Der Gesang der fünf Pilger

Du schreibst Gedichte? Laß sie nicht in einer Schublade verschimmeln! Menschenbeifall wirst Du hier finden, aber auch Kritik und Rat.
Auf Eulen Schwingen
Sphinx
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Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 27.10.2003, 18:01

Die Suche nach der Seeligkeit
(Eine Miniszene)


Geschrieben 2003 von einem barocke Lyrik liebenden Poeten. Als Ort des aktuellen Vortrages ist eine Waldlichtung zu denken. Dort findet sich auf einem steinernen Sockel ein großes, verglastes Bild in barocker Manier, das Herr, Teufel und Engel zeigt.

Die fünf Ausführenden (Erster, zweiter und dritter Tenor; Erster und zweiter Diskant) haben Ministrantenkutten an, sie stehen in einer Reihe vor dem Bild. Das Publikum schweigt.

Tenor 1 (tritt nach links vor, behäbig):

Gibt es des Jenseits Seeligkeit?
Sticht sie die Lust der Lende?
Ich pilgre zweifelnd durch die Zeit
bis an mein Lebens-Ende.

Discant 1 (bleibt beim Bildstock stehen, gläubig-aufgeregt auf das Bildnis deutend, das am unteren rechten Rand den rotzüngelnden Satan aufweist):

Ein HERRlich Reich hast DU kre-ie-ret.
Zu Sklaven ER uns machen will:
Ja, Satan uns zur Lust verführet
Und stürzt uns tief ins Höllenpfühl.

Discant 2 (inbrünstig):

Drumb solche irdsche Seeligkeit
Bin ich zu kosten nicht bereit.
Die Seeligkeit - bin´s mir bewusst -
Findst nit in weltlich Fleischeslust.
Sie ist des Teufels schönste Brut
Und nehmet uns das höchste Gut.

Discant 1 (den Diskant 2 aufmunternd und nach oben deutend):

Sieh Seel, in Gottes Freudenreich
Da hat es Fried und Freud zugleich.

Discant 1 und 2 im Duett (beide die Zuhörer anblickend und dann die Häupter nach oben richtend):

O ja, der Engel Harfenklang,
Ihr Spielen, Tanzen und Gesang
Dazu der Seelgen Lobgetön
Das mischt sich alles - groß und schön.

Tenor 1 (behäbig-zweifelnd, die beiden anderen Tenöre treten nach seinem Gesang zu ihm nach links):

Solang es geht, bin ich bereit,
Das leiblich Glück zu pflücken.
Wer weiß, ob Himmels-Seeligkeit
Vergleichbar kann entzücken.

Alle drei Tenöre (strahlend und getragen, trotz des zweifelnden Anfangs):

Gesetzt den Fall, es gibt ihn nicht,
Den mächtgen Herrn da oben,
Dann wär es des Verständgen Pflicht,
Allhier sich auszutoben.

Tenor 1 (fröhlich-behäbig):

Und wenn´s ihn gibt, dann sag ich mir,
Und das ist nicht verschroben -
Liebt man die Frauen jetzt und hier,
Tut man den Schöpfer loben.

Tenor 2 (sehr jung und sympathisch-verwirrt.)
(Der juvenile Sänger betrachtet mit gewendetem Kopfe genanntes Bild, in dessen oberer Hälfte schöne Engel zu sehen sind, dann wendet er sich dem Publikum zu):

Schön wär es, wenn die Himmelslust
Nicht gar so körperfern wär;
Und Engel hätten eine Brust
und liebten so wie ich mich.

Tenor1 (soufflierend zu juvenilem Tenor 2):

und liebten sich wie mich sehr.

Tenor 2 (stutzt, dann halblaut):

Hab ich schon so gemeint. Aber ok.

(zupft sich am Gewand, öffnet den Mund, sucht nach der korrekten Zeile, schließt den Mund, dann öffnet er ihn: )

Amen.

Als aus dem Publikum Rufe nach dem Dichter laut werden, tritt dieser - es ist Tenor 3 - hervor und bringt den Anwesenden ein Gedankengedicht mit dem Titel "Herber Herbst" zu Gehör:

Tenor 3: Herber Herbst

Der Lenz wie der Sommer, er schenkt Überfluss.
Der Herbst, nah am Winter, birgt ziemlich Verdruss.
Ich schüre den Ofen mit klammenden Gliedern
Und sinn ihnen nach, meinen Sommerpreisliedern.

