Provokation veraltet

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Silentium
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Provokation veraltet

Beitragvon Silentium » 14.09.2003, 14:42

Einst, in einigen Jahren
wenn wir alt geworden
ist, um Moral zu wahren
die Moral gestorben

Niemand kann mehr provozieren
wenn es niemanden erregt
was bleibt uns, als dumpf zu stieren
der Rebell hat abgelebt

Alle Worte sind gesprochen,
alle Flüche sind getan
die Tabus sind lang gebrochen..
einst fing es als Freiheit an

Es ist des Schicksalirrtum einer:
Wenn alles erlaubt ist,
und du zu laut bist
hört dich keiner
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Hamburger
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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Hamburger » 16.09.2003, 03:14

Hallo Silentium!

Ein schönes Gedicht. Es berührt mich. Es trifft eine diffuse Stimmung in mir, von der ich nicht so recht weiss ob es mir gelingt sie zu Papier zu bringen.
Ich versuche es: Als Klaus Mann seinen Roman Mephisto schieb erklärte später sein Vater Thomas Mann, es sei in solchen Zeiten ein leichtes ein Buch wie dieses zu schreiben. Denn dank der Nazis lebe man in "moralisch eindeutigen Zeiten". Man hatte sich, wollte er damit sagen, zu positionieren - und zwar gegen dieses Verbrecherregime. Als die 68er für ihre linken Gesellschaftsutopien auf die Strasse gingen hatte man sich ebenfalls zu positionieren. Wieder stand das System in Frage. Sicher - und dies um keine Missverständnisse aufkomen zu lassen - ist die Nachkriegsrepublik der späten 60er-Jahre nicht im Entferntesten mit der barbarischen Nazi-Diktatur vergleichbar, aber darum geht es hier auch gar nicht. Worum es geht ist: Das System
Gesellschaft
als solches, seine Werte, Ziele und Mittel standen in Frage.
Dies führte zu meist eindeutigen Positionierungen, für Erhalt oder Zerschlagung des Systems. In dieser Situation hatte die Provokation noch einen ganz anderen Wert als sie heute hat. Oftmals stand sie im Dienste einer Ideologie oder Gegen-Ideologie (Geschwister Scholl - Weisse Rose) wären ein Beispiel aber auch die vor der Kamera praktizierte freie Liebe der 68er) und sie wurde eingesetzt, weil der, der sie einsetzte, bedingungslos an etwas glaubte, was für ihn existenzielle Bedeutung hatte.
Beides ist heute, so empfinde ich es jedenfalls bei der Betrachtung unserer Gesellschaft, bei weitem nicht mehr in dem Maße der Fall wie damals. Wer heute für die Menschenrechte oder was weiss ich was Gutes und Lobenswertes auf die Strasse geht, der hat sich in unserer individualisierten Gesellschaft erst mal mit dem Vorwurf des "praktizierten Gutmenschentums" auseinanderzusetzen.
Ein Gutmensch, das ist in den Augen der Kritiker des Gutmenschen ein dummer Mensch, der sich tatsächlich noch für das Elend der Welt interessiert, für Hunger, Kriege, Katastrophen etc., sich eventuell gar engagiert, veraltete moralische Standards hat und an längst überholte Visionen glaubt. Ein naiver Idealist zum Belächeln also. Eine aussterbende Spezies übrigens.
Denn Provokationen, wenn wir sie streng soziologisch einfach mal als abweichendes Verhalten kennzeichnen sind in einer wesentlich ausdifferenzierteren Gesellschaft, in denen das infrage stellen des Systems nur noch ein müdes Lächeln auslöst (Slogan der MLPD im Bremer Bürgerschaftswahlkampf:"Friede den Hütten
- Krieg den Palästen") auf Dauer schwerer möglich. Nicht nur, weil niemand ernsthaft den Kapitalimus abschaffen will, sondern vor allem auch deshalb, weil abweichendes Verhalten heutzutage leicht kommerziell integriert werden kann. Dies ist - nur ein Beispiel - bei Musikstilen sehr deutlich zu sehen. Der stil "New Meatal", von einer Band deren Name mir entfallen ist hervorgebracht, führte eben auch sofort dazu dass die Plattenfirmen massenhaft Bands antreten ließen, welche - ohne den Stil weiterzuentwickeln - mehr oder weniger alle das Gleiche spielten. Und schon wird man damit zugeballert, aus Independent und Nische wird Werbung und Vermarktung und jedwedes Anliegen, dass diesem Stil zugrunde gelegen haben mag, verblasst.
Solche Trends führen aber auch dazu, dass Provokationen keine wirkliche Aussage mehr enthalten müssen. Ihnen muss keine Vision zugrunde liegen und die Provokateure müssen sie nicht aus existenziellen Beweggründen hervorgebracht haben. Provokationen müssen nur noch eines sein: massenkompatibel.
Daher schreien sich wildfremde Menschen nachmittags in Talk- und Gerichtsshows an, daher putzen sie sich in einem Menschenzoo die Zähne und voten gegen Mitbewohner, mit denen sie gestern noch, beobachtet aus 5 Kameraperspektiven, innigst und tief bewegt über die Sehnsucht nach Sex gesprochen haben. Jedem seine 15.Minuten, 15.Stunden, 15.Tage, meinetegen auch sein Jahr Ruhm. Dann aber Schluss. Frischfleisch muss her. Eine neue Sau muss durchs Dorf getrieben werden. Jede Provokation kann noch platter, noch weniger subtil, noch variantenreicher vorgetragen werden. An diesem Spiel zu verdienen ist der Zweck, dazu ist die Provokation verkommen. Oder provoziere ich jemanden, wenn ich sage, dass es gerade 30.Kriege auf der Welt gibt, jetzt in diesem Moment? Wen treffe ich denn noch mitten ins Herz, wenn ich sage dass 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt kein Zugang zu sauberem Trinkwasser haben?
Ist es nicht wesentlich wichtiger live und exclusiv dabei zuzusehen wie Daniel Küblbock seine Führerscheinprüfung
besteht?

