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Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
charis
Melpomene
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f r a u

Beitragvon charis » 24.02.2003, 21:35

f r a u


immer noch sehniges
doch längst gezähmtes kind
deine rotgelackten zehen
hinterließen einst
pfotenabdrücke im lehm

in honiggelben augen
glänzte deine lust
auf gefährtensuche
liefst du über steppen
eine mondgöttin in dir

dann legten sie fangeisen aus
verboten dein knurren
breiteten schriftrollen
über deine reißzähne
gesetze schwer wie blei

tausende von jahren
kratzten deine nägel
vergebens an den fensterläden
hinter denen sie deinesgleichen
unsichtbar gemacht

unter dem stoff des schleiers
den sie dir angelegt
verkümmerte dein fell
und dir wurde kalt
schließlich bliebst du kalt

sie spreizten deine beine
rammten nekrophile
machtgelüste in dein fleisch
bestanden steif und fest
auf längst ersticktes feuer

gebieterin der zyklen
in dir bebt eine sehnsucht
aus verbrannter erde gekrochen
die nach all den kriegen
beinahe ewig brachgelegen war

trotz des langen todes
schlägt dann in hellen nächten
erneut dein wildes herz
und du riechst frisches leben
das du frei gebären willst

morgen trägst du vielleicht wieder
deine dichte stolze rute
und dein lautes geheul umarmt
jene, die mit sehenden augen
als wolfsfrau dich begrüßen

gelbsucht
Pegasos
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Re: f r a u

Beitragvon gelbsucht » 01.03.2003, 17:43

Hallo charis,

ich habe dein Gedicht jetzt mehrmals gelesen und, um es mit den Worten von Heine zu sagen: ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Am Anfang, ganz am Anfang fand ich es: stark. Doch desto öfter ich es lese, desto mehr schwächt sich dieser erste Eindruck ab. Ich frage mich: was ist dran an diesem Gedicht? Es steckt eine ganze Menge Arbeit drin, das merke und respektiere ich. Den kritischen Inhalt, die Auseinandersetzung mit der Unterdrückung, Domestizierung, Erniedrigung der "Frau" finde ich gut. Das Bild der Frau als archaisches Wesen, als Wolfsfrau, als Tier kommt mir aber äußerst merkwürdig vor: das ist Mystizismus, Fantasy und Pseudoanthropologie. Es ist aber alles, was du als Alternative zu bieten hast: die Frau soll das Tier, das sie war, wieder werden. So lese ich dein Gedicht. Diesen Gedanken finde ich eigentlich ziemlich fatal und ganz und gar nicht: emanzipatorisch. Ich will es noch etwas krasser formulieren und auf die Spitze treiben: die Reduktion der Frau auf das Tierische, das Triebhafte, das sich darin genügt, auf "Gefährtensuche" zu gehen und Nachwuchs zu "gebären", erscheint mir doch fast selbst schon wieder sexistisch. Du beschwörst Bilder der Kraft und der Willenstärke – Vernunft, Intelligenz, Gefühl, Verantwortung usw. bleiben auf der Strecke. Der Wolf als Vorbild, als Bild der emanzipierten Frau? Ist dieser Vergleich gut gewählt? Ich wage es zu bezweifeln. Ist das Wolfsrudel nicht eine streng hierarchisch gegliederte Sozietät, wo das Recht des Stärksten ausschlaggebend ist und der Alpha-Wolf voransteht? Ich weiß nicht, ob du überhaupt daran gedacht hast. Dein Gedicht legt nahe, dass deine Bilder und Vergleiche wohl eher einem anderen Genre entspringen: "in honiggelben augen" – "eine mondgöttin in dir" – "gebieterin der zyklen" – "dein wildes herz". Damit kann ich gar nichts anfangen – und ich füge gleich hinzu, dass es natürlich Geschmackssache ist. Neben diesen Fantasy-Bildern stört mich an deinem Gedicht vor allem der unerträgliche Pathos: "gesetze schwer wie blei" – "tausende von jahren" – "und dir wurde kalt/ schließlich bliebst du kalt" – "rammten nekrophile/machtgelüste in dein fleisch" – "in dir bebt eine sehnsucht" – "ewig brachgelegen" – "trotz des langen todes/ schlägt dann in hellen nächten/ erneut dein wildes herz". Das ist mir zu dick aufgetragen, um noch glaubwürdig zu sein! Das ist überflüssiger Kitsch, nichts sonst. Strophen 7 und 8 sind dabei besonders schlimm. Spätestens an diesen Stellen kann ich den kritischen, den ernsthaften Grundgedanken des Gedichtes nicht mehr sonderlich ernst nehmen, den ich an folgenden Stellen gut beschrieben und angedeutet fand: "dann legten sie fangeisen aus/ verboten dein knurren/ breiteten schriftrollen/ über deine reißzähne" - "kratzten deine nägel/ vergebens an den fensterläden/ hinter denen sie deinesgleichen/ unsichtbar gemacht" – "unter dem stoff des schleiers" – "sie spreizten deine beine/ rammten nekrophile/ machtgelüste in dein fleisch" – "nach all den kriegen". Diese Stellen finde ich bedeutsam, doch sie gehen in Kitsch und Pathos unter – leider! Das ist, was ich dir dazu sagen kann. Zum Schluss noch zwei Stellen, die mir nicht ganz klar sind ... könntest du sie mir erläutern? Was ist mit "längst ersticktes feuer" in Strophe 6 gemeint? Hoffentlich meinst du damit nicht Liebe und Leidenschaft, sonst müsste ich das ganze gleich auch noch unter die pathetischen Floskeln subsumieren. Und auch diese Stelle ist mir unklar: "morgen trägst du vielleicht wieder/ deine dichte stolze rute". Irgendwie fand ich diese Formulierung im Kontext ziemlich albern – weiß auch nicht warum. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir an dieser Stelle immer eine Mutation aus Wolfsfrau, Weihnachstmann und Domina vorstellen muss.

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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