Cocktailbar 2003

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Spiderman
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Cocktailbar 2003

Beitragvon Spiderman » 12.10.2003, 23:45

Cocktailbar 2003

„wir tanzten bis zum Ende
zum Herzschlag der besten Musik
jeden Abend jeden Tag
wir dachten fast es wäre ein Sieg"
Fehlfarben / Das war vor Jahren


Der Lemon-Mond hat die Coca-Cola-Sonne ersetzt,
jetzt könnten wir tanzen, doch glauben wir nicht,
dass sich irgendwas irgendwie noch bewegt,
wir lassen's und trinken unser Wodka-Gemisch.

Deine Hand nähm ich gerne, doch hemmt mich die Angst,
sie danach auch zu halten. Das war immer schon so,
was soll's? Stahl ist Stahl und Beton ist Beton,
der Glanz der Republik geht uns längst nichts mehr an.

Die Eigenverantwortung gestärkt, die Schuld neu verteilt,
wir sehen nach vorn und es geht nicht voran,
wie ein lebensmüdes Kind im Hobbykeller am Strick
hängt bei Nebel und Nacht in der Luft unser Blick.
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

gelbsucht
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Re: Cocktailbar 2003

Beitragvon gelbsucht » 13.10.2003, 22:37

Hallo Spider,

aus irgendeinem Grund musste ich bei diesem Gedicht zuerst an die Worte von malino denken, mit denen sie "Nichts als Gespenster" quittiert hat:
Ich hab diese selbsverliebte, orientierungslose Passivität irgendwie satt. Das Schlimme ist, das ich manchmal Sätze schreibe und denke, scheiße, woran erinnert mich das bloß. Ist schon der "Sound" meiner Generation, aber vielleicht geht mir ja auch meine Generation auf die Nerven, inklusive mir selber?

Das ist schon ein merkwürdiges Ding mit den Assoziationen!

Nichtsdestotrotz hast du hiermit, wie ich meine, wieder ein sehr gelungenes Gedicht vorgelegt, ein Gedicht, das mir, seit du es hier hereingestellt hast, nicht mehr aus dem Kopf gehen will, ein Gedicht, das sich festsetzt und zum Nachdenken anregt. Die Resignation, der Stillstand, die Gleichgültigkeit, die Lähmung und Angst, die – vielleicht gesamtgesellschaftliche – Depression von der es handelt, halte ich thematisch für äußerst interessant. Ich finde das Gedicht hat einen sehr politischen oder vielmehr nicht politischen, sondern gesellschaftskritischen Ton. Politik und Gesellschaft (oder sagen wir: Politik und Volk oder Herrscher und Beherrschte) das scheint sich immer weiter voneinander zu entfernen: ein Gesellschaft, die immer individualistischer und pluralistischer wird; keine festen, sicheren Strukturen (Kirche, Familie oder das Unternehmen, in dem man ein Leben lang arbeitet) mehr, an denen sich die Menschen orientieren können; keine großen, gesamtgesellschaftlichen Ziele mehr (außer sog. "Reformen"); Arbeitslosigkeit, Rezession, Politikverdrossenheit, die Flucht ins Private ... Das scheint dein Gedicht anzureißen, zu spiegeln. Wie immer bewältigst du dieses – schwierige und komplexe – Thema mit einer sprachlichen Selbstsicherheit, wie wir sie von dir gewohnt sind.
Der Lemon-Mond hat die Coca-Cola-Sonne ersetzt,

Schon in diesen Worten steckt viel Melancholie: der Mond ersetzt die Sonne, das Wodka-Gemisch das nicht-alkoholische Getränk. Vielleicht geht es hier auch ums Erwachsenwerden oder es ist wirklich von der Flucht in Nacht, Trübsinn und Betäubung (durch Alkohol) die Rede.
jetzt könnten wir tanzen, doch glauben wir nicht,
dass sich irgendwas irgendwie noch bewegt,

Wir glauben nicht mehr, dass sich noch etwas bewegt. Unser Glaube an Fortschritt, an Veränderung, an Bewegung versagt. Vernichtender, resignierender, nihilistischer kann man es kaum ausdrücken.
wir lassen's und trinken unser Wodka-Gemisch.

