Ungeschriebene Gedichte
Unbeschrieben die vielen Bilder,
unbeschrieben die Geräusche der Stadt,
unbeschrieben die vielen Passanten
in der Oberstadt an einem heißen Augustnachmittag.
Unbeschrieben das Fell der Katze, die sich abends
bei uns vorm Haus auf eins der parkenden Autos legt.
Wer hier wohnt, weiß, wie sie schnurrt, kennt ihr Fell.
Ihr wohnt hier nicht und wißt davon nichts.
Unbeschrieben der Augenblick
eben gerade (am 2.9.2003, 21:58 Uhr),
an den nur ich mich erinnere jetzt
(und eine Stunde später schon nicht mehr).
Unbeschrieben der morgige Tag,
unbeschrieben die Morgensonne am 3. September,
unbeschrieben das Laub auf meinem Ford Escort Kombi,
unbeschrieben der Tag,
an dem ein Arzt meinen Puls nicht mehr fühlt
und die letzte Wahrnehmung,
das letzte Bild, das letzte Geräusch, der Gedanke
unbeschrieben bleibt, für immer und immer.
Für immer, immer und immer. Immer.
Ungeschriebene Gedichte
Ungeschriebene Gedichte
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!
Re: Ungeschriebene Gedichte
hallo spiderman,
naja, eigentlich muss ich ja fast meine gedanken zu diesem gedicht unbeschrieben sein lassen...
egal...!
-> zunächst hab ich mich verlesen und las als titel "ungeschriebene geschichte", was ebenso gepasst hätte, erst beim 2.lesen hab ich gemerkt, dass du dich spezifischer auf gedichte beziehst.
vom ausdruck her ist zu den aufzählungen der unbeschriebenen dinge nicht viel zu sagen, ausser, dass du sie gut ausgewählt hast m.e.
also wenden wir uns dem inhalt zu.
sehr philosophisch, das ganze. provokativ formuliert. vor allem die geschichte mit der katze:
an sich erklärst du unsere auf zeichen und symbole angewiesene alltagswahrnehmung und gabe zur antizipation, ergänzung, vorstellungskraft für null und nichtig.
symbole sind repräsentationszeichen, sie "vertreten" ja den gegenstand, auf den sie verweisen. menschen können somit auch über objekte verfügen oder situationen thematisieren, die im jeweiligen augenblick gar nicht präsent sind.
ist der inhalt also als ein plädoyer für die unmittelbare wahrnehmung der welt zu verstehen?
oder besser gesagt als ein plädoyer für den dichter, der durch sein beschreiben nun die möglichkeit innehätte, dieses nicht-wissen zu beenden?
man könnte dem ganzen sogar eine gewisse arroganz unterstellen... unsere vorstellung deiner katze, die dort am autodach liegt, ist also NICHTS, ist jedenfalls nicht die KATZE, aber IST das SEHEN der anrainer, also das abbild, irgendwie eher DIE KATZE...?
wie wirklich ist also nun die wirklichkeit...? laut radikalem konstruktivismus gibt es sie PER SE ja nicht.
unzweifelbar gibt es aber die wirklichkeit des dichters, also in diesem fall DEINE, und zu recht wissen wir also nicht viel über diese deine KATZE auf dem heissen blechdach.
wüssten wir aber tatsächlich MEHR über sie, wenn DU sie beschreiben würdest...? würde sie dann nicht genauso zu UNSERER katze werden, wie sie es unbeschrieben bleibt...?
interessante überlegungen allenfalls...
danke für die gelegenheit zum philosophieren...
fazit: ein höchst gelungenes gedicht, wie immer mit dem gewissen thomas-plus!
charis
p.s. ach ja, das immer. immer. immer: gefällt! soll es an das anfängliche bestehen und letztliche ausgehen dieser pieps-geräusche von diesen medizinischen pulsschlag-meßgeräten erinnern oder ist das nur MEINE assoziation...?
naja, eigentlich muss ich ja fast meine gedanken zu diesem gedicht unbeschrieben sein lassen...
egal...!
