Die Verbannung

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Hamburger
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Die Verbannung

Beitragvon Hamburger » 17.11.2002, 03:12

Die Verbannung

Das Nichts ist im Kern ganz sicher versteckt
Dort gibt`s weder Tage noch Nächte
Niemand hat je seinen Kern entdeckt
und die alten, verroteten Schächte

Das Nichts sprach eindringlich, präzise und klar:
"Dein Leben lang bleibe ich bei dir
Egal was noch kommt und egal was schon war
Ich bin und du gehst den Weg mit mir!"

Das Nichts wurde bald sein letztes Wissen
Dort endeten alle Gedanken
Doch wollte er nicht länger das Leben missen
und wies es beherzt in die Schranken

Er fühlte sich endlich bereit und befreit
Befreit von zersetzender Basis
Bereit für utopische Herrlichkeit
und die wohlverdiente Katharsis

Er hatte das Nichts in den Kern verbannt
Doch endeten nie seine Leiden
Mit der Zeit kam die Reife und er hat erkannt:
Das Nichts und die Leiden, die bleiben

Das Nichts ist im Kern ganz sicher versteckt
Er hat sich perfekt geblendet
Niemand hat je seinen Kern entdeckt
und das leidige Spiel beendet
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

gelbsucht
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Re: Die Verbannung

Beitragvon gelbsucht » 20.11.2002, 00:52

Hallo Hamburger!

Ich denke seit zwei Tagen über dieses Gedicht nach, aber ich bekomme nicht wirklich einen Zugang dazu. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist das Gedicht sehr allgemein ("Das Nichts", "Kern", "Leben", "utopische Herrlichkeit", "Leiden", "Reife" usw.). Zum anderen scheint aber dennoch ein konkreter Personenbezug vorhanden zu sein ("seinen Kern", "Er fühlte sich ..."). Ich sehe ein Person vor mir, die
a.) männlichen Geschlechts ist,
b.) mit Sicherheit etwas älter sein wird ("Mit der zeit kam die Reife ..."),
c.) in irgendeiner Art und Weise philosophisch vorgebildet ist.
Beim letzten Punkt wiederum bin ich mir nicht ganz sicher, denn das "Nichts" wird hier kaum in einem ontologischen, sondern eher in einem existentialistischem Sinn verwendet. Bei diesem Wort und seiner Bedeutung im Kontext des Gedichtes, versagt dann schon mein Versuch einer Interpretation. "Das Nichts" ist hier der Schlüssel.

Es ist ein Psychogramm. Okay. Soviel kann ich sagen ... ach, gehen wir am besten einmal die einzelnen Strophen durch:
Das Nichts ist im Kern ganz sicher versteckt
Dort gibt`s weder Tage noch Nächte
Niemand hat je seinen Kern entdeckt
und die alten, verroteten Schächte

Zuerst: es könnte "verrosteten Schächte" heißen, aber wahrscheinlich sind eher die "verrotteten Schächte" gemeint.

Also nie hat jemand seinen Kern und das verrottete Innere entdeckt - also hier ist jemand, der tief im "Kern seiner Persönlichkeit" immer verborgen geblieben ist? Allein diesen Gedanken finde ich schon etwas zu simple für ein Gedicht. Das ist Volkspsychologie. Aber was soll das mit dem Nichts? Eine große Leere? Eine Depression? Eine Schatten auf dem Gemüt? Keine Ahnung, wie ich es deuten soll.
Das Nichts sprach eindringlich, präzise und klar:
"Dein Leben lang bleibe ich bei dir
Egal was noch kommt und egal was schon war
Ich bin und du gehst den Weg mit mir!"
Das Nichts behauptet es sei. Das ist ziemlich paradox (spricht also gegen jede philosophische Deutung). Und es spricht. Diese Personifizierung des Nichts finde ich wieder recht simple, um nicht zu sagen: flach. Psychologisch bedeutet es: was immer der Mann im Inneren ausbrütet, welcher Schatten ihn bedroht - er wird ihn nicht los.
Das Nichts wurde bald sein letztes Wissen
Dort endeten alle Gedanken
Doch wollte er nicht länger das Leben missen
und wies es beherzt in die Schranken
Der Konflikt verschärft sich. "Er" hat ein Bewußtsein von diesem "Nichts" und geht dagegen an. Sprachlich eine sehr schöne Strophe, abgesehen von dem "doch wollte er nicht länger das Leben missen". Das Leben missen. Das ist keine schöne Zeile.
Er fühlte sich endlich bereit und befreit
Befreit von zersetzender Basis
Bereit für utopische Herrlichkeit
und die wohlverdiente Katharsis
Der Selbstbetrug, der vermeintliche Sieg. Das vermeintliche Ende des Schattens, des Pessimimus, des Nihilismus? Anstatt alles zu verneinen, ensteht Idealimus. Für etwas sein, anstatt alles immerzu zu negieren.
Er hatte das Nichts in den Kern verbannt
Doch endeten nie seine Leiden
Mit der Zeit kam die Reife und er hat erkannt:
Das Nichts und die Leiden, die bleiben
Die Ent-Täuschung, die Erkenntnis des Selbstbetruges. "Das Nichts" lässt sich nicht besiegen. In dieser Strophe wird "das Nichts" auch erstmalig mit "Leiden" identifiziert. Kritik: die erste Zeile ist relativ sinnlos, da bereits in der ersten Strophe "das Nichts" als "im Kern versteckt" vorgestellt wurde (und in der Zwischenzeit dort nicht abhanden gekommen ist, auch wenn sich der Gute das einreden wollte).
Das Nichts ist im Kern ganz sicher versteckt
Er hat sich perfekt geblendet
Niemand hat je seinen Kern entdeckt
und das leidige Spiel beendet
Diese Strophe verstehe ich nicht. Sie scheint mir überflüssig und sie führt auch die vorhergehende Story nicht weiter. Während noch in der vorletzten Strophe von einer Erkenntnis und Aufklärung die Rede ist, wird hier wieder "Verstecken" gespielt, wird "geblendet" und das "leidige Spiel" nicht beendet. Das ist seltsam. Hier besteht zwischen Strophe fünf und sechs anscheinend ein gewaltiger Gedankensprung, nämlich: eine Verkehrung ins Gegenteil.

