Außerdem ein Mensch

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gelbsucht
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Außerdem ein Mensch

Beitragvon gelbsucht » 21.07.2003, 18:00

Zum Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige

Ein Junkie, verreckt
im eignen Urin und Blut –
außerdem ein Mensch.

Tattoos, Abszesse,
Schorf – die Arme erzählen
seine Geschichte.

Besteck und Pumpen,
Hepatitis und Aids habt
ihr mit ihm geteilt.

Er hat euch beschwatzt
und gelinkt, betrogen hat
er euch – wie sich selbst.

Wie ihr trieb er, die
Leere zu betäuben, von
Shore zu Shore.

Und wer erinnert
sich an ihn – und wer wird sich
an euch erinnern?

Denkt an ihn oder
an sie – bevor ihr nach dem
nächsten Bubble jagt.

Ein Junkie verreckt
im eignen Urin und Blut –
außerdem ein Mensch.
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

vogel
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Re: Außerdem ein Mensch

Beitragvon vogel » 22.07.2003, 21:19

Hallo Gelb ...

wiedermal ein ernstes Thema ...

ich finde, du hast getroffen, was zu treffen ist.
die Art wie du dich äußerst, wirkt manchmal sehr hart und rabiat auf mich, doch das stört mich nicht :
Ein Junkie, verreckt
im eignen Urin und Blut –
außerdem ein Mensch.
denn es ist nun mal so ... leider.
die Wiederhohlung, die du schon in der ersten Zeile tust : JUNKI und MENSCH, zeigt, dass was viele denken (ich sage mit absicht nicht ALLE) : Junkis sind in ihren Augen keine Menschen ... ebenso all die anderen, die nicht so sind, wie sie es sich vorstellen (Grufitis, Punks, Gothics, Ökos, etc ...) - womit wir beim Thema Rassismus angekommen wären ...

Tattoos, Abszesse,
Schorf – die Arme erzählen
seine Geschichte.
da frage ich mich aber : du redest hier von den Drogenabhängigen ... aber Tattoos hat heute jeder, Schorf - an den Armen - gibt es sicher zwei Arten davon .. Aber das charterisert in meinen Augen nicht den ("typischen" (?)) Junki. Charatisiert - wie beschi**en sich das anhört ...

aber die erstenbeiden Strophen scheinen mir wie eine Einleitung ... du sagst woüber du sprechen willst : über Drogenabhänige ...

dann beginnst du von ihm, von ihnen (den anderen) und von uns zu erzählen ..

und darin merkt man eigentlich, was du wirklich mit außerdem ein Mensch meinst : eben das, was ich vorhin in der 2.Str. eigentlich bemengelt hab ... das dieser Junki genauso ein Mensch ist, wie du und ich und all die anderen ...
der Junki tut genau das gleiche :
Er hat euch beschwatzt
und gelinkt, betrogen hat
er euch – wie sich selbst.
wollen wir nicht auch Reichtum (wenn auch nur einwenig - irgendwo tief drin): was weiß ich , Geld, Kinder, guten Job, EINE ZUKUNFT .. und wir belügen uns doch auch, vielleicht nicht so etrem oft, aber irgendwann belügt man sich ...

Wie ihr trieb er, die
Leere zu betäuben, von
Schurre zu Schurre.
das sind auch wir .. und wenn's eben nur ne Tafel Schockolade ist um die Glückshorme auszuschütten, ich persönlich brauche immer wieder mal was zu auffpuschen geb ich erhlich zu ... - z.B: ne Cola oder nen Schokokuss ... irgendwie will man ja doch mal über das Schlechte hinwegsehen ... abschalten.

Und wer erinnert
sich an ihn – und wer wird sich
an euch erinnern?

Denkt an ihn oder
an sie – bevor ihr nach dem
nächsten Bubble jagt.
das Errinern - das hatte ich auch schon des öfteren angesprochen. Werden Junkis dorthingetragen, wo man vielen ein, wenn auch ein kleines, Denkmal setzt ?


du hast hier eines der txte geschrieben, die man als positiv und negativ sehen kann. egal welche Variante man wählt (pos oder neg) in meinen Augen ist dieses Gedicht sehr gesellschaftskritisch. du sagst, was wir denken, was ich denke. und du zeigst, was mit uns passieren kann -
wir können abrutschn, bzw. auf die schiefe BAhn kommen, wenn wir keinen halt haben
wir können andere belügen und uns selbst, wenn wir nichts haben, an das wir glauben
und wir können vergessen werden ...

liebe grüße und ein "haste schön gemacht "
kleinervogel ...
Mein Ich ist ein Pfogel aus Metall, doch Du hast ihn berührt und beschützt.

