The Wall

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Hamburger
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The Wall

Beitragvon Hamburger » 19.01.2003, 20:44

Die Mauer

Du hast einen Schutzwall errichtet, den niemand je wieder durchbricht.
Es wächst schon Efeu und allerlei Unkraut an den Wänden hoch.

Du fürchtest, dass jemand dein Inneres erblickt und redest dir ein: Es ist sinnvoll.
Du bist eine Verdrängungskünstlerin.

Du wirst nicht erwachsen.
Dich bestaunen die Kinder als Eine der Ihren.
Alle schützen dich, aber du sprichst zu leise um mehr als Schutz zu erlangen.
Du bist naiv.
Du glaubst an die Wirkung von 100 unnötigen Schlössern vor einem schmiedeeisernen Tor.

Du gibst dich niemandem preis. Dich gibt es nicht in bar.
Du bist mein Rätsel und ich bin es, der dich lösen muss.
Du bist viel mehr als du selbst vermutest. Du weißt nicht was in dir steckt.

Du bist von einer bemerkenswerten
Sturheit.
Du hast den Trotz zu deinem Bewacher erzogen.
Du läufst gerne in der Küche herum, wenn man dich im Wohnzimmer verlangt.

Du liebst fast bedingungslos. Du weißt nicht was ich an dir finde und vergisst, was ich in dir schon fand.

Du bist eine Kandidatin fürs Spiegelkabinett.
Du kannst hemmungslos weinen und wenn du dich an meine Brust drückst glaube ich manchmal zu wissen, was du gelitten hast.

Du bist nicht dumm. Du vertrödelst viel von deiner Zeit.
Du weißt nicht oder willst nicht wissen, wie befreiend ein Urschrei wirkt.
Du wirkst oft kühl, dann wieder unfassbar lieb.
Du bist höflich. Du glaubst fest daran, das alle immer dich im Blick haben.

Du solltest deine Verstecke kündigen.

Wenn du schreist, bist du deutlich zu
verstehen.

Du solltest aus Angst Mut formen.

Ich warte vor deiner Mauer.
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

gelbsucht
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Re: The Wall

Beitragvon gelbsucht » 29.01.2003, 20:10

Hallo Ham,

es verdient nicht, unbeantwortet unterzugehen, was du hier geschrieben hast. In diesem Gedicht stecken, und das ist unverkennbar, eine ganze Menge Erfahrungen und Gedanken. Das zeichnet es aus. Viele Gedichte, die in diesem Forum veröffentlicht werden – meine eingeschlossen – sind dagegen nur Spielereien mit Worten und Formen. Jedoch was dein Gedicht an Inhalt mitbringt, geht ihm bei der Form ab. Es wirkt insgesamt noch recht roh auf mich. Einerseits wie der halbfertige Versuch einen Text a la Grönemeyer zu imitieren, andererseits ist es mir als Liebesgedicht doch etwas zu – wie soll ich es sagen? – belehrend. Das lyrische Du wird hier doch ganz schön gedrängt, bevormundet und – wie Pädagogen es früher gern gemacht haben – in eine Ecke gestellt (d.h. stigmatisiert). Ich glaube, das Gedicht wäre in seiner Wirkung noch stärker, wenn die Imperative und Bewertungen daraus verschwinden würden zugunsten der Aussagen, die noch deutlicher, noch feiner ausgearbeitet in den Vordergrund rücken sollten. Die Notwendigkeit zur Veränderung kann sich auch ganz allein aus der pointierten und liebevollen Charakterisierung des Mangels ergeben. In einem Gedicht muss die Konsequenz, die Konklusion, das Selbstverständliche unausgesprochen zwischen den Zeilen stehen. Da ich weiß, an wen sich das Gedicht richtet, kann ich einschätzen, dass die Form seinem Zweck angemessen ist. Aber du hast dieses Gedicht nicht nur an eine einzelne Person gerichtet, sondern auch in diesem Forum veröffentlicht. Darum will ich auch hierzu noch ein Wort verlieren: an manchen Stellen ist dein Gedicht zu deutlich oder zu abstrakt. Begriffe wie Schutzwall, Verdrängungskünstlerin, naiv, Sturheit, Trotz, Angst, Mut verlangen nach poetischer Verschlüsselung oder Umschreibung. Aber das ist – ich füge es hinzu – Geschmackssache.

Noch eins: Meinst du nicht, dass es einen graduellen Unterschied zwischen "Mauer" und "Schutzwall" gibt?

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: The Wall

Beitragvon gelbsucht » 30.01.2003, 16:35

Ahoi!

