Von Wahrheit und Lüge

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Silentium
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Von Wahrheit und Lüge

Beitragvon Silentium » 16.09.2003, 16:16

Ein längerer Erguss...



Sieg über den Minotaurus

Man fragte dich nach dem Weg durch die Sümpfe
die sich erstreckten, augenweit
und du rietest ihnen falsch
den Weg durch den Moder
denn hinter dem grauen Meer
verbargest du ihn:
(eingesperrt im Labyrinth aus falschen Worten)
deinen persönlichen Minotaurus
den du gezeugt durch eine winzige Unwahrheit
mit der hungernden Hure Gier

Er hätte dich entblößt
in seiner gedankenlosen, arglosen Art.
Das war es, was du fürchtetest:
er hätte jeden deiner Makel
(den geringsten unterschiedslos neben dem größten)
aufgezeigt vor dem Auge der Welt
Das war es das du fürchtetest-
Und, gestehst du?

So kamen sie
die dich fragten,
schon mit Misstrauen in der Stimme
doch gefügig
weil man ihnen befahl
- irgendein Herr, den du nie kanntest
der auch nun nicht von Belangen ist-
nie wieder aus den Sümpfen

Und du fochtest schließlich
verfolgt von deinen Erinnyen
den Kampf gegen den stierköpfigen Sohn
und du siegtest, weil dir ein Freund zur Seite stand
und du vertriebst die Lüge von dir
und du kehrtest heim
die Leiche des Freundes in Armen

Die Frau des Freundes
die ein Kind unterm Herzen
sie kam dir entgegen,
des eilenden Schrittes
getragen von grauen Flügeln
in denen je eine schwanenschwarze Feder Hoffnung
und eine krähenweiße Bangen war



Nur das Bangen erfüllte sich
als du ihn vor ihre Füße legtest
den toten Freund
Und sie bat dich, zu berichten

Du hättest nun lügen können, wie du weißt:
ihr erzählen, in falschen
klug gewählten Worten
wie heldenhaft er war
der Freund
wie stark er war
der Freund
wie schnell und schmerzlos er war
sein Tod.

Doch du, der du die Lüge besiegtest
sprachst nun endlich die Wahrheit:
Dass er auf der feigen Flucht erschlagen
von seinem eigenem Sohn
dem Bastard, der dem deinen ein Bruder war
dass er geweint vor Angst, in sinnloser Eigensucht
und an deiner Brust schließlich verblutet

Das berichtetest du ihr.

Und sie, das Haar nun schlohweiß
ging hinunter zum Fluss
und am nächsten Morgen spie das Gewässer sie aus
jenseits der Sümpfe liegt sie begraben

Doch du, frohlocke:
denn du bist reinen Gewissens
du sprachest die Wahrheit
zum ersten Mal

Zum ersten Mal-
du unendlicher Narr!
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

gelbsucht
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Re: Von Wahrheit und Lüge

Beitragvon gelbsucht » 04.10.2003, 18:14

Hallo Silentium,

also erst einmal verwirrt mich etwas die Handlung! Ich fasse einmal zusammen: irgendwelche, nicht näher beschriebenen Personen fragen das lyrische Du (wie ungewöhnlich!) nach dem Weg durch die Sümpfe. Aber sie rennen ins Verderben, weil das lyrische Du sie belügt. Denn es verbirgt irgendwo in den Sümpfen sein persönliches Ungeheuer, das aus Gier und Unwahrheit gezeugt wurde. Dieses Tier hat anscheinend die Macht das lyrische Du bloßzustellen. Dann beginnt der Kampf gegen das Ungeheuer, ein Freund steht dem lyrischen Du dabei zur Seite. Der Minotaurus wird besiegt (und damit symbolisch auch die Lüge), aber der Freund fällt. Das lyrische Du schleppt den Leichnam des Freundes zu seiner Frau. Anstatt ihr einen beschönigten Bericht zu liefern, konfrontiert das lyrische Du sie mit der nackten, harten Wahrheit, woraufhin sie sich in den Tod stürzt.