Ein ambitioniertes Gedicht. Sowohl mit formalen und inhaltlichen Schwächen. Aber ich hab auch Probleme, es zu verstehen. Vor allem sprachlich gefällt es mir stellenweise ziemlich gut: einfache Sprache und viel Raum zum Interpretieren. Jedoch finde ich das Gedicht insgesamt sehr allgemein. Nach meinem Geschmack wird hier "der andere" auch viel zu stark bewertet, in viel zu grobschlächtige Kategorien gepresst - es wird psychologisch viel zu allgemein spekuliert. Hier behauptet jemand, das Wesen bzw. die Leiden eines anderen durchschaut zu haben und doch ist das Ganze sehr oberflächlich geraten, unpersönlich, voreilig generalisierend. Hier fehlen mir Eigenheiten und feinere Beobachtungen (besonders, da es sich um ein Psychogramm, eine Charakterisierung handelt).

:-) gelbe grüsse ;-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Hamburger
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Re: Die Verbannung

Beitragvon Hamburger » 24.11.2002, 01:02

Hallo Dirk!

Danke für deine Kritik und deinen Interpretationsversuch (der in die richtige Richtung geht und bis auf wenige Ausnahmen sehr gut ist). Zu einigen Punkten möchte ich etwas sagen.

1) Es soll in der Tat "verrotteten" heißen.

2)
Also nie hat jemand seinen Kern und das verrottete Innere entdeckt - also hier ist jemand, der tief im "Kern seiner Persönlichkeit" immer verborgen geblieben ist?


Ich würde es anders ausdrücken: Hier ist jemand, der vieles, was ihn bewegt, verdrängt hat, es ganz tief in sich verschlossen hat, in seinen Kern eben.

3) Was das "Nichts" soll möchte ich nicht auflösen. Es findet sich eine direkte, zugegebenermaßen kleine, Anspielung im Gedicht selber. Ausserdem soll auch ein wenig Raum zum Interpretieren bleiben.

4) Die Personifizierung des Nichts ist flach. Stimmt, dies ist eine der schwächeren Strophen

5) Die letzte Strophe ist nicht sinnlos. Hier spielt insbesondere die Zeitform (nun wieder Gegenwart wie in Strophe 1 eine entscheidene Rolle)

6)
Hier behauptet jemand, das Wesen bzw. die Leiden eines anderen durchschaut zu haben und doch ist das Ganze sehr oberflächlich geraten, unpersönlich, voreilig generalisierend. Hier fehlen mir Eigenheiten und feinere Beobachtungen (besonders, da es sich um ein Psychogramm, eine Charakterisierung handelt).


Dieser Kritik stimme ich zu. In diesem Kontext muss auch gesagt werden, das es gerade wegen dieser Schwächen so schwer fällt zu verstehen, was ich mit dem "Nichts" gemeint habe. Es lässt sich, neben der direkten Anspielung, nicht so deutlich aus dem Kontext schliessen wie es hätte sein müssen. Ich muss also noch üben, aber es hat Spass gemacht und das Ergebnis ermutigt mich, mich demnächst wieder mal in Sachen Lyrik zu versuchen.

Liebe Grüsse,

Hamburger
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