Der Sommer entwichen, gar dürr schon die Auen,
Das feuchtende Wetter, es lehrt mich das Grauen.
Doch seht nur die Rebe - der Reben-Stock schwanger.
Wir pflücken die Süße, dann Tanz auf dem Anger!

Noch dreimal zehn Herbste, wenn die sind entwichen,
Dann bin ich wahrscheinlich im Tode verblichen.
Mein Schreiben bracht Freude der Welt. Immerhin.
Wer wird sie erfreuen, wenn ich nicht mehr bin?

Das Publikum (fröhlich lachend, aber auch ein wenig bestürzt, dann auch beschwichtigend):

Solche wie Dich dürfte es nur wenige geben ... Ach ja ..
... Aber schon einige ....

Diskant 1 (murmelnd)

Und bessere auch.

Finis
aes
(auf!eulen schwingen)

Silentium
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Re: Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon Silentium » 27.10.2003, 22:05

*lach*
Eine Atheistin lacht und wird an ihren Religionslehrer erinnert.
Mehr gibt's für micht nicht zu sagen, ich find den Predigerton einfach herrlich getroffen.
Apage satanas!

Grüße,Silentium
I would go to the Dark Side in a heartbeat if I thought they had better dialog over there.
- Ursula Vernon

Spiderman
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Re: Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon Spiderman » 28.10.2003, 11:16

Ja, das ist wirklich sehr schön!
Die nette Lyrik-Spinne von nebenan!

gelbsucht
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Re: Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon gelbsucht » 13.11.2003, 19:14

Dear owl swinger,

endlich, endlich komme ich dazu, mich auch mal mit deinen Gedichten auseinanderzusetzen. Ich hoffe, du hattest ein bisschen Geduld und Nachsicht mit mir!

Ein Mann mit Humor. Aber irgendwie lässt mich ja der Verdacht nicht los, dass es dir hier primär gar nicht um den altehrwürdigen Zwiestreit von Askese und Lust, von Prüderie und Libido, von Pietät und Hedonismus ging, sondern um den Kampf der Geschlechter. Also mir ist es irgendwie sofort ins Auge gefallen, wie eindeutig die beiden Rollen verteilt sind. Auf der eine Seite die Soprane: anständig, fromm, frigide; auf der anderen Seite die Tenöre: sinnlich, lüstern, gottlos. Und dann auch noch 2:3 und im zweiten Teil gewinnen die Tenöre die Überhand und singen "strahlend und getragen" im Chor, während die Frauenstimmen schweigen. Hhm. Spiegelt sich da eine schmerzliche Erfahrung wieder, die Zurückweisung durch ein christliches Weiblein (gibt es so was noch)? Kann sein, dass ich hier überinterpretiere. Zum Glück hat ein Diskant das letzte Wort: "Und bessere auch." Sonst hätte ich dir das unter die Nase gerieben.
Gibt es des Jenseits Seeligkeit?
Sticht sie die Lust der Lende?
Ich pilgre zweifelnd durch die Zeit
bis an mein Lebens-Ende.

Ein wunderbarer Auftakt. Ein sprachlicher Glanzpunkt im ganzen Gedicht!
Gesetzt den Fall, es gibt ihn nicht,
Den mächtgen Herrn da oben,
Dann wär es des Verständgen Pflicht,
Allhier sich auszutoben.

Und wenn´s ihn gibt, dann sag ich mir,
Und das ist nicht verschroben -
Liebt man die Frauen jetzt und hier,
Tut man den Schöpfer loben.

Herrlich! Köstlich! Diese Logik! Dieser (männliche) Aberwitz! *sichschüttelnvorlachen*

Diese beiden Strophen hast du auch wunderbar durch den Reim zusammengeschweißt! Sprachlich, inhaltlich und handwerklich sehr beeindruckend!
Schön wär es, wenn die Himmelslust
Nicht gar so körperfern wär;
Und Engel hätten eine Brust
und liebten so wie ich mich.

und liebten sich wie mich sehr.

Was ist dir hier passiert? Warum gerät dir diese Strophe so aus den Fugen und aus Leim und Reim? Auch die Zeile "und liebten so wie ich mich" und die darauf folgende erscheinen mir sprachlich recht unglücklich und schräg, auch laufen sie dem bisherigen Versmaß zuwider. Wozu dieser Bruch, dieses Stottern am Ende?

Außerdem: wie passt das Gedicht "Herber Herbst" hier rein? Solltest du meiner Meinung nach herausnehmen, da es den Rahmen sprengt und weder zur Handlung des Vorangegangenen, noch zur Struktur der vorigen Strophen passt. Zu diesem Gedicht will ich mich an anderer Stelle äußern.

