Die Fremden

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Kemal Kayankaya
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Die Fremden

Beitragvon Kemal Kayankaya » 03.04.2008, 23:15

Die Fremden


Bin von leidigen Schicksalen inspiriert,
Bin mit fremder Trauer injiziert,

Blicke durch fremde Augen, fremde Tränen laufen über meine Wangen,
Befürchte fremde Ängste, bin erfüllt von des Fremden Bangen,

Bestürzt von fremden Problemen,
Bemüht um des Glückes fremder Leben,

Ausgezehrt durch fremdes Streiten,
Unbewusst parteiisch auf fremden Seiten,

Fremde Schnitte in meiner Seele,
Fremdes Blut tropft aus meiner Vene,

Fremde Schreie schallen aus meiner Kehle,
Fremde, mit denen ich deren fremde Wege gehe,

Fremde Laster wie Stahl auf meinen Schultern,
Fremde schwer wie Stahl, die ich auf mich schulter,

Zwänge die des Fremden Zwänge mir auferlegen,
Fremde Dinge die in meinem Kopfe beben,

Doch entfremdet mich nichts so sehr,
Als wenn ich nicht für die Fremden ein Helfer wär.
Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers.

Jack Swallow
Sphinx
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Re: Die Fremden

Beitragvon Jack Swallow » 04.04.2008, 13:31

Der erste Eindruck ist:
Gut gemeint, aber für meinen Geschmack etwas zu melodramatisch umgesetzt.
"Dem schauenden Auge das Wort lassen" (Edmund Husserl)

[) i r k
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Re: Die Fremden

Beitragvon [) i r k » 16.04.2008, 01:51

Hey Kemal,

schön, dass du zu uns gefunden hast.

:welcome:

Ähm, und den Nickname hast du gleich stilistisch passend zum Gedicht ausgesucht? Ich frage mich: Warum?
Bin von leidigen Schicksalen inspiriert,
Bin mit fremder Trauer injiziert,

Okay, der Auftakt deines Gedichtes:

Kennst du den Unterschied zwischen "leidig" und "leidvoll"? Leid-Schmerz-Trauer kann inspirieren, gewiss, aber etwas, dass ich als leidig-lästig-nervig empfinde, hat tendenzweise das Inspirationspotential einer kaputten Kaffeemaschine. Dann muss es schon wirklich leidig im Sinne von sehr unangenehm bis hassenswert sein, dass es wieder kreative Energie freisetzt. Denke ich zumindest.

Also über dieses "leidig" stolpere ich sofort. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das meinst. Es schiene mir ein sehr verunglückter Auftakt für ein Gedicht zu sein, dass sich fremden Leides und "fremder Trauer" annimmt. Es wäre nämlich genau das Gegenteil dessen, was du sagen willst.

Zur Reimform: Jede Reimform hat eine Geschichte. Der Paarreim ist eine sehr einfache Reimform und man sollte wissen, dass sie vornehmlich für humoristische, anekdotische, witzige, kurzweilige, leichte, locker-flockige Inhalte verwendet wird (Wilhelm Busch, um einen Namen zu nennen) - oder für Gedichte, die sich an Kinder als Zielpublikum wenden. Das gilt natürlich nicht für alle Gedichte, die jemals geschrieben wurden. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.

Aber es ist eine Tendenz. Mir geht es z.B. beim Lesen so, dass ich den Reim "inspiriert - injiziert", wenn er so dicht aufeinander folgt, als lustig empfinde. Das scheint der nächste Gegensatz von Intention und Wirkung in deinem Gedicht zu sein: Du möchtest über ein ernstes Thema schreiben und wählst eine (für meinen Geschmack) zu "leichte" Reim- und Strophenform.

Dann der Gegensatz von "inspiriert - injiziert". Das Fremde kann mich inspirieren, richtig, das ist ein kreativer Akt: Ich nehme etwas wahr, vielleicht indem es mich beeindruckt oder indem es mein Staunen erweckt, es fließt in meine Gedanken ein, verändert sie und erzeugt - mit etwas Glück - wieder etwas Neues. Aber "fremde Trauer injizieren" klingt für mich nach einem Akt der Gewalt. Wörtlich: Jemand setzt eine Nadel an meinen Arm an, um mir eine Droge zu injizieren, die mich vll. depressiv macht. "Injizieren" klingt seltsam für mich... da hättest du gleich "infizieren" schreiben können und das wäre auf der wörtlichen Ebene vielleicht noch einen Tick passender gewesen, da man sich von Trauer durchaus "anstecken" lassen kann.
Blicke durch fremde Augen, fremde Tränen laufen über meine Wangen,
Befürchte fremde Ängste, bin erfüllt von des Fremden Bangen,

Hier teile ich Jack's ersten Eindruck: Das ist auch mir zu melodramatisch. "Durch fremde Augen blicken", stelle ich mir höchst edel, selbstlos und utopisch vor - sich in jemanden hineinzuversetzen, den man liebt, ist manchmal schon ein Ding der Unmöglichkeit.