Noch einiges zum Gedicht selbst:

Einst, in einigen Jahren


Ist nicht so schön formuliert. "Einst" weist eher auf die Vergangenheit hin, "in einigen Jahren" auf die Zukunft.


ist, um Moral zu wahren
die Moral gestorben


Klingt wunderbar. Eine meiner Lieblingsstellen. Bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig interretiere. Heisst das so viel wie: Die Norm wird sein, dass es keine Norm mehr gibt?


Niemand kann mehr provozieren
wenn es niemanden erregt
was bleibt uns, als dumpf zu stieren
der Rebell hat abgelebt


Das doppelte "niemand" stört etwas. Ansonsten eine sehr schöne, innovative Strophe.



Alle Worte sind gesprochen,
alle Flüche sind getan
die Tabus sind lang gebrochen..
einst fing es als Freiheit an


Gefällt mir ebenfalls sehr gut. Einzig und allein die drei Punkte würden sich hinter der letzten Zeile besser machen und die Wirkung erhöhen. (Ich hab doch auch an allem was zu mäkeln...)


Es ist des Schicksalirrtum einer:
Wenn alles erlaubt ist,
und du zu laut bist
hört dich keiner


Diese schwächste Strophe. Die erste Zeile ist sehr umständlich formuliert. Ausserdem frage ich mich, warum du von Irrtum
redest. Du willst ja sagen: "Wenn alles erlaubt bist, und du zu laut bist, hört dich keiner." Das widerspricht sich.
Die Aussage selber zweifele ich an. Es hören dich sehr sehr viele. Sofern dein Anliegen massenkompatibel, sprich kommerziell integrierbar und leicht zu konsumieren ist. Es geht nur nicht mehr um Existenzielles, weder für die Provokateure noch für die Konsumenten.

Mein Gott, jetzt hast du mal gesehen was man mit einem guten Gedicht bei mir alles auslösen kann. Danke, Silentium. Dieses Gedicht hat mir die Möglichkeit gegeben meine nebulöse Gefühlswelt mal ein bisschen in Worte zu fassen. Es ist mir hoffentlich einigermaßen gelungen.

Gute Nacht,

Hamburger
"If it's a hit? - Yeah, that's me! If it's a miss? - Yeah, that's me!" (Robert Palmer)

Silentium
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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Silentium » 16.09.2003, 15:47

Hallo Hamburger!

Danke für die Kritik. Deine Interpretation trifft die beabsichtige Aussage ziemlich genau. Wenigstens einer :-\ (ich hab's zwei Freunde lesen lassen. Der eine hat gefragt, ob das ein Nachruf auf die 68er sein soll, die älter und verspießter werden, der andere hat gemeint, ich versuche damit, die allgemeine Redefreiheit einzuschränken und würde einen auf Moralapostel machen und für mehr Gesittung plädieren...)

Zur Form... das das mit
"einst, in einigen Jahren" komisch klingt, seh ich. Fällt dir vielleicht eine Zeitbeschreibung mit einer Silbe ein, damit es sich vom denen her ausgeht? "Dann?", "Spät" (hm...obwohls ja eigentlich nicht so spät ist... herrschaftszeitenauchnocheinmal!)

Zitat:
Bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig interretiere. Heisst das so viel wie: Die Norm wird sein, dass es keine Norm mehr gibt?


Hm-hm, heitß es. Ja.

Das doppelte Niemand war eigentlich Absicht, um es herauszuheben. Aber eigentlich... ja, werd's wahrscheinlich entfernen.