Gerade diese kleinen Partikel wie "wir lassen's" oder wie "was soll's" finde ich sprachlich sehr schön. Besonders in diesem Gedicht passen sie unheimlich gut und veranschaulichen eine sehr lässige, abwinkende Bewegung, mit der schnell etwas abgetan wird – oder ein Achselzucken.
Deine Hand nähm ich gerne, doch hemmt mich die Angst,
sie danach auch zu halten. Das war immer schon so,

Die Angst, etwas zu halten oder es zu halten und dann die Angst davor, es zu verlieren. Die Angst vor Nähe oder vor Verantwortung?
was soll's? Stahl ist Stahl und Beton ist Beton,
der Glanz der Republik geht uns längst nichts mehr an.

Hier wird das Gedicht seltsam. Hier ist ein Sprung – aus dem privaten Raum springst du plötzlich ins Große, ins Architektonische, ins Staatliche. "Stahl ist Stahl und Beton ist Beton, der Glanz der Republik geht uns längst nicht mehr an." Der Satz ist auch noch aus einem anderen Grund seltsam, denn es kommt mir vor, als würdest du hier vom "Arbeiter- und Bauernstaat", der ehemaligen DDR, reden und nicht von der wiedervereinten Nation mit ihren aktuellen Problemen (obwohl es ja gerade der Bauwirtschaft im Augenblick ziemlich dreckig geht). Und weißt du woran mich das erinnert? An den Zustand der DDR Ende der Achtziger Jahre – in dieser Zeit gab es auch eine Phase des Missmutes, der Unzufriedenheit und der Resignation, die keine Propaganda der Partei und kein Geschwätz von der Erfüllung der Soll-Pläne beheben konnte. Wahrscheinlich ist dieser Vergleich jenseits jeder "political correctness", aber die Kluft zwischen Politikern und Bürgern heute erinnert mich an damals. Die Unzufriedenheit, die Verdrossenheit und der Zynismus ähneln sich.
Die Eigenverantwortung gestärkt, die Schuld neu verteilt,

Das klingt wiederum etwas aktueller. Unsere "Eigenverantwortung" wird ja durch jede neue politische Reform gestärkt. Wieder so ein positives Wort, hinter dem sich etwas weniger angenehmes verbirgt: nämlich weitere Belastungen, die auf die privaten Haushalte zukommen. Bei dem Satz "die Schuld neu verteilt" muss ich an die immer wieder aufflammenden Diskussionen über "die Schuld der Deutschen" denken ... Anderseits: oft schieben sich ja auch Politik und Wirtschaft immer wieder den "schwarzen Peter" in die Schuhe für die augenblickliche Krise. Das passt vielleicht noch besser!
wir sehen nach vorn und es geht nicht voran,

Herrlich! Ein wunderbar zynischer Einwurf. Zweckoptimismus und eine Realpolitik, die sich bei ihren Steuer- und Wachstumsprognosen immer wieder vertut.
wie ein lebensmüdes Kind im Hobbykeller am Strick
hängt bei Nebel und Nacht in der Luft unser Blick.

Also das Bild mit dem lebensmüden Kind find ich etwas seltsam. Das riecht mir zu sehr nach Effekthascherei, wo Effekthascherei gar nicht nötig ist. Das Bild mit dem Blick, der bei Nebel und Nacht in der Luft hängt, ist anderseits wieder sehr gelungen.

Well done!

Zum Schluss noch eine Frage: Warum heißt das Gedicht "Cocktailbar 2003"? Gibt es von dir ein gleichnamiges Vorgängergedicht?