;-) gelbe grüße :-)
"Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung." (Heinrich Heine)

Auf Eulen Schwingen
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Re: Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 16.11.2003, 10:32

Salute Gelbsucht,

thanks for sensible lecture und würdigende Worte.

Naja, die Anlage als Miniszene macht eine Aufführungsszene möglich, in der ein Sprecher selbstverliebt stolpert.

Und das Pilger-Zeit-Motiv lässt den Dichter, der sich ein bisschen geehrt fühlt, sein Gedankengedicht vortragen, in dem es schon um Endgedanken in Herbst und Winter geht, und dabei oszilliert der Text dann ein bisschen in seiner Komik und der komischen Fallhöhe und em Pathos und dem Bathos. So etwa könnte man die Ungereimtheiten zu retten versuchen.

Und bei der männlichen Logik, das ist Schiller und Luise und vielleicht nicht nur Schiller, ist Luise zu zitieren und ihr Papa, der Hofmusikus Miller:

Miller (beugt sich gerührt an die Lehne des Stuhls und bedeckt das Gesicht). Höre, Luise - das Bissel Bodensatz meiner Jahre, ich gäb' es hin, hättest du den Major nie gesehen.

Luise (erschrocken). Was sagt Er da? was? - Nein, er meint es anders, der gute Vater. Er wird nicht wissen, daß Ferdinand mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude vom Vater der Liebenden. (Sie steht nachdenkend.) Als ich ihn das Erstemal sah - (rascher) und mir das Blut in die Wangen stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung sprach, jeder Athem lispelte: er ist's! - und mein Herz den Immermangelnden erkannte, bekräftigte: er ist's! und wie das wiederklang durch die ganze mitfreuende Welt! Damals - o damals ging in meiner Seele der erste Morgen auf. Tausend junge Gefühle schossen aus meinem Herzen, wie die Blumen aus dem Erdreich, wenn's Frühling wird. Ich sah keine Welt mehr, und doch besinn' ich mich, daß sie niemals so schön war. Ich wußte von keinem Gott mehr, und doch hatt' ich ihn nie so geliebt.



Vale
aes
(auf!eulen schwingen)

Auf Eulen Schwingen
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Re: Der Gesang der fünf Pilger

Beitragvon Auf Eulen Schwingen » 13.02.2004, 18:20

Salute Lectores!

Ist vielleicht ein bisschen abgenudelt oder vermessen, das Problem des "komischen Gedichtes".

Vielleicht aber hat jemand Lust mal einzugucken:

Robert Gernhardt legt "zehn Thesen zum komischen Gedicht vor", mit dem er schon mal auf einen von ihm herausgegebenen Sammelband hinweist, der demnächst erscheint.

These 4:

"Das komische Gedicht braucht die Regel. Komik lebt von vorgegebenen Ordnungssystemen, ganz gleich, ob die außer Kraft gesetzt oder lachhaft penibel befolgt werden.

Daher kann das komische Gedicht nur profitieren, wenn es von allen Regeln der Kunst tradierter Suggestionstechniken wie Reim und Metrum durchtränkt ist und wenn sein Dichter von allen bereits erprobten Drehs zur Herstellung komischer Wirkung weiß.

Wer alle zehn Thesen lesen will:

I. Es gibt ernste und komische Gedichte.

Bertolt Brecht unterschied zwei Linien, welchen das deutsche Gedicht der Neuzeit folge, die pontifikale und die profane. Goethe sei der letzte Dichter gewesen, welcher noch beide Stränge in seinem Werk vereinigt habe; schon Hölderlin nehme die "völlig pontifikale", bereits Heine ganz die profane Linie ein. Der Dichter Brecht deutet an, daß ihm die Zusammenführung beider Linien erneut gelinge; zumindest ist nicht zu bestreiten, daß er den hohen Ton ebenso beherrscht wie den kessen. Beileibe nicht alle Gedichte der profanen Linie sind komisch, doch liegt auf der Hand, daß kein - mit Absicht - komisches Gedicht der pontifikalen Linie zugerechnet werden kann.

II. Das komische Gedicht zielt auf das Lachen ab.

Weit älter als der von Brecht bemerkte Unterschied ist die Scheidung der Gedichte in solche, die von den Leiden und Freuden des einsamen Ich handeln, und solche, die es auf ein zuhörendes Du, wenn nicht sogar mitmachendes Wir abgesehen haben. Da es sich am besten in Gesellschaft lacht, ist unschwer zu erraten, welchem Strang das komische Gedicht angehört.