Meine Frage: geht es nicht vielleicht noch etwas komplizierter? Ich meine, die Idee mit dem Sumpf und dem Minotaurus, den Erinnyen – den Widerstreit von Lüge und Gewissen widerspiegelnd – das ist ja nicht schlecht! Aber wozu die Personen am Anfang, wozu der Freund, wozu der Sohn des Freundes, der ihn erschlägt, wozu die Frau, die sich anschließend selbst umbringt. Das erscheint mir alles reichlich überflüssig. Damit erzeugst du bei mir auch keine Spannung und Tragik, sondern eher widerstrebende Skepsis.

Außerdem ist die Sprache, um die du dich bemühst, ziemlich gestelzt und behäbig, umständlich und unnatürlich. Ein paar Beispiele:
Man fragte dich nach dem Weg durch die Sümpfe
die sich erstreckten, augenweit
und du rietest ihnen falsch

... Minotaurus
den du gezeugt

der auch nun nicht von Belangen ist

und du siegtest, weil dir ein Freund zur Seite stand

Die Frau des Freundes
die ein Kind unterm Herzen
sie kam dir entgegen,
des eilenden Schrittes

Doch du, frohlocke:
denn du bist reinen Gewissens

Ich weiß nicht, was du damit bezweckst. Wozu der Pathos? Wozu diese aufgesetzte Erzählweise, die bei deinem Leser nur einen großen Abstand zur Handlung und zu den Handelnden erzeugt? Hinzu kommt die Anrede mit "du", was den seltsamen Eindruck noch verstärkt. Ein lyrisches Ich oder ein personale Erzählperspektive ("Er") würden dem Gedicht, denke ich, gut tun. Wie stark würde der letzte Satz wirken, wenn ein verzweifeltes, im Inneren zerrissenes "Ich" ihn hervorbringen würde: "Zum ersten Mal, ich unendlicher Narr!"

Das sind meine Hauptkritikpunkte. Jetzt aus der Abteilung Gemischtes:
denn hinter dem grauen Meer
verbargest du ihn:
(eingesperrt im Labyrinth aus falschen Worten)
deinen persönlichen Minotaurus
den du gezeugt durch eine winzige Unwahrheit
mit der hungernden Hure Gier

Wie gesagt, diese Idee gefällt mir. Besonders die Formulierung "gezeugt ... mit der hungernden Hure Gier" gefällt mir. Das hat Sound. Das "graue Meer" finde ich überflüssig, wo vorher von Sumpf und Moder die Rede war. Man kann es mit den Bilder auch übertreiben. Ebenso mit den Adjektiven: "aus falschen Worten" und "winzige Unwahrheit". Auch hier ist weniger mehr. Oder suche nach unverbrauchteren Adjektiv-Substantiv-Kombinationen.
in seiner gedankenlosen, arglosen Art

Gut!
(den geringsten unterschiedslos neben dem größten)

Auch gut! Warum nur in Klammern?
Das war es das du fürchtetest

Doppelt! Nicht so gut!
er hätte jeden deiner Makel
aufgezeigt vor dem Auge der Welt

Nee, das ist nicht mein Ding. Der Sinn dahinter ist okay, aber es müsste anders umschrieben werden. Das liegt wiederum an der behäbigen, unnatürlichen Sprechweise.
Und, gestehst du?

Das ist sehr gut! Einer der wenigen Stellen, wo das "Du" von Vorteil ist.
So kamen sie
die dich fragten,
schon mit Misstrauen in der Stimme
doch gefügig
weil man ihnen befahl
- irgendein Herr, den du nie kanntest
der auch nun nicht von Belangen ist-
nie wieder aus den Sümpfen

Der ganze Absatz ist verkorkst. Zu viele Einschübe und Verschachtelungen. Wozu erzählst du von dem Herrn, wenn er ohnehin nicht von Belang ist? Was schert mich das? Wozu erklärst du die Motive derer, die nicht wiederkommen? Wozu ist das wichtig?
Und du fochtest schließlich
den Kampf gegen den stierköpfigen Sohn
und du siegtest, weil dir ein Freund zur Seite stand
und du vertriebst die Lüge von dir
und du kehrtest heim
die Leiche des Freundes in Armen