;-) gelb :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

gelbsucht
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Re: Cocktailbar 2003

Beitragvon gelbsucht » 13.10.2003, 23:44

Verdammt, ich hör gerade dieses Lied im Radio und muss schon wieder schmunzeln und an dein Gedicht denken. Das Lied ist von den Beginnern, heißt "Gustav Gans" und der Refrain geht so:
So sieht's aus - wozu der ganze Schwermut?
Hör lieber zu, blick nach vorn und fühl Dich sehr gut.
Ja, das Leben ist hart und manchmal kaltblütig,
doch wir nehmen den Scheiß locker und leichtfüßig.
Ja, so sieht es aus - uns geht es besser denn je.

...

So sieht's aus - wozu der ganze Schwermut?
Hör lieber zu, blick nach vorn und fühl Dich sehr gut.
Wir wollen nicht jammern - nein. Und keinem geht's beschissen,
Wollen neue Ufer erreichen und dafür Segel hissen.

...

Wir wollen nicht jammern - uns geht es besser denn je,
Wir sagen "Ja, Mann" - uns geht es besser denn je.

;-) gelb :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

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Re: Cocktailbar 2003

Beitragvon Spiderman » 16.10.2003, 22:36

Hallo Gelb,

danke für Deinen Kommentar. Sowohl mit dem Lob, als auch mit der Kritik kann ich etwas anfangen. In Deiner Interpretation finde ich viele Gedanken wieder, die ich beim Schreiben des Gedichtes hatte. Das Gedicht, so wie es hier steht, ist erst mal so was wie eine Rohfassung. Ich wollte gucken, ob der Ansatz funktioniert. Prima, er scheint zu funktionieren.

Ob es sich um den "Sound" meiner/unserer Generation handelt? Keine Ahnung. Die Idee zu dem Text kam mir beim Hören der Fehlfarben-CD "Monarchie und Alltag" und die stammt aus dem Jahr 1980. In den 20 Jahr alten Texten spiegelt sich auch diese "selbstverliebte, orientierungslose Passivität" wider, auch eine Verunsicherung in den privaten und politischen Realitäten, eine Verunsicherung in der Identität. Wofür stehe ich? Wofür halte ich meinen Kopf hin? An was kann ich noch glauben? Lohnt sich überhaupt noch irgend etwas? So generationstypisch sind die Themen vielleicht gar nicht oder die Fehlfarben waren einfach ihrer Zeit voraus. Aus "Das war vor Jahren" stehen ja vier Zeilen ja bereits am Anfang meines Gedichts. Ich stelle ihn hier mal vollständig rein:
die mädels stellen den jungen nach im schatten der altbierreklamen. du siehst dich so wie du willst. du hörst nur noch auf neue namen. wir tanzten bis zum ende zum herzschlag der besten musik. jeden abend jeden tag. wir dachten fast es wär ein sieg. das war vor jahren das war vor jahren. die coca cola sonne scheint aufs neue auf den glanz unserer republik. es gibt bei uns leute die finden das chic.



Was in anderen Fehlfarben-Texten noch deutlicher ist, sind die Sprünge von privaten in politische Räume und umgekehrt. Das fand ich für mich spannend, weil sich so die Trennung "intime, privat erscheiende Lyrik" - "politische Lyrik" aushebeln läßt. Das eine spiegelt sich im anderen wider. Besonders gut finde ich das im Text "paul ist tot":

ich schau mich um und seh nur ruinen. vielleicht liegt es daran dass mir irgendetwas fehlt. ich warte darauf dass du auf mich zukommst. vielleicht merk ich dann dass es auch anders geht. dann stehst du neben mir und wir flippern zusammen. paul ist tot kein freispiel drin. ein fernseher läuft taub und stumm. ich warte auf die frage wohin. was ich haben will das krieg ich nicht und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht. ich traue mich nicht laut zu denken. ich zögere nur und drehe mich schnell um. es ist zu spät das glas ist leer. du gehst mit dem kellner und ich weiß genau warum. was ich haben will das krieg ich nicht, und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht. ich will nicht was ich seh ich will was ich erträume. ich bin mir nicht sicher ob ich mit dir nicht etwas versäume.