Ach, weißt du was? Ich bin in der Stimmung, dir noch etwas mehr zu dem Gedicht zu sagen. Ich mach mal einen auf Aschenputtel und differenziere zwischen dem, was mir daran besonders, und dem, was mir weniger gut gefiel.

Zuerst die Schwachstellen:

Du hast einen Schutzwall errichtet, den niemand je wieder durchbricht.
Das Urteil ist zu hart. Wenn den Schutzwall NIEMAND – JE WIEDER durchbricht, wozu noch die Mühe der Analyse und der Ermunterung?

Du läufst gerne in der Küche herum, wenn man dich im Wohnzimmer verlangt.
... nörgelte der Pascha auf seinem Chaiselongue-Thron. Dieser Satz ist vollkommen daneben und verrät insgeheim vermutlich mehr über den Dichter, als er über das lyrische Du zu entdecken vermag.

Du liebst fast bedingungslos.
Dieses „fast“ ist eine unschöne Relativierung des Kompliments.

Du bist nicht dumm. Du vertrödelst viel von deiner Zeit.
Du weißt nicht oder willst nicht wissen, wie befreiend ein Urschrei wirkt.
Du wirkst oft kühl, dann wieder unfassbar lieb.
Du bist höflich.

Das ist zeimlich oberflächlich und abgehackt. An dieser Stelle wird deutlich, was ich gemeint habe, als ich sagte, das Ganze wirkt noch recht roh auf mich.

Du solltest aus Angst Mut formen.

Ich warte vor deiner Mauer.

Das Ende ist zu platt, zu pathetisch, zu auffordernd.


Und jetzt - The good ones:

Du wirst nicht erwachsen.
Dich bestaunen die Kinder als Eine der Ihren.

Das ist meine Lieblingsstelle in dem Gedicht. Der erste Satz klingt noch ziemlich plump und vorwurfsvoll. Er wird aber durch den zweiten Satz auf wunderschöne Art und Weise relativiert, ja auf den Kopf gestellt.

Du gibst dich niemandem preis. Dich gibt es nicht in bar.
Du bist mein Rätsel und ich bin es, der dich lösen muss.

Das Wortspiel mit „preis“ und „bar“ ist gut. Die Analogie mit dem Rätsel auch. Nur: Wenn sie dein Rätsel ist, ist damit nicht schon impliziert, was nach dem „und“ folgt?

Du bist von einer bemerkenswerten
Sturheit.
Du hast den Trotz zu deinem Bewacher erzogen.

Das ist nicht schlecht. Doch bei diesen Aussagen habe ich das Gefühl, das müsste, das könnte noch besser ausgedrückt werden. Ist nur so ein Gefühl, vielleicht liegt es auch an der Anordnung, an dem Kontext, dass diese Sätze bei mir nicht ganz ihre Wirkung entfalten wollen .... mhh?

Du weißt nicht was ich an dir finde und vergisst, was ich in dir schon fand.
Gut!

Du bist eine Kandidatin fürs Spiegelkabinett.
Sehr gut!

Du kannst hemmungslos weinen und wenn du dich an meine Brust drückst glaube ich manchmal zu wissen, was du gelitten hast.
Ja!

Du solltest deine Verstecke kündigen.
Meine zweitliebste Stelle. Der Satz ist von einer Qualität, dass man ihn einprägsam nennen kann.

B-) gelbe grüsse B-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: The Wall

Beitragvon Hamburger » 30.01.2003, 22:01

Hallo gelbsucht!

Ich habe mich außerordentlich über deine Kritik zu meinem Gedicht gefreut und ich werde darauf bald eingehen. Ich möchte nur einer Sache direkt entgegentreten, die mir sehr wichtig ist:"Du läufst gerne in der Küche herum, wenn man dich im Wohnzimmer verlangt".
Dies hat nichts mit dem Verhalten eines Paschas zu tun, vielmehr soll der Satz kennzeichnen wie die Person, an die sich as Gedicht richtet, reagiert, wenn es Konflikte gibt, wenn jemand mit ihr etwas ausdiskutieren will oder sie sich ins Geschehen einmischen müsste. Sie flüchtet in eine andere, vorgeschobene Täigkeit.

Ich meine das nicht als Kritik an dich, denn das war schwer zu erkennen (wahrscheinlich nur für die Person, für die das Gedicht ist), möchte aber dennoch deine Interpretation an dieser Stelle korrigieren.

Ich werde mich bald noch etwas ausführliher äussern. Auf jeden Fall erst einmal ein ganz grosses Dankeschön für deine Kritik.

MFG,

Hamburger
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