Die Frau des Freundes
die ein Kind unterm Herzen
sie kam dir entgegen,
des eilenden Schrittes
getragen von grauen Flügeln

Sehr pathetisch und ganz und gar nicht mein Fall!!!
verfolgt von deinen Erinnyen

Gut! Der griechische Mythos macht mich einfach schwach ... dafür werden dich andere Leser fragend anschauen: "Erinnyen, was is'n das?" Das ist dir klar, oder?
in denen je eine schwanenschwarze Feder Hoffnung
und eine krähenweiße Bangen war

Das ist verdammt gut. Die Vertauschung frischt es derart auf, dass die schwarz-weißen Federn Hoffnung und Bangen nicht kitschig wirken.
Dass er auf der feigen Flucht erschlagen
von seinem eigenem Sohn
dem Bastard, der dem deinen ein Bruder war

Also hier blicke ich durch die verwandtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr durch! Der Freund des lyrischen Du wird von seinem eigenen Sohn erschlagen. Dieser Sohn ist nicht nur ein Bastard, sondern auch der Bruder vom Sohn des lyrischen Du??? So zumindest lese ich: "dem deinen". Nämlich: deinem Sohn ein Bruder. Und was soll das? Wozu diese ganzen Verwicklungen und inzestuösen Familienverhältnisse?
dass er geweint vor Angst, in sinnloser Eigensucht
und an deiner Brust schließlich verblutet

Und sie, das Haar nun schlohweiß
ging hinunter zum Fluss
und am nächsten Morgen spie das Gewässer sie aus
jenseits der Sümpfe liegt sie begraben

Pathos-Alarm! Tut mir leid, das löst in mir absolut nichts nada niente aus. Das einzig brauchbare an diesen zwei Stellen ist die vorletzte zitierte Zeile.
Zum ersten Mal-
du unendlicher Narr!

Hat was! Allerdings ist es meine Überzeugung, dass du dir eine andere Szenerie suchen oder erschaffen müsstest, um die fatalen Folgen des ersten Wahrheitsbekenntnisses zu veranschaulichen. Eine Szenerie, die weniger kompliziert und daher glaubwürdiger und nachvollziehbarer ist.

;-) gelbe grüße :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: Von Wahrheit und Lüge

Beitragvon Spiderman » 04.10.2003, 18:29

Vorweg, silentium, ich hab's nicht bis zum Ende geschafft, möchte Dir aber meinen Eindruck doch vermitteln.

Ich habe eine Längsfalte auf der Stirn überhalb der Nase, die sehr sensitiv auf Belastungen jeder Art reagiert. Genau diese Falte wurde beim Lesen immer tiefer und tiefer. Hätte ich zuende gelesen, hätten sich vermutlich Spannungskopfschmerzen entwickelt. Das klingt sehr böse und hart, ist es auch. Der Text ist ziemlich anstrengend. Es ist vedammt schwierig mitzukommen und sich einen Reim aus dem Geschehen zu machen. Es ist ein sehr bemühter Text, der m.E. am eigenen Anspruch scheitert. Weniger wäre mehr gewesen.

Nix für ungut:

Spiderman
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

Silentium
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Re: Von Wahrheit und Lüge

Beitragvon Silentium » 05.10.2003, 12:18

Mhm-hm. Zu lang, zu verklausuliert, viel zu pathetisch. Seh' ich wohl oder übel absolut ein. Hab's als Hausübung für einen Deutschprofessor geschrieben, der fürchterlich auf Pathos steht. Je weniger der Kerl versteht, um so mehr kann er damit anfangen, interessanterweise. Und später wusste ich dann nimmer, wie für den Hausgebrauch wegstreichen. Immerhin weiß ich jetzt, welche paar Silben brauchbar sind. Danke.

Und...
Der Sohn des Freundes, der dem deinen ein Bruder war... hab' gemeint, der Freund hat quasi auch so einen Minotaurus, quasi Lügengeflecht. Naja, streich ich vielleicht besser.
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon


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