Und das mit dem Schicksalsirtum.
Ist schon mal falsch formuliert.
Eigentlich wollte ich sagen, dass sich das Schicksal geirrt hat, die sache so einzurichten. (des Schicksals Irrtum).
"Hört dich keiner" meint eigentlich, dass man keine Aussage mehr hat, die gehört werden kann. Ich hab' am Schluss zu einem umarmenden Reim gegriffen, um ihn ein bisschen abzuhe... ach gottchen, ich versuche da doch nicht etwa, mich zu rechtfertigen? Ich weiß nicht, es schadet aber sicher nicht, wenn ich einfach mit dem "als Freiheit an" aufhöre, quasi Problemlösung durch ignorieren. (mit ... dahinter :-D)

Also noch mal danke für die Hilfe,
Silentium
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Auf Eulen Schwingen
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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 25.12.2003, 11:50

Salute, Silentium,

stöbere gerade ein bisschen in poetischen Texten herum. Der JWG hat in seinen Rom-Elegien das "einst" futurisch und (weil es eine antike Stadt ist) auch ein wenig überzeitlich-retrospektiv gesetzt:

Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!
Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern,
Ewige Roma; nur mir schweiget noch alles so still.
O wer flüstert mir zu, an welchem Fenster erblick ich
Einst das holde Geschöpf, das mich versengend erquickt?
Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer,
Zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit?

Tja, und dann hat er wohl wirklich eine köstliche Zeit erlebt. Und Dein Text arbeitet genaugenommen mit einer Vorschau und einer Rückschau. Eine interessante Textwarte, die da installiert wurde.

white greetings
aes
aes
(auf!eulen schwingen)

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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Silentium » 25.12.2003, 15:59

Hallo Aes!

Soweit ich mich erinnere, hatte ich damals beim "einst" irgendwie Die beiden Grenadier im Hinterkopf, wo es heißt:

So will ich liegen und horchen still,
Wie eine Schildwach, im Grabe,
Bis einst ich höre Kanonengebrüll
Und wiehernder Rosse Getrabe.

Irgendwie war die Weltuntergangsstimmung zur Zeit Napoleons da meine Querverbindung. Damals zerfiel denen ihre Welt zwischen den Händen, weil sie so mit Blut aufgeweicht war, heute zerbröselt sie von Fadesse.
Hm... der gute Goethe- irgendwie passt das "Ewige Rom" auch hinein, man denke an Nostradamus: wenn der Papst Rom barfuß verlässt... äh, jetzt gleitet dass ab ins esoterische, was selten gut sein kann.

Grübelnde Grüße, Silentium
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Flocke
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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Flocke » 26.12.2003, 17:53

Hallo, Silentium.
Auch mir gefällt dein Gedicht, hast eine gute Idee umgesetzt und ich kann mich in den meisten Punkten den anderen anschließen.
Ich finde es immer schwierig, in Reimen zu dichten, denn dann sollten m. E. der Rhythmus und die Silbenzahl stimmen. Vielleicht bin ich pedantisch, was das angeht, aber ich finde, in dieser Hinsicht solltest du den Text nochmal überarbeiten.
Aber ein paar Sachen sind mir schon aufgefallen:

1. Strophe
Das "einst" stört mich gar nicht, im Gegenteil. Ich kenne es auch als Zukunftswort, es ist aber mehr älterer Sprachgebrauch. In dem Zusammenhang paßt es gut zu "Moral", das ist ja auch eher konservativ belegt.
Eher finde ich "in einigen Jahren" etwas unbefriedigend, kommt wahrscheinlich auf die Zeitspanne an, die du darstellen willst. Wann fängt bei dir "einst" in der Zukunft an? Habe leider kein passendes Wort in meinem SynWöBu gefunden...

In der dritten Zeile könntest du noch ein "die" einfügen, das wirkt m.E. besser.
"ist, um die Moral zu wahren"
oder
"ist, um ihr Gesicht zu wahren"

2. Strophe
Das doppelte "niemand" stört mich auch, ersetze es in der zweiten Zeile doch einfach durch "keinen mehr", das paßt auch in deinen Rhythmus.

3. Strophe
Würde nur ein "längst" einfügen, "lang" klingt ein bißchen seltsam in der Zeile.
"die Tabus sind längst gebrochen"

4. Strophe
Würde ich ganz weglassen, sagt m.E. nichts aus, was nicht schon in den anderen drinsteckt. Für mich liest es sich besser ohne sie. Aber das mußt du entscheiden.

Wie gesagt, ein gutes Gedicht... :-))

Liebe Grüße
Flocke
...Der den Wind kennt / besser als alle Bücher / den Baum / frag nach Wahrheit...

Silentium
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Re: Provokation veraltet

Beitragvon Silentium » 27.12.2003, 00:08

Hi Flocke!

Jaja, an den verfluchten Reimen arbeite ich noch.
Ich weiß nicht- füg mal das "die" vor Moral ein und lies das laut? Eiert dass nicht auch ein bisschen? Ich weiß es wirklich nicht- ich hab mir das damals halt eingebildet und drum das die gestrichen.
Beim Rest dürftest du recht haben, vor allem was das ermorden der letzten Strophe angeht. Ist schon lang- längst- gestrichen.
Danke für die Reimeinschätzung! :-)

Ferientrunkene Grüße, Silentium
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon


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