gelbsucht
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Re: Außerdem ein Mensch

Beitragvon gelbsucht » 31.07.2003, 01:10

Hallo kleinervogel,
die Art wie du dich äußerst, wirkt manchmal sehr hart und rabiat auf mich

Manchmal? D.h. auch in anderen Kontexten, oder wie darf ich das verstehen? Bei diesem Gedicht allerdings war es nichts als Absicht. Aber dabei ging es mir - um das gleich hinzuzufügen - nicht um bloße Effekthascherei.
da frage ich mich aber : du redest hier von den Drogenabhängigen ... aber Tattoos hat heute jeder, Schorf - an den Armen - gibt es sicher zwei Arten davon .. Aber das charterisert in meinen Augen nicht den ("typischen" (?)) Junki.

Ich glaube, die drei Sachen zusammen ("Tattoos, Abszesse, Schorf") sind in gewisser Weise schon charakteristisch. Okay, Tattoos hat heute jeder (außer mir). Aber Tätowierung ist nicht gleich Tätowierung. Die Tattoos von Menschen, die länger drogenabhängig sind, unterscheiden sich doch um einiges von den chicen und teuren Tattoos, die unsereiner sich machen lässt. Einige bringen sie als Souvenir aus dem Strafvollzug mit, andere stechen sie mit primitiven Mitteln selbst ... und diesen Unterschied sieht man. Noch typischer sind wahrscheinlich aber Abszesse und Schorf. Abszesse rühren z.B. von verunreinigtem Heroin, unsauberem Spritzen und allgemein schlechten hygienischen Bedingungen beim intravenösen Konsum her. Der Schorf kann zum einen vom Leben auf der Straße herrühren. Zum anderen führen bestimmte Substanzen (u.a. Kokain) dazu, dass sich die Leute einfach die Haut an Gesicht und Armen aufkratzen ... was echt nicht schön aussieht.
aber die ersten beiden Strophen scheinen mir wie eine Einleitung ... du sagst worüber du sprechen willst : über Drogenabhängige ...

Yepp, so ist es.
dann beginnst du von ihm, von ihnen (den anderen) und von uns zu erzählen ...

Ähm, Vorsicht. Mit der Anrede in der zweiten Person Plural meine ich in erster Linie nicht dich oder mich, sondern ich wende mich wiederum an eine ganz bestimmte Gruppe: an die Drogenabhängigen selbst. Darum heißt es auch in der dritten Strophe:
Besteck und Pumpen,
Hepatitis und Aids habt
ihr mit ihm geteilt.

Das Gedicht wendet sich an Drogenabhängige, um sie einerseits dazu aufzurufen, die eigenen Leute nicht zu vergessen, wenn sie sterben, und andererseits sie zu mahnen, für sich selbst vielleicht eine Konsequenz aus dem Tod des anderen zu ziehen – wie auch immer diese Konsequenz aussehen mag.

Ich find es okay, wenn du dich in dieser Beschreibung sogar noch selbst wiederfindest bzw. wenn du es für eine weitergehende Kritik hältst, aber:
... dass dieser Junki genauso ein Mensch ist, wie du und ich und all die anderen ...
der Junki tut genau das gleiche:

Das würde ich bestreiten wollen. Ich wollte zwar schon betonen: auch er ist ein Mensch. Aber damit wollte ich auf keinen Fall sagen: er ist ein Mensch so wie du und ich. Glaub mir, kleinervogel, das ist er (meistens jedenfalls) nicht. Andererseits hast du aber auch Recht. So krass diese Leute drauf sind und so krass ihr Leben auf der Straße ist, dennoch kommt es mir manchmal so vor, als ob ich auch ein Stück von mir selbst in ihnen erkenne. Bei meiner Arbeit mit (zumeist) obdachlosen Drogenabhängigen, kommt es mir manchmal so vor, als würde ich, wenn ich sie ansehe, wie durch ein riesiges Brennglas auch mich selbst sehen. Gerade das Sich-selbst-etwas-vormachen kann man dabei oft überdeutlich beobachten.

Den Rest von dem, was du sagst, lass ich einfach mal so stehen. Ich persönlich, bin noch nicht so glücklich mit dem Text. Ich wollte ihn eigentlich gleich wieder löschen, nachdem ich ihn gepostet habe. Es wundert mich, wie schwer es mir fällt, die Erfahrungen in Sprache umzusetzen, die ich in den letzten Monaten gesammelt habe ... vielleicht liegt es daran, dass es einfach zu viele Eindrücke und Ereignisse sind. Eigentlich Stoff für ein Buch.

;-) gelb :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)


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