderen Gründen. Grundsätzlich, finde ich, ist gegen die Form der Collage im politischen Gedicht nichts einzuwenden. Aber doch bitte nicht mit Zitaten von George W. Bush. Das meine ich nicht polemisch - Bushs Versuche, seine Mitwelt zu manipulieren sind derart plump, dass man ihm schon fast wieder Offenheit zubilligen kann.

Abgesehen davon gibst Du dem "nichts wird mehr sein, wie es vorher war" eine Bedeutung, die es in diesem Zusammenhang nie hatte, im Gegenteil, und misst dann Bush an dieser von Dir hineininterpretierten Gegensätzlichkeit. Damit öffnest Du ihm (George Dabbeljuh, falls er sich mal in dieses Forum verirren sollte) sogar ein argumentatives Schlupfloch - indem Du von seinen Reden und Taten ablenkst und die Aufmerksasmkeit auf Deine mutwillige Fehlinterpretation ziehst.

Drücke ich mich noch verständlich aus? Wenn nicht, verzeiht, es ist spät...
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gelbsucht
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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon gelbsucht » 18.10.2002, 20:30

Hallo Spinnenmann, Hallo Steffi, Hallo RZB!

Leider ist wohl nicht deutlich geworden, worum es mir eigentlich in dem Gedicht ging. :-| Zumindest hat keiner von Euch es ausgesprochen - ich rechne mir das an. Wahrscheinlich liegt es an der Dominanz der letzten Strophe, obwohl ich betonen muss, dass es mir eigentlich nicht um den politisch-kritischen Aspekt ging. Ich muss nochmal drüber nachdenken, ob sich das Ganze noch retten läßt ... wie immer bin ich selbst mein größter Kritiker.

Wahrscheinlich ist eher, dass ich mal den "poetischen Mehrwert" thematisiere. Ich habe Karl Marx und einige andere Ökonomen gelesen und auch einige "Verslehren", aber der p.M. ist mir noch nicht untergekommen.

Du wiederholst damit die gängige Kritik an der amerikanischen Regierung, ohne dem eine eigene Perspektive hinzuzufügen. Für ein gutes politisches Gedicht müßtest Du es schon schaffen, dass ich die Dinge von einer neuen Perspektive aus betrachten kann."
Soll ich noch was dazu sagen: also, wie gesagt, eigentlich soll es kein politisches Gedicht sein, andererseits existiert tatsächlich eine eigene Perspektive, die aber offensichtlich in der Dominanz der politischen Rhetorik untergegangen ist. Der Grund ist aber sehr banal: nämlich, dass das Problem, was ich hier behandle, eigentlich ein philosophisches ist. So hat dieses Gedicht auch nichts mit Autosuggestion oder Zynismus zu tun. Es geht darum, wie sich Aussagen & Prognosen überhaupt durch Beobachtung rechtfertigen lassen ... dabei besteht zwischen Strophe eins und Strophe zwei ein großer Spagatt, aber im Prinzip geht es um den selben Aspekt. Wir denken eigentlich über viele Dinge nicht nach, wie vertrauen auf unsere bisherig gemachten Erfahrungen, aber das ist nur Gewohnheit und ein kein Garant, dass die Naturgesetze auch morgen noch gelten. Woher wissen wir, dass morgen nicht alles anders ist, dass morgen die Sonne aufgeht, wie jeden Tag zuvor, dass die festen Häuser aus Stein, in denen wir schlafen, noch stehen werden? Woher wissen wir, dass morgen noch alle Naturgesetze gelten (frag das mal einen Physiker!) ... in der zweiten Strophe geht es dann um andere Arten von Sätze. Es ist quasi das Strampeln eines Kindes, dass die benannten Probleme (aus Strophe eins) nicht wahrhaben will, dass sich einreden will, es gäbe soetwas wie "Sicherheit, Verlässlichkeit und Kontinuität". Am Ende berufen wir uns auf Gott, wenn uns die Argumente ausgehen.