III. Das komische Gedicht erschöpft sich nicht im Lachen.

Anders als der Witz, der schnurstracks auf eine Pointe zumarschiert, deren Wirkung sich in einmaligem Gelächter entlädt, ist beim komischen Gedicht bereits der Weg das Ziel. Dieser Weg läßt sich auch dann nochmals mit Genuß zurücklegen, wenn der Leser oder Zuhörer weiß, worauf das Ganze hinausläuft. Um so aufmerksamer wird er sich den Schönheiten am Wegesrande zuwenden können.

IV. Das komische Gedicht braucht die Regel.

Komik lebt von vorgegebenen Ordnungssystemen, ganz gleich, ob die außer Kraft gesetzt oder lachhaft penibel befolgt werden. Daher kann das komische Gedicht nur profitieren, wenn es von allen Regeln der Kunst tradierter Suggestionstechniken wie Reim und Metrum durchtränkt ist und wenn sein Dichter von allen bereits erprobten Drehs zur Herstellung komischer Wirkung weiß. Was er ererbt von seinen poetischen Vätern hat, sollte der Verfasser komischer Gedichte aus zweierlei Gründen erwerben. Um es zu besitzen und um es bei Bedarf getrost zu belachen.

V. Das komische Gedicht bedarf der Inspiration.

Ohne Überraschung keine Komik, weshalb ein allein nach tradierten Regeln verfertigtes komisches Gedicht einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Gerade der Verfasser komischer Gedichte ist stets dazu angehalten, jene Frage ernst zu nehmen, dank deren Ernst Lubitsch seinen Filmen den Lubitsch touch verlieh: "Wie kann man es anders machen?" Anders machen oder anders sehen: Manchmal genügt ein schlichter Blickwechsel, um Walten, Wähnen, Wesen und Worte in ein anderes, komisches Licht zu tauchen.

VI. Es gibt komische Gedichte, aber keine komischen Dichter.

Alles Dichten, sofern es Reimen meint, ist schon deshalb nicht frei von Komik, da es mit Sprache spielt und den Sinn wie Wortlaut eines Gedichts einem herzlich sinnlosen - richtiger: sinnfreien - Selektionsprinzip unterwirft, dem, Worte mit gleichklingenden Bestandteilen zusammenzustellen. Dieser - zur Kenntlichkeit entstellten - Unsinnigkeit verdanken sich Kinderverse, Klosprüche und Kommerslieder ebenso wie die Klassiker der komischen Dichtung. Die freilich sind zugleich zutiefst den Klassikern hochernster Dichtung verpflichtet, da deren hoher Ton, ob gereimt oder ungereimt, erst jene Fallhöhe ermöglicht, die großes Wollen, große Werte und große Worte so richtig auf den Bauch fallen läßt. Auch gibt es keinen herausragenden Verfasser komischer Gedichte, der sich ein Leben lang ins Gatter des komischen Gedichts hätte einsperren lassen: Heine, Busch, Morgenstern sowie die weiteren üblichen Verdächtigen haben auch Gedichte ernster Art und Machart geschrieben.

VII. Das komische Gedicht ist zeitverfallen.

Komische Gedichte wurden zu allen Zeiten verfertigt, ohne daß wir Heutigen sie durch die Bank belachen könnten. Wenn Lachanlässe in Vergessenheit geraten, wenn zeitbedingte religiöse, gesellschaftliche und politische Grenzziehungen und Tabus nicht mehr als bedrückend und verpflichtend empfunden werden, dann kann deren punktuelle Aufhebung kein befreites Gelächter zur Folge haben. Auch ist nicht zu übersehen, daß das komische Gedicht im Laufe der letzten Jahrhunderte deutlich heller und schneller geworden ist - darin der komischen Prosa vergleichbar, deren bräsiger "Schwank" im Laufe der Jahrhunderte zum raschen "Witz" mutierte.