-> zunächst hab ich mich verlesen und las als titel "ungeschriebene geschichte", was ebenso gepasst hätte, erst beim 2.lesen hab ich gemerkt, dass du dich spezifischer auf gedichte beziehst.
vom ausdruck her ist zu den aufzählungen der unbeschriebenen dinge nicht viel zu sagen, ausser, dass du sie gut ausgewählt hast m.e.
also wenden wir uns dem inhalt zu.
sehr philosophisch, das ganze. provokativ formuliert. vor allem die geschichte mit der katze:
Wer hier wohnt, weiß, wie sie schnurrt, kennt ihr Fell.
Ihr wohnt hier nicht und wißt davon nichts."
an sich erklärst du unsere auf zeichen und symbole angewiesene alltagswahrnehmung und gabe zur antizipation, ergänzung, vorstellungskraft für null und nichtig.
symbole sind repräsentationszeichen, sie "vertreten" ja den gegenstand, auf den sie verweisen. menschen können somit auch über objekte verfügen oder situationen thematisieren, die im jeweiligen augenblick gar nicht präsent sind.
ist der inhalt also als ein plädoyer für die unmittelbare wahrnehmung der welt zu verstehen?
oder besser gesagt als ein plädoyer für den dichter, der durch sein beschreiben nun die möglichkeit innehätte, dieses nicht-wissen zu beenden?
man könnte dem ganzen sogar eine gewisse arroganz unterstellen... unsere vorstellung deiner katze, die dort am autodach liegt, ist also NICHTS, ist jedenfalls nicht die KATZE, aber IST das SEHEN der anrainer, also das abbild, irgendwie eher DIE KATZE...?
wie wirklich ist also nun die wirklichkeit...? laut radikalem konstruktivismus gibt es sie PER SE ja nicht.
unzweifelbar gibt es aber die wirklichkeit des dichters, also in diesem fall DEINE, und zu recht wissen wir also nicht viel über diese deine KATZE auf dem heissen blechdach.
wüssten wir aber tatsächlich MEHR über sie, wenn DU sie beschreiben würdest...? würde sie dann nicht genauso zu UNSERER katze werden, wie sie es unbeschrieben bleibt...?
interessante überlegungen allenfalls...
danke für die gelegenheit zum philosophieren...
fazit: ein höchst gelungenes gedicht, wie immer mit dem gewissen thomas-plus!
charis
p.s. ach ja, das immer. immer. immer: gefällt! soll es an das anfängliche bestehen und letztliche ausgehen dieser pieps-geräusche von diesen medizinischen pulsschlag-meßgeräten erinnern oder ist das nur MEINE assoziation...?
Re: Ungeschriebene Gedichte
Ich weiß nicht genau, warum, aber dieses Gedicht trifft mich mitten ins Herz, verzeih dieses Wort, aber es verursacht mir Herzklopfen, und das immer, immer am Schluss ist auch für mich wie ein Pulsschlag. Ich dachte nicht an EKG, für mich war es nur wie mein eigener Herzschlag.
Glückwunsch
(auch nachträglich zum Geburtstag!!!)+
malino (die ihr Passwort vergessen hat)
Glückwunsch
(auch nachträglich zum Geburtstag!!!)+
malino (die ihr Passwort vergessen hat)
Re: Ungeschriebene Gedichte
Hallo Charis und Malino,
Ihr seid wirklich lieb zu mir! Eure Reaktionen ehren mich, zumal sie so positiv und dabei so unterschiedlich sind. Ich muss zugeben, dass ich selbst gar keine sooo intensive intelektuelle oder emotionale Beziehung zu dem Gedicht habe. Es handelt sich um ein Gelegenheitsgedicht, zwischendurch geschrieben. Ausgangspunkt war eine Schreibblockade und der Gedanke, wie viel ich täglich wahrnehme und vergesse, ohne dass ein anderer Mensch davon erfährt. Daraus läßt sich natürlich ein philosophischer Diskurs entwickeln - über Ideen, Bilder, ihr Konstruktion und Kommunikation. Deine Ausführungen, charis, habe ich jedenfalls mit Freude gelesen. Andererseits berührt das Thema Wahrnehmen-Vergessen vielleicht Gefühle der Einsamkeit, Vergänglichkeit und Todesangst. Ich weiß nicht, erklärt das Deinen erhöhten Puls, malino? Vielleicht sind's auch die persönlichen Konkretisierungen und die direkte Ansprache des Lesers. Hab jedenfalls versucht, dem Leser in das Gedicht reinzuholen, in Beziehung zu setzen.