Tja, Razorback, deinen Beitrag hab ich tatsächlich nicht verstanden:
Abgesehen davon gibst Du dem "nichts wird mehr sein, wie es vorher war" eine Bedeutung, die es in diesem Zusammenhang nie hatte
Ja, gebe ich, aber bestimmt nicht den, den du gemeint hast. Siehe oben.

Diesmal habt ihr wohl alle daneben gelegen. Mein Fehler!

gelbe grüsse
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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon razorback » 20.10.2002, 02:46

Hmmmm... ob es weise ist, wieder nach 0.00 Uhr zu posten? Mal sehen...


Ich denke, gelbsucht, der Fehler liegt auf beiden Seiten, mit einem leichten Übergewicht bei Dir - Dir hätte klar sein müssen, dass so konkrete politische Bezüge von einem allgemeinen sprach- oder erkenntnistheoretischen Thema ablenken. Andererseits denke ich - zumindest bei mir ist es so - dass es gewisse Reflexe auslöst, wenn man Worte wie CIA und Vietnam liest. Von diesen Reflexen sollte man sich allerdings auch mal lösen können.

Misslungen ist Dir das Gedicht eigentlich nur, wenn Du es in eine bestimmte, feste Richtung gedeutet haben möchtest. Das allerdings hätte ich bei Dir gar nicht vermutet...

Woher wissen wir, dass morgen nicht alles anders ist, dass morgen die Sonne aufgeht, wie jeden Tag zuvor, dass die festen Häuser aus Stein, in denen wir schlafen, noch stehen werden?


Tja - wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, ob sie heute da stehen... ;-)

Falls Dich das tröstet - ich habe einen ganzen Roman darüber geschrieben, den, glaube ich, von den sechs Leuten die ihn bisher ganz gelesen haben, niemand so verstanden hat. Und ich spreche hier von Leuten, die mir (mit einer Ausnahme) sehr nahe stehen und mich gut kennen und (ausnahmslos) intelligent und belesen sind. Auch philosophisch belesen. Ginge es mir jetzt darum, verstanden zu werden, müsste ich den Roman für gescheitert erklären. Aber da es nicht um mich geht, sondern um die Geschichte... soll sie jeder so verstehen, wie sie oder er möchte. Hauptsache, sie ist lesenwert.

Wie ist das mit Deinen Gedichten? Schreibst Du sie, um verstanden zu werden? (Keine rethorische Frage).
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Re: Das Problem mit der Induktion

Beitragvon gelbsucht » 20.10.2002, 03:00

Guten Morgen Razorback!

Eigentlich schreibe ich z.Z. mehr für mich selbst, mehr zur Übung, mehr, weil es mir Spaß macht. Weiß nicht genau, habe noch nicht intensiv darüber nachgedacht. Ich glaube, schreiben, um verstanden zu werden, da wird man verrückt. Wohin sich die hermeneutische Interpretationsspirale dreht, hat noch kein Autor voraussehen können. Aus der Ecke gesehen, macht es wohl nur Sinn, zu schreiben, um zu unterhalten. *es ist spät* Verstanden werden ist quasi ein anspruchsvollerer Sinn - sagen wir, ich möchte ungern mißverstanden werden. A meinen und in den Köpfen der Leser Nicht-A erzeugen. Das wäre übel. Und bei Gedichten, wie dem hier, geht es wohl tatsächlich ums Verstanden-Werden. Schließlich sollte ich schon fähig sein, so ein Thema zu vermitteln, schließlich studiere ich Philosophie. Aber ich geb noch nicht auf - es war die erste Version des Gedichtes und ich weiß ja jetzt, wo die Schwächen liegen und wahrscheinlich war der zweite Teil des Gedichtes wirklich politisch überlastet - bei George DoppeldeckerJU Bush besteht die Verlockung ja immer, zu polarisieren. Ich werde mich der "Idee" die ich beim Schreiben dieses Gedichtes hatte, noch einmal annehmen - denn ich denke, meine philosophische Perspektive der Geschehnisse des 11. Semptembers und der Folgen dieses Tages ist es durchaus wert, dass ich noch etwas Arbeit darin investiere.

gelbe grüsse
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