VIII. Das komische Gedicht ist haltbar.

Zumindest gilt dies für deutschsprachige komische Gedichte seit der Aufklärung, und das ist kein Zufall. Die meisten Verfasser komischer Gedichte waren und sind ernsthaft darum bemüht, lachend die Wahrheit zu sagen: "Es gibt zwei Sorten Ratten, / die hungrigen und satten", "Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Dingen, welche wir nicht kriegen", "Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf", "Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es". Seit Gellert und Lessing haben deutschsprachige Dichter nicht aufgehört, aus der Tatsache der gebrechlichen Einrichtung der Welt kein Drama zu machen, sondern handfeste komische Gedichte, und die Leserschaft hat es den Verfassern dadurch gedankt, daß sie deren profane Pointen weit häufiger im Munde führt und von Generation zu Generation weiterträgt als die pontifikalen Worte der Dichter-Priester. Wir zitieren Heinrich Heine und nicht Ernst Moritz Arndt, Wilhelm Busch und nicht Emanuel Geibel, Christian Morgenstern und nicht Stefan George, Erich Kästner und nicht Theodor Däubler.

IX. Das komische Gedicht ist der Königsweg zum Lachen.

Obwohl der Mensch gerne lacht, fällt es ihm, auf sich gestellt, schwer, zum Lachen zu finden. Also muß er zum Lachen gebracht werden, und dabei haben sich kurze Mitteilungsformen als besonders effektive Transportmittel erwiesen: Fabel, Anekdote, Witz. Sie alle aber übertrifft das Gedicht. Rascher und umstandsloser als jeder Witz vermag es der Zweizeiler, einen nach Auflösung drängenden befremdlichen Sachverhalt aufzubauen, ja aufzustauen: "Die schärfsten Kritiker der Elche" - Wieso Kritiker? Weshalb Elche? - "waren früher selber welche" - Ach so! Deshalb!

Das Lachen sei "ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts", lehrt Kant. Nichts nichtiger, ergo: erfreulicher, als daß der Dichter die befremdlichen Elche "um des Reimes willen" evoziert und abserviert hat. "In der Kürze liegt die Würze", weiß der Volksmund, und "Jedem Tierchen sein Plaisierchen": Nicht alle Vierbeiner kommen so rasch zum Punkt wie obengenannte Elche. Doch auch wenn ein Kleinräuber aus der Familie der Marder sich ein wenig Ruhe gönnt und sich Zeit nimmt - "Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel" -, muß der Lachlustige nicht lange auf die Erklärung des Warum warten: "Das raffinier- / te Tier / tat's um des" siehe oben, und der düpier-te Mensch ist mal wieder auf die schnelle zum Lachen gebracht worden.

X. Der deutsche Sonderweg zur Hochkomik

Das komische Gedicht markiert einen deutschen Sonderweg zur Hochkomik. Die Deutschen gelten im In- und Ausland als humorlos, was gerne damit begründet wird, daß ihnen ein großer Lustspieldichter vom Schlage eines Shakespeare ebenso fehle wie ein großer komischer Roman vom Range des "Don Quichotte". Nun könnte ein Zweifler die Frage stellen, ob es denn so ausgemacht sei, daß die naturgemäß durch Helligkeit und Schnelligkeit wirkende Komik in langen und breiten Zusammenhängen besonders gut aufgehoben ist. Nicht eher in Kurzformen?

Ein Kundiger aber könnte darauf verweisen, daß sich eine seit Lessings Tagen nicht abgerissene Kette komischer Gedichte durch die deutschsprachige Hochliteratur zieht, welche in dieser Dichte und Qualität in keiner anderen kontinentaleuropäischen Nationalliteratur zu finden ist.

Jeder Generation des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts erwuchs hierzulande ein Dichter, dessen komische Kraft ihn dazu drängte, die sich ständig erneuernden Anlässe zum Belachen und Verlachen aus neuen Blickwinkeln zu erfassen und mit neuen Redeweisen festzuhalten. Heine, Busch, Morgenstern, Ringelnatz, Tucholsky, Brecht, Jandl - jeder aus diesem Siebengestirn ist ein Stern erster Ordnung und zugleich ein Original. Bei jedem ergäbe eine Spektralanalyse seiner Aura ganz unterschiedliche U- und E-Wellen-Anteile, und doch bilden alle zusammen eine Plejade, deren Helligkeit - verstärkt durch eine Vielzahl von weiteren Komik-Sternen unterschiedlicher Größe - bei Licht betrachtet zweierlei bewirken müßte: den düsteren Vorwurf fehlender deutscher epischer oder dramatischer Hochkomik zu überstrahlen und das finstere Bild vom humorlosen, ja zum Humor unfähigen Deutschen in den Herzen aller rechtlich Denkenden für alle Zeiten aufzuhellen.

Der Band „Hell und schnell - 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten“, herausgegeben von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer, erscheint Ende März bei S. Fischer.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2004, Nr. 36 / Seite 33
aes
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