Das mit dem EKG-Rhythmus am Schluß war übrigens keine bewußte Absicht. Allerdings hatte ich nach einem rhythmischen Schluß gesucht, der "irgendwie paßt". Ihr habt mir jetzt erklärt, warum er paßt.
Liebe Grüße
Spidertom
Ihr seid wirklich lieb zu mir! Eure Reaktionen ehren mich, zumal sie so positiv und dabei so unterschiedlich sind. Ich muss zugeben, dass ich selbst gar keine sooo intensive intelektuelle oder emotionale Beziehung zu dem Gedicht habe. Es handelt sich um ein Gelegenheitsgedicht, zwischendurch geschrieben. Ausgangspunkt war eine Schreibblockade und der Gedanke, wie viel ich täglich wahrnehme und vergesse, ohne dass ein anderer Mensch davon erfährt. Daraus läßt sich natürlich ein philosophischer Diskurs entwickeln - über Ideen, Bilder, ihr Konstruktion und Kommunikation. Deine Ausführungen, charis, habe ich jedenfalls mit Freude gelesen. Andererseits berührt das Thema Wahrnehmen-Vergessen vielleicht Gefühle der Einsamkeit, Vergänglichkeit und Todesangst. Ich weiß nicht, erklärt das Deinen erhöhten Puls, malino? Vielleicht sind's auch die persönlichen Konkretisierungen und die direkte Ansprache des Lesers. Hab jedenfalls versucht, dem Leser in das Gedicht reinzuholen, in Beziehung zu setzen.
Das mit dem EKG-Rhythmus am Schluß war übrigens keine bewußte Absicht. Allerdings hatte ich nach einem rhythmischen Schluß gesucht, der "irgendwie paßt". Ihr habt mir jetzt erklärt, warum er paßt.
Liebe Grüße
Spidertom
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!
-
- Pegasos
- Beiträge: 1105
- Registriert: 25.04.2002, 20:55
- Wohnort: Das Dorf der Dussel an der Düssel
Re: Ungeschriebene Gedichte
Hallo Spinnenmann,
ein schönes Gedicht. Mir gefällt diese melancholische, spätsommerliche Stimmung. Und auch dieses Reflektieren über all die einzigartigen, flüchtigen Augenblicke, die darauf warten, besungen zu werden, über die Vergänglichkeit der wunderbarsten, alltäglichsten Eindrücke.
Und so ein verdammt gutes Gedicht schüttelst du einfach mal eben aus dem Handgelenk, während du in einer Schreibblockade steckst? 8-o 8-o 8-o Also da werd ich echt neidisch – so eine kreative Schreibblockade könnte ich auch gebrauchen.
gelbe grüße
ein schönes Gedicht. Mir gefällt diese melancholische, spätsommerliche Stimmung. Und auch dieses Reflektieren über all die einzigartigen, flüchtigen Augenblicke, die darauf warten, besungen zu werden, über die Vergänglichkeit der wunderbarsten, alltäglichsten Eindrücke.
Und so ein verdammt gutes Gedicht schüttelst du einfach mal eben aus dem Handgelenk, während du in einer Schreibblockade steckst? 8-o 8-o 8-o Also da werd ich echt neidisch – so eine kreative Schreibblockade könnte ich auch gebrauchen.
gelbe grüße
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)
Re: Ungeschriebene Gedichte
Danke auch an Dich, gelbsucht für das Lob. Nein, normalerweise schüttele ich sowas nicht aus dem Ärmel. Mir ging's vielleicht so wie einem Fußballspieler, der lange das Tor nicht mehr getroffen hat und dann aus unmöglichem Winkel einfach mal abzieht - und das Tor dabei trifft. Für die einen göttliche Eingebung, für die anderen das Glück des Dummen.
Spider
Spider
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 80 Gäste