Zurück zu mir. An manchen Stellen finde ich mein Gedicht noch verbesserungswürdig. Die Stelle "Stahl ist Stahl und Beton ist Beton" ist - naja - ich weiß nicht so recht, weiß eigentlich nicht, was ich damit überhaupt sagen wollte. Die werde ich nochmal überdenken. Die Zeile "Die Eigenverantwortung gestärkt, die Schuld neu verteilt" ist was die Eigenverantwortung angeht, gut bei Dir rübergekommen. "Eigenverantwortung" ist wirklich ein furchtbares Wort und bedeutet meistens nichts anderes, als dass sich Menschen nicht mehr füreinander verantwortlich fühlen. Bei "die Schuld neu verteilt" hatte ich allerdings nicht DIE Schuld der Deutschen im Blick. Ich wollte mich dabei auf die gesellschaftliche Tendenz beziehen, dass die Schuld am Leid mehr den Leidenden zugeschoben wird. Der Sozialhilfeempfänger ist dafür verantwortlich, dass er arm ist, und nicht die Umstände in einer kapitalistischen Gesellschaft. Und dann ist da noch die Stelle "wie ein lebensmüdes Kind im Hobbykeller am Strick": okay, ich geb's zu, das war Effekthascherei. Die Zeile wird durch eine bessere ersetzt. Versprochen.

Soweit erstmal, demnächst poste ich eine überarbeitete Version des Gedichts

Spider

P.S. Ach das mit dem Titel "Cocktailbar 2003" ist eher eine Verlegenheitslösung. Hatte gerade keinen anderen Titel parat. Hat keinen tieferen Sinn, außer dass in der ersten Strophe mal Wodka Lemon vorkommt.
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

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Re: Cocktailbar 2003

Beitragvon charis » 17.10.2003, 00:03

na geh, was lässt du uns rezensentInnen nicht etwas mehr zeit, ohne alle internen karten aufzudecken... da glaubt frau, zeit zu haben, aber nein...

den titel cocktailbar 2003 finde ich sehr gut, wenngleihc es also ein zufallstreffer sein dürfte. was gibt es beliebigeres als die ewigbunte mixtur alkolischer und fruchtreicher ingredienzien, das immergleiche mit neuen namen versehen...
(wobei ich nichts gegen einen guten mojito einzuwenden habe ;-) )

was ist die "coca-cola-sonne"?? hab ich da was verpasst? hat coca cola eine sonne im logo?

der rhythmus passt nicht so ganz in deinem gedicht. auffallend dabei das schwierig zu lesende (und auch nicht gar so originelle "irgendwas irgendwie noch" - etwas sperrig.

leider gefällt mir das "vorn/voran" wortspiel nicht, kann ich aber jetzt nicht begründen warum.

das lebensmüde kind find ich ganz unpassend, weil die generation, die du beschreibst, leider nicht mehr kind sein darf, zumindest ist das meine auffassung, klar, vieles ist beliebig geworden, austauschbar, aber der verantwortung (vor wem, für wen?) scheinen wir uns nicht entziehen zu können, und gerade das drängt uns in die ewige sehnsucht nach dem verdrängen an den langen bars austauschbarer großstädte.

ausserdem ist die entscheidung zum selbstmord eine für die generation X (oder wie sie auch immer benannt werden soll) zu große, zu gewaltige, um sie jemals fällen zu können. selbtsmord ist nicht beliebig, meine ich.

insgesamt halte ich das gedicht aber für nicht übel, nur irgendwie hat es einen zu beiläufigen charakter, der sich zwar thematisch aufdrängt, sich aber in der umsetzung rächt.

(ich hoffe, irgendwer kapiert jetzt, wie ich das zeug mein, das ich da so schreibe... bin nämlich grad leicht beschwipst ;-) )

cheers
charis


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