"Befürchte fremde Ängste" - das ist so ähnlich wie mit "leidvoll" und "leidig". Auch Angst und Furcht sind, wenn man es genau nimmt, zwei Paar Schuhe:
Die Furcht grenzt sich von der Angst dadurch ab, dass sich Furcht meist auf eine reale Bedrohung bezieht. Angst ist dagegen meist ein ungerichteter Gefühlszustand.

Im Gegensatz zur diffusen Angst ist die Furcht auf etwas Bestimmtes gerichtet und - im Gegensatz zur Angst bei phobischen Störungen - rational begründbar und angebracht und wird deshalb auch als Realangst bezeichnet.

Quelle: Furcht

Ist doch schön, dass die deutsche Sprache solche Unterscheidungen möglich macht. Nutze Sie!

Zur Form: Ist dir mal aufgefallen, dass diese Zeilen viel länger sind, als die ersten beiden? Reime sind eine feine Sache. Allerdings: Der Rhythmus kommt immer zuerst. Oder als Gleichnis: Zuerst schlagen die Buschtrommeln, ehe (ein paar tausend Jahre später) die ersten Saiten- und Blasinstrumente einsetzen. Und Rhythmus bedeutet als aller Erstes etwas ganz, ganz, ganz, ganz, ganz langweiliges, montones und stumpfsinniges. Nämlich: Silben zählen! Oder als Gleichnis: Schlage den Takt! ;-)
Bestürzt von fremden Problemen,
Bemüht um des Glückes fremder Leben,

Reim-Alarm: Alarmstufe gelb!
:viking:
Ausgezehrt durch fremdes Streiten,
Unbewusst parteiisch auf fremden Seiten,

Die letzte Zeile gefällt mir! Ist in deinem Gedicht für mich ein richtiges Glanzlicht.
Fremde Schnitte in meiner Seele,
Fremdes Blut tropft aus meiner Vene,

Reim-Alarm: Alarmstufe orange!!
:microwave:

Das ist jetzt aber sowas von Melo und Dramatisch. Sorry, aber... erst die Trauer, dann die Tränen, dann Angst, dann Streit und jetzt noch "fremdes Blut" - das ist mir einfach ein bisschen zu dick und zu unglaubwürdig aufgetragen.
Fremdes Blut tropft aus meiner Vene,

Ausschlussverfahren:

Du bist nicht Jesus. :-p
Du bist auch kein Vampir? 8-o
Fremde Schreie schallen aus meiner Kehle,
Fremde, mit denen ich deren fremde Wege gehe,

Und schon wieder:

Reim-Alarm: Alarmstufe rot!!!
:bang:

Noch mal etwas zum Thema Rhythmus: Lies doch diese beiden Zeilen ein paar Mal ganz schnell hintereinander. Merkst du was? Woran liegt das?
Fremde Laster wie Stahl auf meinen Schultern,
Fremde schwer wie Stahl, die ich auf mich schulter,

Reim-Supergau!?!?!
:wizard:

Die doppelte Wendung "Laster wie Stahl" und "schwer wie Stahl" entfaltet keine Wirkung, zumal bereits die "Schulter" gedoppelt ist. Davon abgesehen ist "Schwer wie Stahl" ohnehin bereits sprachlich recht nahe liegend und verbraucht. Angesichts des Wortes "Stahl" und den "Fremden" kommen mir noch ganz andere Assoziationen in den Sinn („…flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“). Also lieber ganz rauslassen?

Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass dir angesichts der Lasten, die du zu schultern hast, hier in der letzten Strophe die Grammatik etwas aus den Fugen gerät.
Zwänge die des Fremden Zwänge mir auferlegen,
Fremde Dinge die in meinem Kopfe beben,

Ich sag nix zum Reim. :-D

Das ist übrigens insgesamt ganz rhythmisch hier. Liest sich sehr viel flüssiger als die beiden Strophen davor. Versuch mal nachzuvollziehen, warum du hier "Kopfe" geschrieben hast und nicht "Kopf". ;-)

"Fremde Dinge" ist zu allgemein. Nach Schicksal, Trauer, Angst, Glück, Blut usw. kommen jetzt die "Dinge"? Du gehst den Weg der Wissenschaft: Vom Speziellen zum Allgemeinen. In der Literatur verläuft der Weg meist umgekehrt: Das Allgemeingültige und Identifikation stiftende wird anhand des Individuellen, des Einzelfalls, des beschriebenen Beispiels herausgearbeitet.

