der tatsachenroman

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Hilbi
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der tatsachenroman

Beitragvon Hilbi » 27.05.2003, 23:23

der tatsachenroman

ein mann
eine frau
kurz
zwei menschen
sie stehen vor einer ampel
die ersten worte wachsen

gespräche von plüschbären
: was hat dein tag gebracht
: ich habe mir reinigungsmilch gekauft und nun habe ich vergessen wo mein mund ist

ganz leicht das leben
trauer nur in den tagebüchern
zeilen schnell hingeschrieben
damit man sie vergessen kann

das bankgeheimnis läuft durch die kleine gossenstadt
der himmel ist jetzt sehr dunkel
alles ist frisch frankiert

er hat so lange vor ihrer bluse gestanden
bis sie ihn freischoß

das bankgeheimnis wird ausfällig
es beleidigt alle die es ansprechen kann
es wird überfällig dem bankgeheimnis zu sagen
dass es ruhig dass es sich hinlegen soll

zum ende hin lassen wir zwei sich treffen
sich aneinander gewöhnen
zusammen pilze sammeln und daran sterben
(am sammeln zu sterben was kann schöner sein)
Wenn der Himmel so blau ist, warum wird es dann finster?

gelbsucht
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Re: der tatsachenroman

Beitragvon gelbsucht » 25.06.2003, 21:16

Hallo Hilbi,

das ist auch ein Gedicht, mit dem ich mich etwas schwer tue. Aber das soll kein Grund sein, dass es untergeht.
das bankgeheimnis wird ausfällig
es beleidigt alle die es ansprechen kann
es wird überfällig dem bankgeheimnis zu sagen
dass es ruhig dass es sich hinlegen soll

Ich glaube, du hattest dieses Gedicht unmittelbar auf "Im Gedränge der Leere" gepostet. Mir kommen diese Zeilen wiederum wie die Antwort auf meine Frage vor, was der letzte Satz in Andi's verkapptem Liebesbrief bedeuten soll:
wie kriege ich es fertig einen geldautomaten aufzuschrauben ohne dass man mich erkennt

Beides sind Symbole für finanzielle Schwierigkeiten. Es gibt Menschen, denen man einfach ansieht, dass sie kein Geld haben – da nützt auch das Bankgeheimnis nichts. Auch in diesem Gedicht ist jemand offensichtlich wieder ganz schön klamm.

Es ist eine seltsame Art von Liebesgedicht:
ein mann
eine frau

Sie begegnen sich. Vielleicht zum ersten mal. Aber, was daraus entsteht, klingt für mich nicht nach Liebe, sondern nach einer Art Ersatz, einem Trost, einer Ablenkung, einer stillen Flucht vor dem Alltag.
sie stehen vor einer ampel
die ersten worte wachsen
...
er hat so lange vor ihrer bluse gestanden
bis sie ihn freischoß
...
zum ende hin lassen wir zwei sich treffen
sich aneinander gewöhnen

Immer schwingt ein leicht trauriger Ton, eine gewisse Melancholie mit:
ganz leicht das leben
trauer nur in den tagebüchern

Der Rest des Gedichtes ist für mich voller Rätsel!?!?!?
: ich habe mir reinigungsmilch gekauft und nun habe ich vergessen wo mein mund ist
...
alles ist frisch frankiert
...
zusammen pilze sammeln und daran sterben
(am sammeln zu sterben was kann schöner sein)

Goethe hat einmal gesagt:
Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.
Mich würde interessieren, was du von dieser Aussage hältst.

;-) gelbe grüsse :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: der tatsachenroman

Beitragvon vogel » 26.06.2003, 20:56

Hallo gelb !

ich denke, dass sich
alles ist frisch frankiert

entweder auf das Bankgeheimis bezieht, d.h. man versucht es zu verheimlichen, oder anders "zu verpacken" um es nicht aufliegen zulassen. es gibt schließlich soviele Begriffe, die ausdrücken können, das man Pleite ist ... ich denke, da muss ich jetzt keine Weiter aufzählen ..
oder es bezieht sich auf den Himmel, der in der Zeile davor erwähn wird : wobei ich aber denke, dass der dunkle Himmel mit den Beiden Menschen in verbindung zu bringen ist :
Soll heißen, wie du schon sagst, dass das alles nur eine Aushilf ist, und sie beide trotzdem versuchen es irgendwie zu genießen - es aber nciht können, immer schwingt, des schlechte mit. z.b. dass es keine "echte" liebe ist. ich würde den himmel als das schlechte deuten. und das alles frisch farnkiert ist, heißt das nun wo sie sich gegenüberstehn, wieder neue wolken aufziehn. Sie beide vielleicht schon mal in soeiner Situ waren, oder sie ihre zweisamkeit wirklich nciht genießen können - aber irgndwo wollen die beiden es doch ... es ist halt neu - neu und firsch - frisch frankiert ...
hört sich ziemlich kitschig an, wäre aber eine Möglichkeit ...