Begriffe wie "Schicksal", "Probleme", "Leben", "Seele", "Streiten" usw. lösen im Kopfkino deines Lesers sehr wenig aus, weil sie zu allgemein, zu weitschweifig, zu allumfassend sind. Ausweg: Füttere das Kopfkino deines Lesers mit etwas Neuem, Extremen, Spannendem, Konkretem, Greifbarem, Fühlbarem, Phantastischem, Anschaulichem... etwas Authentischem, Lebendigem, Realem. Kurz: Stopf den Kopf deines Lesers nicht mit Begriffen voll (Zitat Homer Simpson: "Langweilig!"), sondern mit Bildern, mit Action, mit Emotionen.
Doch entfremdet mich nichts so sehr,
Als wenn ich nicht für die Fremden ein Helfer wär.

Liest sich für mich wie eine Pfadfinder-Maxime. Nach den melodramatischen Wellenbergen, die zuvor durch das Gedicht geschwappt sind, plätschert es hier nur noch ein bisschen.

Nun, Fremder, ich hoffe, dass meine Kritik in irgendeiner Hinsicht hilfreich war - und nicht allzu hart und unverständlich. :-)

MfG,
[) i r k
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Re: Die Fremden

Beitragvon andres » 16.04.2008, 11:06

Nun Fremder,

um dir eine noch größere Hilfe zu sein, fasse ich die vielfältigen Meinungen und Kommentare in einem Satz zusammen:

Dein Gedicht ist mangelhaft!

Eine Jury wird entscheiden müssen, ob es in diesem Forum Romanum geduldet werden kann. Andererseits gibt es Anlass zu bild- und wortgewaltigen Ergüssen und Belehrungen, weshalb ich ein positives Urteil erwarte.

Somit auch von mir ein


:welcome:
werden.

[) i r k
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Re: Die Fremden

Beitragvon [) i r k » 16.04.2008, 19:14

Hallo.
um dir eine noch größere Hilfe zu sein, fasse ich die vielfältigen Meinungen und Kommentare in einem Satz zusammen:

Danke, Andres. Können wir das vielleicht als Dauereinrichtung machen: Immer, wenn ich mehr als 2 Seiten schreibe, fasst du das kurz und knackig in einem Satz zusammen? Wäre doch irgendwie recht praktisch! Liest ja eh keiner die ganzen "Ergüsse und Belehrungen", die ich hier nachts um eins von mir gebe...
Dein Gedicht ist mangelhaft!

Ähm, ich war doch zu hart, stimmt's? :O)

Ich bin gar nicht so böse... echt jetzt! :-)

Darum würde ich auch lieber sagen: Das Gedicht besitzt noch Vervollkommnungspotential. B-)

Wir müssen hier ja nicht gleich überholte pädagogische Bewertungssysteme heranziehen. Gedichte und Schule sind ja eh zwei Begriffe, die überhaupt nicht zusammenpassen: Gedichte schreiben, heißt: selbstständig denken lernen und Schule bedeutet (ungefähr) das Gegenteil. :-D

Und, da wir alle selbstständig denken können, wissen wir, dass ich ein bisschen übertreibe.
Eine Jury wird entscheiden müssen, ob es in diesem Forum Romanum geduldet werden kann.

Das verstehe ich jetzt nicht... ist das ein Insider? Du meinst doch nicht...?

MfG,
[) i r k
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Re: Die Fremden

Beitragvon andres » 18.04.2008, 13:00

Ja, man könnte sicherlich noch pädagogischer sein.

Lernen soll ja Spaß machen!

(...was diese Dame auf jeden Fall gut umsetzt: http://www.ehrensenf.de/linktipps/ethymologie-und-brueste )

:O)

Eine Alternative für das Forum?

:-D
werden.

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Re: Die Fremden

Beitragvon [) i r k » 18.04.2008, 18:20

Ah ja, Intelligence is sexy... :rofl:
Eine Alternative für das Forum?

:-D

Eine Alternative definitiv! Bin schon gespannt auf dein erstes Videohhhh.
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Re: Die Fremden

Beitragvon andres » 19.04.2008, 19:01

...ich denk drüber nach! :procontra:
werden.


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