zusammen pilze sammeln und daran sterben
(am sammeln zu sterben was kann schöner sein)

könnte für ein "Happy End" stehn.
aber ich denke nicht, dass es wirklich ein Happy End ist. pilze können giftig und ungiftig sein, ich ess keine, kann darüber jetz also auch nciht so viel sagen, aber wenn der eine den anderen in den Wald schickt / oder sie gemeinsam gehn, und dann kochen und nciht wissen WAS sie kochen, kann sie das umbringen. aber ich denke nicht das hier der körperliche Tod gemeint ist, sondern der seelische ... das beide an der schrecklich, negativen stimmung (dem dunklem Himmel) kaputt gehn. und die pilze könnten lügen sein : denn die schönsten pilze sind die giftigsten ... (ich meine den Roten Pilz mit den Weißen Flecken ...)


und zu guter letzt :
: ich habe mir reinigungsmilch gekauft und nun habe ich vergessen wo mein mund ist

wer sagt, dass man die "Reinugungsmilch" nur auf Kleidung anwendet um FLECKEN auszulöschen ??


"der taschenroman" gefällt mir ... :] geheimnissvoll und subtil ...


liebe grüße,
kleinervogel ...
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.

gelbsucht
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Re: der tatsachenroman

Beitragvon gelbsucht » 29.06.2003, 19:37

Hallo kleinervogel,

du hast wirklich ein paar interessante Aspekte in deiner Interpretation beleuchtet. Mir sind dadurch wirklich einigen Sachen aufgegangen. Ich fang aber mal mit dem Schluss an:
zusammen pilze sammeln und daran sterben

Also wie ich schon gesagt habe, ist es offensichtlich nicht wirklich Liebe, sondern so eine Art Flucht vor dem Alltagstrott. Und auch dieses Ende passt irgendwie dazu.
Könnte für ein "Happy End" stehn,
aber ich denke nicht, dass es wirklich ein Happy End ist.

Denke ich auch nicht. Pilze sammeln, Pilze suchen. Sie sterben nicht an giftigen Pilzen, sondern sie sterben bei der Suche.
Pilze können giftig und ungiftig sein ... die schönsten pilze sind die giftigsten ...

Es ist also nicht so ein dramatisches Ende, wie in "Romeo und Julia" oder wie in "Kabale und Liebe", wo sich die Liebenden durch unglückliche Umstände selbst vergiften (oder auf andere Art umbringen), sondern ein eigentlich banales Ende. Noch ehe sie die "wahre Liebe" gefunden haben und in einem wilden, dramatischen Ende zugrunde gehen, sterben sie. Es ist eben eine Geschichte, in der sich zwei "aneinander gewöhnen", anstatt sich stürmisch in die Arme zu fallen. Ebenso unspektakulär enden sie dann. Dieses in Klammern zugesetzte ...
(am sammeln zu sterben was kann schöner sein)

... halte ich für bitter-böse Ironie des Erzählers.

: ich habe mir reinigungsmilch gekauft und nun habe ich vergessen wo mein mund ist

Also mir ist schon klar, dass die Reinigungsmilch hier offensichtlich die Ursache für das Vergessen ist. Aber was bedeutet die Zeile nun eigentlich? Was bedeutet es, wenn man seinen Mund vergisst? Das ganze ist ja eingebettet in einen Dialog. Am Anfang steht die Frage:
: was hat dein tag gebracht

Man könnte das Vergessen des Mundes vielleicht so deuten, dass die Person, an die sich diese Frage richtet, keine Lust hat zu antworten, keine Lust hat, überhaupt zu reden. Ist natürlich ein bisschen paradox. Dabei gibt es noch einen anderen Aspekt, der wichtig ist: auch in der nächsten Strophe geht es wiederum um das Vergessen:
zeilen schnell hingeschrieben
damit man sie vergessen kann

Das klingt alles nach Verdrängung, nach Verleugnung der Wirklichkeit. Das passt aber wunderbar mit dem aufdringlichen Bankgeheimnis zusammen. Auch das soll ja endlich ruhig sein, auch hier soll offensichtlich ein Faktum vergessen oder verdrängt werden. Ich würde mich darum auch deiner Interpretation der Zeile ...
alles ist frisch frankiert

... anschließen. Etwas neu "verpacken" und "zukleben" ist hier impliziert, aber auch es "versenden" und "loswerden". Ich musste mich auch daran erinnern, dass Briefe früher nicht einfach frankiert, sondern mit heißem Wachs und Stempel versiegelt wurden. Das passt auf jeden Fall genau ins Bild: irgendetwas soll verheimlicht oder vergessen werden - wie du ganz richtig sagst. Der Bezug zu den Tagebüchern ist auch klar: nach außen hin ist man fröhlich, die Trauer verbirgt man in den Tagebüchern.

Ich glaube, das ist der Kern des Gedichtes: sich vor dem anderen verbergen, sich in einem besseren Licht darstellen, sich anders geben, als man eigentlich ist. Vielleicht ist das auch die Ursache, warum es letztendlich mit der Liebe auch nicht klappen kann. Der Betrug findet ja schon vor oder in der Kennenlernphase statt.

;-) gelbe grüße :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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